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Mehr „Globaler Süden“ bitte! Aber fundiert und differenziert, nicht rein gefühlig und pauschal

von Reinhard Loske

In entwicklungspolitisch engagierten Kreisen wird dieser Tage über ein Positionspapier mit dem Titel „Die übersehene Welt“ diskutiert. Der Text, inzwischen von mehr als 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet, darunter auch der Autor dieser Zeilen, moniert, dass öffentlich-rechtliche wie private Medien im deutschsprachigen Raum viel zu wenig über die sogenannten „Länder des Globalen Südens“ berichten. Trotz erheblicher geopolitischer Gewichtsverschiebungen während des letzten Jahrzehnts existiert im Gros unserer Medien nach wie vor eine stark eurozentrische und auf die westlichen Industriestaaten fixierte Blickverengung. Das „volle Bild“ über die Lage der „ganzen Welt“ entsteht so nicht. Das muss sich ändern, wenn wir in unserer Weltwahrnehmung nicht provinziell bleiben wollen. 

Vorweg: Es ist zu konzedieren, dass der Begriff „Globaler Süden“ – wie schon seine Vorgängerbegriffe „Dritte Welt“ oder „Entwicklungsländer“ - eine ziemliche Unschärfe aufweist und zu Vereinfachungen und einem Mangel an Differenzierung einlädt. Man denke nur an Chinas oder Indiens kopf- und einkommensstarke Mittelklassen, an den sagenhaften Reichtum manch arabischer Ölstaaten oder auch an die Armut in Teilen der industrialisierten Welt selbst („Der Süden im Norden“). Und wenn die UNCTAD, die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung, sogar Singapur und Taiwan den Ländern des Globalen Südens zuschlägt, sind Zweifel an der Tauglichkeit der Kategorisierung durchaus angebracht. 

Wir verwenden dennoch den unterkomplexen Terminus in Ermangelung einer aktuell besseren Alternative. Warum ist es kritisch, wenn das Wissen über die meisten Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas, Ozeaniens und der Karibik bei uns nur oberflächlich und oft auch veraltet ist? Die Gründe dafür sind mannigfach, aber einige springen besonders in Auge.  

Da ist zunächst einmal die aus rein humanistischer Perspektive hergeleitete Notwendigkeit, im Bezug auf den globalen Süden mehr Verständnis, Anteilnahme, Mitgefühl und auch Hilfsbereitschaft zu fördern. Drückende Probleme wie Ungleichheit, Armut, Hunger, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder erzwungene Migration müssen gesehen und verstanden werden, zumal wir als reiche Staaten für manche dieser Probleme Mitverantwortung tragen, vom Kolonialismus und seine sozialen wie ökonomischen Spätfolgen über die Klimakrise, die historisch und aktuell vorwiegend auf unsere Art des Wirtschaftens und Lebens zurückgeht, bis zur Kumpanei mit Despoten und Kleptokraten im Süden, die die eigenen Bevölkerungen und vor allem indigene Völker unterdrücken und einseitig auf rücksichtslose Ressourcenplünderung für die „Märkte“ des zahlungskräftigen Nordens  setzen.  

Mitgefühl fördernde Aspekte sind aber nur ein Argument, weshalb mehr substanzielle Hintergrundberichte über Länder des globalen Südens notwendig sind.  

Beispiel Klimawandel: Es geht nicht nur darum, dass wir unsere eigenen Gesellschaften und Ökonomien schnell und konsequent auf Klimaverträglichkeit umstellen. Wenn wir nicht wollen, dass die Länder des globalen Südens sich in gleicher Weise kohlenstoffintensiv entwickeln, wie wir es im Lauf unserer Geschichte getan haben, dann müssen wir sie darin unterstützen, den Ausbau erneuerbarer Energien und anderer nachhaltiger Technologien voranzutreiben. Darin liegen auch enorme ökonomische Kooperationschancen mit wechselseitigem Nutzen. Tun wir es nicht, droht eine Explosion der Treibhausgas-Konzentrationen in der Atmosphäre und eine gewaltige Eskalation des menschgemachten Klimawandels, inklusive großer Migrationsbewegungen, irreversibler Ökosystemzerstörungen und ökonomischer Schäden aller Art.   

