Table.Forum

Vom Globalen Süden lernen

von Jörn Etzold

Wir leben sehr offensichtlich in einer Zeit des Umbruchs. Die Diskurse der Globalisierung, die nach dem Ende der Blocktrennung und dem vermeintlichen weltweiten Siegeszug der liberalen Demokratie um 1990 vorherrschend wurden, werden von vielen Seiten infrage gestellt. Das Globale wurde als einheitlicher und weltweit vernetzter Raum verstanden, bestehend aus beliebig skalierbaren Elementen, auf die prinzipiell von jedem anderen Ort aus zugegriffen werden kann. Doch, wie die amerikanisch-indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak schon 2003 schrieb: „The globe is on our computers. No one lives there.“ Wir leben stattdessen auf dem Planeten Erde. Seine Fläche und seine Ressourcen sind begrenzt; Gesellschaften sind vernetzt, aber ausgesprochen ungleich. Neben transkontinentalen Glasfaserkabeln und Satellitensystemen gibt es hochmilitarisierte Grenzen, Zäune und Segregation auch auf kleinem Raum. Das seit den 1990er Jahren vorherrschende Konzept internationaler Politik auf der Basis eines kooperativen, durch Völkerrecht abgesicherten Marktes verschleierte die Kontinuität kolonialer Machtverhältnisse in einem System planetarischer Arbeitsteilung. Die gegenwärtig von mehreren Großmächten angestrebte neue Aufteilung des Planeten Erde in Einflusszonen greift hingegen offensiv auf imperiale Vorstellungen zurück; Konzepte der „Geopolitik“ und des „Großraums“ erleben eine gespenstische Wiederauferstehung. 

Klar ist: Die gegenwärtige Krise ermöglicht keine Rückkehr zu einer vermeintlichen Normalität, die für viele Bewohner:innen des Planeten Erde ohnehin bereits in Vertreibung, Flucht, Gewalt und Rechtlosigkeit bestand. Sie fordert aber gerade von „Europa“ – von seinen Führungskräften, aber auch von seinen Intellektuellen – eine Neubestimmung ihrer eigenen Position, insbesondere in Auseinandersetzung mit dem „Globalen Süden“. Wer dort im Namen Europas auftritt, sollte dies angesichts der gewaltsamen Kolonialgeschichte mit einer gewissen Demut tun und grundsätzlich davon ausgehen, dass es dort auch etwas zu lernen gibt. Der Begriff des „Globalen Südens“ ist dabei selbst durchaus problematisch. Geprägt 1969 von Carl Oglesby im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg, hatte er nach dem Kalten Krieg Konjunktur und sollte jenen Teil der Welt bezeichnen, der offenbar noch dabei war, sich in Richtung des vorgeblich alternativlosen Modells liberaler Demokratie und Marktwirtschaft zu „entwickeln“. Eine solche Entwicklung wird aber nicht nur dadurch erschwert, dass die Länder des Globalen Südens bis heute als Lieferanten der Rohstoffe dienen, auf denen die Lebens- und Arbeitswelten in den wohlhabenden Teilen der Welt basieren – eine Ökonomie, für die vor allem in Lateinamerika der Begriff „Extraktivismus“ geprägt wurde. Es ist vor allem keineswegs sicher, dass alle Gesellschaften des Globalen Südens ein europäisches Modell der liberalen Demokratie und der bürgerlichen Gesellschaft anstreben. Dies gilt nicht nur für autoritäre Projekte, welche die alte Vorherrschaft der Weißen und einen fortgesetzten schrankenlosen Extraktivismus durchsetzen wollen. Es gilt auf ganz andere Weise auch für indigene und schwarze Gemeinschaften, die sich selbstbewusst dazu bekennen, dass nicht nur allein soziale und politische Gefüge, sondern auch ihre grundsätzlichen Zugänge zur Welt, ihre Art und Weise, Welt zu konstituieren, andere sind – so bereits in Abdias Nascimentos wegweisendem Aufsatz O quilombismo von 1980, dessen Titel sich auf die Gemeinschaften entflohener Versklavter bezieht.  

