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Globalisierungsfragen der Waldorfpädagogik

von Dirk Rohde

Hundert Jahre nach ihrer Begründung durch Rudolf Steiner ist die Waldorfpädagogik mit über 1200 Schulen in über 80 Ländern weltweit verbreitet, davon etwa 200 Schulen außerhalb Europas, Nordamerikas, Australiens und Neuseelands. Der Autor ist dort häufig als Berater tätig. Eine intensiv diskutierte Frage ist, wie eine ursprünglich auf die erste Stuttgarter Schulgemeinschaft in einem spezifischen zeitlichen Kontext zugeschnittene Pädagogik transformiert und an die heute an den unterschiedlichsten Standorten gegebenen, deutlich anderen soziokulturellen Verhältnisse adaptiert werden muss.

Anhand des Chemieunterrichts sei ein Einblick in die dabei auftretenden Herausforderungen gegeben. Es mag überraschend wirken, dass auch hier – jenseits aller staatlichen Vorschriften – die Methodik und Didaktik an die lokalen Verhältnisse des Globalen Südens angepasst werden müssen. Mit den fachlichen Inhalten gehen ja die weltweit tätigen Wissenschaftler:innen in praktisch identischer Form um; die gewonnenen Erkenntnisse werden allerorten in ähnlicher Form angewendet und haben dazu beigetragen, dass die Menschheit auf dem wirtschaftlichen, insbesondere auf dem technischen Feld zusammengewachsen ist.

Die Waldorfpädagogik erhebt mehrere Forderungen: Auf der inhaltlichen Seite sind die örtlichen Ressourcen maximal als Ausgangspunkte für die chemischen Experimente zu verwenden und so das Anknüpfen an die den jeweiligen Schüler:innen vertraute Lebenswelt zu optimieren. Darüber hinaus sind die Lehrkräfte aufgefordert, die ihnen – im Vergleich zu den Kolleg:innen in staatlichen Schulen – in größerem Umfang eingeräumten unterrichtlichen Freiräume zu nutzen, kreativ eigene, lokal relevante Herangehensweisen an die Fachinhalte zu entwickeln.

Auf der pädagogischen Seite ist zu berücksichtigen, dass die ortstypischen soziokulturellen Eigenheiten in jeder einzelnen Waldorfschule zu einem ganz charakteristischen zwischenmenschlichen Umgang unter den am Unterricht Beteiligten führen. Die Formen, wie sich die Lernbereitschaft der Schüler:innen, die Autorität der Lehrkräfte, die Einflussnahme der Eltern etc. jeweils ausgestalten, sind sehr verschieden. Das hat auch für den Chemieunterricht wichtige Konsequenzen, beispielsweise, in welchem Umfang, zu welchen Themen und in welcher Form Schülerexperimente angeraten sind.

Allerlei kulturbedingte Missverständnisse können auftreten, wenn in der nationalen Gründungsphase die einheimischen Lehrkräfte zunächst durch erfahrene, oft aber ortsunkundige Expert:innen aus dem Ausland eingearbeitet werden müssen. Der Unterricht kann ggf. nicht in der Muttersprache der Schüler:innen stattfinden, sondern muss entweder laufend übersetzt oder von vornherein auf Englisch gehalten werden. Dann ist das Augenmerk unbedingt darauf zu richten, welche pädagogischen Feinheiten auf die sprachlichen Barrieren zurückzuführen sind, vor allem, wenn eine Übersetzung zwischen den europäischen und diesen nur wenig verwandten Sprachen notwendig wird.

Geht man tiefer in die Details, tauchen subtilere Fragen auf. Beispielsweise sind im Chemieunterricht der 10. Klasse Salze/Laugen/Säuren zu behandeln. In europäischen Waldorfschulen werden bevorzugt Laugen und Säuren aus der Zersetzung von Salzen gewonnen, in ihren Gegensätzlichkeiten charakterisiert und aus diesen Polaritäten wieder Salze (und Wasser) als quasi mittlere Produkte hergestellt. In z.B. asiatischen Kulturen, die traditionell statt der Extreme die Mitte von Gradienten stärker fokussieren, ist daher zu überlegen, ob man die Salze markanter in den Mittelpunkt rückt und Laugen und Säuren eher ergänzend thematisiert. In Kulturen, die einen stärkeren Bezug zum Wasser als zum Feuer haben, wäre entsprechend zu fragen, ob man im Anfangsunterricht in der Mittelstufe statt mit dem Feuer mit dem Wasser beginnen und dieses als wichtiges chemisches Agens ins Zentrum stellen könnte.

Die sich aus solchen Abwägungen auftuenden Forschungsfelder sind groß und fachspezifisch differenziert anzugehen. Die Auseinandersetzung mit ihnen steht noch am Anfang. Es ist aber eminent wichtig, diese Nuancen zu berücksichtigen, tragen sie doch entscheidend zu einer gesteigerten Resonanz der Schüler:innen mit den Lerninhalten bei. Das gilt insbesondere im Globalen Süden, wenn Gründer:innen eine ursprünglich deutsche Pädagogik in markant anders gearteten soziokulturellen Verhältnissen sinnstiftend etablieren wollen. Nur dann kann das innovative Anliegen der Waldorfpädagogik zur Entfaltung und Wirksamkeit kommen und das Stadium eines eurozentrischen Exportes überwunden werden.

Autor: Prof. Dr. Dirk Rohde ist Honorarprofessor für Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule.

Der Globale Süden umfasst 85 Prozent der Weltbevölkerung, ist in der Berichterstattung deutschsprachiger Medien jedoch vergleichsweise selten vertreten. Häufig stehen dann Krisen im Vordergrund, während andere Entwicklungen weniger Beachtung finden. Das Table.Forum Global South richtet den Scheinwerfer auf solchen Perspektiven und Erkenntnisse und lässt Expertenstimmen aus dieser Weltregion zu Wort kommen.

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