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Digitalisierung ist Chefsache

von Wolfgang Schüssel

Die Welt steht unter Druck: geopolitische Spannungen, technologische Sprünge, demografischer Wandel. Gerade die politischen und sozialen Folgen der letztgenannten Entwicklung sind noch immer nicht wirklich durchgedrungen. Zugleich wächst der Staatseinfluss: Die Ausgabenquote liegt in vielen Ländern dauerhaft über 50 Prozent – mit allen Konsequenzen für Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit und Handlungsspielräume. Mein Credo „mehr privat, weniger Staat“ klingt in dieser Lage wie aus der Zeit gefallen. Faktisch erleben wir das Gegenteil. Umso mehr braucht es jetzt Führung, klare Prioritäten und einen realistischen Blick auf das, was moderne Verwaltung leisten muss.

Good Governance als Standortfaktor – der Fall Österreich

Good Governance ist ein Wettbewerbsvorteil. Aber sie kippt ins Gegenteil, wenn Verfahren langsam, unübersichtlich und überkomplex werden. Mein Hauptbefund: Unsere Verwaltungsapparate sind für echte Change-Prozesse kaum gerüstet. Organisationen der Privatwirtschaft können Transformation erzwingen, messen und nachsteuern. In der Verwaltung fehlen oft Verantwortlichkeit, Taktung und Skalierung.

Österreich hat um die Jahrtausendwende – in einer politisch turbulenten Zeit – gezeigt, wie tiefgreifender Wandel gelingen kann, wenn er zur Chefsache wird:

  • Zentraler Steuerungsrahmen: Rund 100 Reformprojekte wurden in einem Ministerkomitee gebündelt, mit klaren Verantwortungen, Meilensteinen und regelmäßigen Reviews. Ohne einheitliche Architektur wären tausende Insellösungen entstanden.

  • Digitalisierung als Teil der Strukturreform: E-Government war nie nur „IT“, sondern eingebettet in eine umfassende Verwaltungsmodernisierung: Zusammenführung von Behördenstrukturen (Polizei-Gendarmerie, Autobahn-Gesellschaften), Ausgliederungen mit Leistungsvereinbarungen, Autonomie der Universitäten, Reform der Pensionssysteme.

  • Kerninfrastrukturen aufbauen: Elektronische Akte für alle Ressorts, zentrale Register- und Dateninfrastruktur, einheitliche Bürger-ID namens ID-Austria, FinanzOnline, Unternehmensservice-Portal, klare Zuständigkeiten für Datenmanagement – bis hin zur Registerzählung statt klassischer Volkszählung.

  • Sektorale Leuchttürme: Im Gesundheitsbereich die e-Card als universeller Zugang, E-Rezept mit massiver Nutzerakzeptanz und interoperablen Prozessen – verpflichtend für Leistungserbringer, einfach für Bürgerinnen und Bürger.

Der rote Faden: Technologie folgt Organisation – nicht umgekehrt. Erst die neu geordneten Prozesse schaffen den Raum, in dem Digitalisierung Wirkung entfalten kann.

Hüten wir uns vor Heilsversprechen

Wer heute milliardenschwere „Digitalisierungsdividenden“ verspricht, verkennt zwei Dinge. Erstens: Einsparungen realisieren sich selten linear im Budget, sondern als vermiedene Zusatzkosten. Zweitens: Der demografische Druck bestimmt die Agenda. In den nächsten zwölf Jahren gehen in vielen Verwaltungen 40–45 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Pension. Diese Lücken werden wir am Arbeitsmarkt kaum schließen können. Das ist keine Krise – es ist die Chance zur Neuaufstellung:

  1. Jede dritte Nachbesetzung ersetzen – wo sinnvoll – durch automatisierte Abläufe, Self-Services und KI-Assistenz.

  2. Kostenanstiege dämpfen statt nur Kosten senken: Besonders in Gesundheit und Pensionen treiben Strukturen, nicht einzelne Preise, die Kurve. Wer die Dynamik bändigt, gewinnt langfristig mehr als mit einmaligen Kürzungen.

Prinzipien für die nächste Reformwelle

  • Chefsache und Taktung: Ein starker Steuerungskern mit monatlichem Fortschrittsreporting, klaren Mandaten und Eskalationsrechten.

  • „Once Only“ und Standards-first: Daten werden einmal erfasst und rechtssicher geteilt. Prozesse folgen verbindlichen Plattform-Standards, nicht individuellen Sonderwegen.

  • Verpflichtende Nutzung, einfache Zugänge: Digitale Kanäle werden Standard, analoge Ausnahmen bleiben möglich – aber sie sind die Ausnahme.

  • Messbare Outcomes: Nicht „Anzahl Projekte“, sondern Durchlaufzeiten, Nutzerzufriedenheit, Fallabschluss ohne Medienbruch.

  • Kompetenzen bündeln: Wenige, leistungsfähige Zentren (z. B. Rechenzentrum, Datenamt, Beschaffungsplattform) statt dutzender Mini-ITs.

Europäische Souveränität statt digitaler Abhängigkeit

Nationale Silos stoßen bei Schlüsselinfrastrukturen an Grenzen. Europa braucht gemeinsame, belastbare Lösungen: eine vertrauenswürdige europäische Cloud- und Datenebene, sichere Zahlungs- und Abrechnungssysteme, eigene Start- und Raumfahrt-Kapazitäten sowie standardisierte digitale Identitäten und Interoperabilität im öffentlichen Sektor. Das ist kein Anti-Irgendwer-Programm, sondern eine Frage strategischer Handlungsfähigkeit – in Krisen ebenso wie im Alltag der Verwaltung.

Führung statt Prozessgläubigkeit

Kommissionen, Arbeitskreise und Konsultationen haben ihren Platz. Transformation aber braucht Leadership: jemand muss die Richtung vorgeben, Konflikte entscheiden, Tempo machen und die Ergebnisse erklären. Damit gewinnt man selten Wahlen – aber man sichert das Wohl und Wehe einer stabilen Gesellschaft und einer leistungsfähigen Wirtschaft.

Fazit

Die Aufgaben sind klar: Verwaltung vereinfachen, digitale Kerninfrastrukturen konsolidieren, den demografischen Wandel produktiv nutzen und europäisch denken. Das gelingt nur, wenn wir Digitalisierung als Organisationsreform begreifen – und als Chefsache behandeln. Dann wird aus dem Schlagwort „Staat handlungsfähig machen“ gelebte Praxis.

Autor: Wolfgang Schüssel war österreichischer Bundeskanzler von 2000 bis 2007. Er ist Vorsitzender des Kuratoriums der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Der Beitrag basiert auf einem Impulsvortrag, den Wolfgang Schüssel am 4. September 2025 beim ersten CEO Round Table bei Table.Briefings gehalten hat.

Was ist jetzt entscheidend, um Digitale Souveränität zu erreichen? Wie transformieren wir richtig auf dem Weg zu Smart State und Smart Society? Die führenden Köpfe aus Politik, Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft geben Handlungsimpulse für Deutschlands und Europas strategische Zukunftsfragen.

Unser Partner: Sopra Steria – das führende europäische Tech- und Beratungsunternehmen verbindet Strategie und Umsetzung mit digitaler Souveränität und europäischer Haltung in 30 Ländern.

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