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Der Globale Süden: zur Kontroverse um einen Begriff

von Sebastian Haug

Der Begriff „Globaler Süden“ erfreut sich seit Jahren wachsender Beliebtheit. Oft wird er als knappe Referenz für Teile der Welt verwendet, die lange als „Entwicklungsländer“ oder „Dritte Welt“ bezeichnet wurden. Für viele bringt er die gemeinsame historische Erfahrung von Kolonialisierung und Marginalisierung in Afrika, Asien und Lateinamerika auf den Punkt und verweist auf den Anspruch, globale Prozesse proaktiv mitzugestalten.

Gleichzeitig gibt es Stimmen, die argumentieren, dass der Globale Süden eine irreführende oder gar „schädliche“ Kategorie sei, deren Verwendung komplett eingestellt werden sollte. Es sind vor allem Vertreter etablierter westlicher Institutionen (tatsächlich sind es besonders Männer), die den Globalen Süden als Begriff ablehnen: er sei zu simplistisch, um eklatante Unterschiede zwischen Gesellschaften unterschiedlicher Einkommensstufen abzubilden. Außerdem bemängeln sie, dass er es Ländern wie China ermögliche, geopolitische Ambitionen hinter der Fassade einer inexistenten kontinentübergreifenden Solidarität zu verstecken. Einer Kategorie, die sowohl die ärmsten (etwa Burundi) als auch einige der wohlhabendsten (etwa Katar) und mächtigsten (neben China auch Indien) Länder der Welt zusammenbringt, wird die Relevanz für das Verstehen globaler Zusammenhänge abgesprochen.

Die große Heterogenität ist in der Tat ein zentrales Merkmal des Globalen Südens als Begriff, der den Großteil der Menschheit beschreiben soll. Das gleiche gilt für alternative Termini wie „majority world“, die grobe Muster globaler Ungleichheiten ohne Referenz auf geographisches Vokabular zu greifen versuchen. Wie viele Kategorien, die Komplexität reduzieren sollen, kann der Begriff des Globalen Südens so zu Frustration führen, wenn Klarheit und Eindeutigkeit erwartet werden. Der Versuch aber, den Globalen Südens aus dem Lexikon globalen Miteinanders zu verbannen, ist nicht nur wohlfeil, sondern übersieht auch, dass es für viele Menschen gute Gründe für seine Verbreitung gibt.

Am German Institute of Development and Sustainability (IDOS) ist es die Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus und Partnerinstitutionen in Afrika, Asien sowie Lateinamerika und der Karibik, die Einblicke in die Vielfalt der Verwendung des Begriffs „Globaler Süden“ und seiner Interpretationen gibt. Manche können mit dem Begriff wenig anfangen, weil für sie regionale Zugehörigkeit wichtiger ist und kontinentübergreifende Verbindungen vage bleiben. Andere wiederum verwenden den Globalen Süden als Chiffre, um einseitige Abhängigkeitsstrukturen im transnationalen Kapitalismus zu kritisieren. Für viele ist der Globale Süden aber vor allem ein Teil individueller oder institutioneller Identität. Das South Centre als multilaterale Organisation, Southern Voice als NGO oder das Network of Southern Think Tanks als Zusammenschluss von Forschungsinstituten etwa eint der Verweis auf den (Globalen) Süden als identitätsstiftende Referenzkategorie. Die durch die inter- und transnationalen Beziehungen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas weit verbreiteten und zunehmend institutionalisierten Formen von Süd-Süd-Kooperation teilen diese Referenz.

Fragen danach, was genau mit dem Globalen Süden gemeint ist, bleiben dabei kontextabhängig. Ob Singapur als Land mit einem der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt oder die Türkei als Mitglied der NATO zum Globalen Süden gehören, ist eine Frage, auf die es keine allgemeingültige Antwort gibt. Analytisch kommt es darauf an, wie der Globale Süden geographisch, historisch, kulturell und/oder ökonomisch definiert wird; und diese Definitionen unterscheiden sich von einem Kontext zum anderen. Politisch steht im Zentrum, wie der Globale Süden als Identitätszuschreibung funktioniert und wer welche Ziele mit einer potentiellen Zugehörigkeit zum Süden verfolgt.

Die zentrale Frage ist also nicht, ob es den Globalen Süden gibt, sondern warum, wie und von wem er diskursiv konstruiert und als Begriff verwendet wird. Diese Frage verschiebt den Fokus von essentialistisch-dichotomen Unterscheidungen hin zu Motivationen, Interessen und spezifischen Kontexten. Sie rückt Gestaltungsmöglichkeiten und Diskursmacht und damit politische Zusammenhänge ins Zentrum. Die vielfältige Verwendung des Begriffs durch jene, die damit gemeint sind oder die ihn für ihre Selbstbeschreibung verwenden, sollte dabei nicht aus dem Blick geraten. Eine kritische Auseinandersetzung damit, wer vom Globalen Südens spricht (und wer den Begriff vehement ablehnt), kann dabei helfen, im Wandel begriffene globale Zusammenhänge besser zu verstehen. Und von diesem Verständnis braucht es aktuell mehr denn je.

Autor: Dr. Sebastian Haug ist Senior Researcher am German Institute of Development and Sustainability (IDOS) und leitender Herausgeber des 2021 erschienen Sonderhefts „The Global South in the study of world politics”.

Der Globale Süden umfasst 85 Prozent der Weltbevölkerung, ist in der Berichterstattung deutschsprachiger Medien jedoch vergleichsweise selten vertreten. Häufig stehen dann Krisen im Vordergrund, während andere Entwicklungen weniger Beachtung finden. Das Table.Forum Global South richtet den Scheinwerfer auf solchen Perspektiven und Erkenntnisse und lässt Expertenstimmen aus dieser Weltregion zu Wort kommen.

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