Insbesondere die anthropologische Forschung arbeitet schon seit einiger Zeit daran, die Grundannahmen des Westens durch den Vergleich mit anderen Formen des Zusammenlebens zu hinterfragen, in Anknüpfung an Vordenker wie Franz Boas oder Claude Lévi-Strauss. So stellt Philippe Descola dem europäischen „Naturalismus“ – der Unterscheidung in „Natur“ und „Kultur“ – drei andere „Ontologien“ gegenüber, von denen er vor allem den amazonischen Animismus besonders klar konturiert. Eduardo Viveiros de Castro konfrontiert den europäischen Multikulturalismus – es gibt nur eine Natur, aber viele Kulturen, die sich auf diese beziehen – mit dem amazonischen Multinaturalismus: Es gibt nur eine Kultur, denn alle Lebewesen haben eine Seele, aber von ihrer jeweiligen Perspektive aus konstituieren sie „Natur“ anders. Dem grundsätzlich kriegerischen Bild, das Viveiros von diesen Gesellschaften zeichnet, antwortet Joanna Overing mit dem Nachzeichnen indigener Konvivialität.  

Diese Konvivialität aber – der Begriff stammt ursprünglich vom radikalen Modernitätskritiker und katholischen Priester Ivan Illich – ist im Globalen Süden immer ein Zusammenleben unter dem Vorzeichen einer gewaltsamen Verflechtungsgeschichte. Landräuber, Eroberer, aber auch Glückssucher und vor Hunger und Gewalt geflohene Menschen aus Europa, Arabien und Asien bewohnen dieselben Nationalstaaten wie die Angehörigen der indigenen Völker, die nach dem Eintreffen der Europäer in unvorstellbarer Zahl durch Gewalt und eingeschleppte Krankheiten starben, und die Nachfahren der versklavten Afrikaner. Und insbesondere in vielen Regionen Lateinamerikas haben sich diese Gruppen zudem stark durchmischt. Wenn indigene Intellektuelle wie Ailton Krenak oder Davi Kopenawa den „westlichen“ Lesern die Kosmologien ihrer Völker mitteilen (ohne zu erwarten, dass diese sie vollständig verstehen können), so kämpfen sie zugleich um deren Überleben. In einer Zeit sich verschärfender ökologischer und politischer Krisen aber sind diese Konzepte des Zusammenlebens, die von den gängigen europäischen Konzepten von Gemeinschaft, Staat und Recht oft deutlich abweichen, auch für uns bedeutsam – angesichts einer ökologischen Krise, die schlichtweg das Weiterleben auf dem Planeten Erde bedroht.  

Auch wenn die Gefahr besteht, ein Buch wie Kopenawas zusammen mit dem Anthropologen Bruce Albert verfasstes La cute du ciel. Paroles d’un chaman yanomami von 2010 zu romantisieren: Es handelt sich keineswegs um die Beschreibung eines irgendwie archaischen oder natürlichen Lebens. Dass die Gegend am Zusammenfluss des Rio Solimões und des Rio Negro vor der Ankunft der Europäer keine menschenleere Wildnis war, sondern sich dort vor 2000 Jahren große Dörfer oder sogar Städte befanden, hat der brasilianische Archäologe Eduardo Góes Neves nachgewiesen. Was die Menschen dort noch heute praktizieren, ist ein anderes Verhältnis zu den menschlichen, aber eben auch den mehr-als-menschlichen Lebensformen, mit denen wir die begrenzte Fläche und die begrenzten Ressourcen des Planeten teilen. Vom Globalen Süden zu lernen, heißt auch, andere Formen des Zusammenlebens ernst zu nehmen. 

Autor: Jörn Etzold ist Professor für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und Sprecher der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschungsgruppe „Infrastruktur. Ästhetik und Versorgung“. 2023 war er Senior Fellow am Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America (Mecila) in São Paulo.  

Der Globale Süden umfasst 85 Prozent der Weltbevölkerung, ist in der Berichterstattung deutschsprachiger Medien jedoch vergleichsweise selten vertreten. Häufig stehen dann Krisen im Vordergrund, während andere Entwicklungen weniger Beachtung finden. Das Table.Forum Global South richtet den Scheinwerfer auf solchen Perspektiven und Erkenntnisse und lässt Expertenstimmen aus dieser Weltregion zu Wort kommen. 

Impressum

Table.Forum ist ein Angebot von Table.Briefings
Leitung: Regine Kreitz (v.i.S.v. § 18 Abs. 2 MStV)
Table Media GmbH, Wöhlertstraße 12-13, 10115 Berlin · Deutschland,
Telefon +49 30 30 809 520
Amtsgericht Charlottenburg HRB 212399B, USt.-ID DE815849087
Geschäftsführer Dr. Thomas Feinen, Jochen Beutgen