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Deutschlands Digitalisierung und was Frösche damit zu tun haben

von Michel Boutouil

Das Paradoxon der verspäteten Chance

Deutschland hinkt digital hinterher – das ist unbestritten. Das Gros der Führungskräfte sieht uns im Rückstand, 98 Prozent beklagen die mangelhafte Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung (European Center for Digital Competitiveness, Digitalreport 2022). Doch was zunächst wie ein Nachteil erscheint, könnte sich als strategischer Vorteil erweisen – wenn die Chance entschlossen ergriffen wird.

Während andere Länder mühsam ihre veralteten Systeme modernisieren müssen, haben wir die Chance zum sogenannten „Digital Leapfrogging“. Das bedeutet: Statt schrittweise zu erneuern, können wir direkt auf modernste Technologien „springen“ – von KI-optimierter Cloud-Infrastruktur bis hin zu vollständig digitalen Verwaltungsprozessen.

Entscheidend ist dabei eine souveräne digitale Infrastruktur, damit wir nach dem Sprung auch sicher landen. Die jüngsten geopolitischen Krisen haben gezeigt, wie verwundbar wir durch Abhängigkeiten von ausländischen Technologieanbietern und unvorhersehbaren, politischen Entscheidungen geworden sind. Deutschland braucht daher europäische Cloud- und KI-Lösungen, die unseren gemeinschaftlich vereinbarten Werten und Standards für Datenschutz, Datenhoheit und Sicherheit entsprechen.

Hier liegt eine Riesenchance für innovative europäische Unternehmen, die bereits heute KI-optimierte, nachhaltige Infrastruktur "Made in Europe" entwickeln. Solche Unternehmen zeigen, dass wir technologisch durchaus mithalten können – wenn wir sie richtig fördern. Beispielhaft dafür waren die vergangenen Digitalgipfel der Bundesregierung: Dort standen vor allem bereits etablierte Großunternehmen aus der Gründerzeit im Mittelpunkt, während die „Hidden Champions“ aus der Start-up-Szene, die die Stärken des deutschen Modells mit neuen Ansätzen verbinden, nur eine begrenzte Rolle spielten.

Kulturwandel statt Strukturreform

Das größte Hindernis ist nicht primär unser System, sondern unsere Haltung gegenüber Innovation und jungen Unternehmen. Deutschland behandelt Start-ups noch immer mit einer Mischung aus Skepsis und Misstrauen. Während etablierte Konzerne hofiert werden, müssen innovative Gründer oft genug jeden Euro rechtfertigen und jede Idee grundfest bewiesen haben, bevor sie überhaupt gehört und gefördert werden.

Das neue Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung ist in diesem Zusammenhang ein lange fälliges Zeichen des Aufbruchs. Doch strukturelle Reformen allein reichen eben nicht – wir brauchen ein fundamentales Umdenken im Umgang mit Innovatoren und eine neue Kultur des aktiven Enablements. Statt junge Unternehmen durch endlose Bürokratie, Missgunst und langwierige Prozesse zu zermürben, sollte der Staat zum Beispiel als mutiger Ankerkunde auftreten oder etablierte Wirtschaft gezielt mit jungen Innovatoren zusammenbringen und die Entwicklungen aktiv begleiten.

Der Moment ist jetzt

Die Zeit für kleinteilige Reformen ist abgelaufen. Wir brauchen einen strategischen Digitalisierungssprung mit souveräner europäischer Technologie als Basis – und das nicht in drei oder vier Jahren, sondern jetzt. Unternehmen, die bereits heute diese Infrastruktur und souveränen Lösungen entwickeln, müssen schnell und unbürokratisch unterstützt werden. Denn während wir noch damit beschäftigt sind zu klären, ob das Faxgerät noch zeitgemäß ist oder nicht, werden anderswo unglaubliche Summen zur Förderung unabhängiger Systeme und Technologien mobilisiert.

Ein sichtbares Signal für diesen Aufbruch wird der European Summit for Digital Sovereignty am 18. November sein. Bundeskanzler Merz und Präsident Macron haben ihn kürzlich gemeinsam angekündigt. Dieser Gipfel wäre der geeignete Moment, um den Mentalitätswandel in Europa sichtbar zu machen – und die europäischen „Hidden Champions“ in den Vordergrund zu stellen.

Deutschland hat die Köpfe, die Ressourcen und die industrielle DNA. Was fehlt, ist der Mut zum großen Sprung, der Mut, diese Elemente gezielt zu vereinen und die Bereitschaft, Innovatoren zu vertrauen, mit ihnen zu wachsen und sie zu fördern. Wenn wir das schaffen, können wir in kürzester Zeit einen gewaltigen Sprung nach vorne machen. Lasst uns (k)ein Frosch sein.

Autor: Michel Boutouil ist CEO von Polarise.

Was ist jetzt entscheidend, um Digitale Souveränität zu erreichen? Wie transformieren wir richtig auf dem Weg zu Smart State und Smart Society? Die führenden Köpfe aus Politik, Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft geben Handlungsimpulse für Deutschlands und Europas strategische Zukunftsfragen.

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