Beispiel Biodiversität: Der Löwenanteil der biologischen Vielfalt ballt sich in den Ländern des globalen Südens, vor allem im tropischen Gürtel. Laut Weltbiodiversitätsrat werden heute 70 bis 80 Prozent aller intakten Ökosysteme von indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften gehütet und geschützt. Wenn wir nicht wollen, dass das Netz des Lebens noch stärker reißt als ohnehin schon, dann sind räuberische Praktiken der Land- und Meeresnutzung, die Zerstörung von Primärwäldern und die Trockenlegung von Feuchtgebieten einzustellen, was letztlich nur im kooperativen und völkerrechtlich abgesicherten Modus gelingen kann. Auch von der Vorstellung, sich unter dem Deckmantel des Begriffs „Klimaneutralität“ durch große CO2-absorbierende Waldmonokulturen im globalen Süden von ihren Klimaschutzpflichten daheim „freikaufen“ zu können, müssen sich die Industrieländer verabschieden. Es wäre ein Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub, der Klimakrise mit der weiteren Zerstörung der biologischen Vielfalt. 

Beispiel Rohstoffe: So wie unser bisheriges Industrialisierungsmodell (zu) viele nicht-erneuerbare Rohstoffe verbraucht, so braucht auch die ökologische Transformation viele Rohstoffe, mindestens auf absehbare Zeit, darunter Lithium, Nickel, Kobalt, Mangan und Graphit für Batterien, seltene Erden für Elektromotoren, Stahl und Kupfer für Solaranlagen und Windräder und pflanzenbasierte Ressourcen für biologisch abbaubare Kunststoffe. Das ist keine kleine Herausforderung und birgt durchaus die Gefahr der Naturzerstörung durch Bergbau und Monokulturen sowie neuer Abhängigkeiten, insbesondere von China, aber auch von Ländern wie Chile, Indonesien oder dem Kongo. Damit dieser Gefahr weitestmöglich vorgebeugt wird, ist Strategien der Ressourceneffizienz, des Recyclings, der Kreislaufwirtschaft, der Produktlanglebigkeit und der möglichst umweltschonenden Rohstoffförderung allerhöchste politische Priorität einzuräumen. Nicht minder wichtig ist es, einseitige Abhängigkeiten wo immer möglich zu vermeiden, konsequent auf Diversifizierung von Lieferländern zu setzen und hier und da auch Verzichtsoptionen zu erwägen. Auch das ist ein bedeutendes und an Bedeutung stark wachsendes Feld einer zukünftigen Nord-Süd-Kooperation auf Augenhöhe und einer fairen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung. 

Kurzum: Der globale Süden wird wichtiger. Aus Menschheits-, aber auch aus Eigeninteresse sollten wir mehr über ihn erfahren wollen, um kompetenter urteilen zu können. Das wäre auch die beste Versicherung gegen billigen rechten Populismus, der sich gerne mit Schaum vorm Mund über von Deutschland finanzierte Radwege in Peru aufregt oder die Kolonialzeit als weiteren „Vogelschiss unserer Geschichte“ begreift.  Und es würde wohl auch zur Relativierung der einen oder anderen Erzählung auf der politischen Linken führen, die Statements aus dem „Globalen Süden“ per se für richtig hält, wenn sie im Gewande antiimperialistischer Rhetorik daherkommen. Das muss aber keineswegs immer der Fall sein, denn so wie im Norden sind auch im Süden Individuen, Gemeinschaften, Gesellschaften und Nationen unterschiedlich, sowohl die Mentalität als auch die Interessen betreffend. Differenzierung und Präzision tun not. Und Augenhöhe heißt eben auch Ernstnehmen von Argumenten und kritische Auseinandersetzung mit ihnen. Pauschale Idealisierungen des globalen Südens sind - wenn auch oft gut gemeint - ebenso fragwürdig wie dümmliche Vorurteile von rechts. Das Wichtigste jedoch: Es gibt im Süden unseres einzigartigen Planeten neben großen Problemen auch enorm viele positive Entwicklungen und Orte des Gelingens, an denen großartige Menschen wirken, von denen wir lernen können. Darüber zu berichten, ist eine tolle Herausforderung. 

Autor: Reinhard Loske ist Professor an der Universität Witten/Herdecke und Vorstand der Stockholmer Right Livelihood Foundation, die jährlich die Alternativen Nobelpreise vergibt, oft an Menschen und Initiativen aus dem Globalen Süden. Der Nachhaltigkeitsökonom hat selbst in Afrika, Asien und Südamerika geforscht und Projekte durchgeführt. 

Der Globale Süden umfasst 85 Prozent der Weltbevölkerung, ist in der Berichterstattung deutschsprachiger Medien jedoch vergleichsweise selten vertreten. Häufig stehen dann Krisen im Vordergrund, während andere Entwicklungen weniger Beachtung finden. Das Table.Forum Global South richtet den Scheinwerfer auf solchen Perspektiven und Erkenntnisse und lässt Expertenstimmen aus dieser Weltregion zu Wort kommen.  

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