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Warum Biodiversität unverzichtbar für unsere Zukunft ist

von Günther Thallinger

Wachstum ist wichtiger als Klimaschutz und Artenvielfalt. Nur mit dieser Logik ist zu erklären, dass Umsetzungspflichten aus Schutzabkommen folgenlos vernachlässigt und Klimaziele zunehmend aufgeweicht werden, zuletzt erst vor wenigen Tagen durch die EU-Umweltminister.

Der große Aufschrei? Bleibt weitgehend aus. Doch die Dichotomie von Umweltschutz und Wachstum ist eine konstruierte. Sie verkennt, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist. Biologische Vielfalt ist nicht „nice to have“. Sie macht unsere Erde erst bewohnbar. Unsere Lebensmittel, unsere Luft, unsere Wirtschaft: Sie setzen funktionierende Ökosysteme voraus. Wirksamer Schutz der Biodiversität sowie der Erhalt gesunder Lebensräume sind die Grundlage für menschliches Wohlergehen, globale Widerstandsfähigkeit und wirtschaftliche Stabilität.

Naturverlust mit Dominoeffekt

Viel Zeit bleibt nicht: Ob Wirbeltierpopulationen (minus 73 Prozent in den vergangenen 50 Jahren), Süßwasserarten (minus 85 Prozent) oder Wildbienen (von den 2.000 Arten in Europa sind mindestens zehn Prozent akut vom Aussterben bedroht): Der Naturverlust beschleunigt sich zusehends.

Wenn sich das Klima verändert und Ökosysteme leiden oder gar zusammenbrechen, hat das unmittelbare und weitreichende Folgen allen voran für Wirtschaftssektoren, die stark von Rohstoffen abhängig sind, wie die Medizin- oder Chemiebranche, die Nahrungsmittelindustrie und natürlich die Landwirtschaft. Die Erträge in der Landwirtschaft können bis 2050 deutlich sinken: bei Mais um 9 Prozent, bei Weizen um 7 Prozent, bei Sojabohnen um 4 Prozent. Je schwankender die Erträge, desto höher aber auch die Inflation. Der asiatisch-pazifische Raum wäre von den Preissteigerungen bei Lebensmitteln voraussichtlich am stärksten betroffen, angeführt von Ländern wie Indonesien (+146 %), Malaysia (+113 %) oder Indien (+31 %). Mit den Preisen steigt das Risiko wirtschaftlicher, sozialer und finanzieller Instabilität und außerdem negative Auswirkungen auf die Gesundheit für breite Teile der Gesellschaft. Offensichtlich Entwicklungen, die es zu verhindern gilt.

Aus Sicht von Agrar- und Lebensmittelunternehmen kann sich ein großer Profitabilitätsdruck entwickeln: Mit jedem Prozentpunkt, um den die Preise steigen, sinkt ihre Rentabilität um mindestens 1,6 Prozentpunkte, und zwar sowohl bei vor- als auch bei nachgelagerten Unternehmen.

An dieser Stelle kommt der Finanzsektor ins Spiel. Ohne funktionierende Ökosysteme gerät das Geschäftsmodell des Risikoausgleichs ins Wanken – mit Konsequenzen, die weit über die Versicherungswirtschaft hinausreichen. Steigt das Risiko von Ernteausfällen, steigen die Versicherungsprämien. Sind diese zu hoch, können viele sie nicht mehr bezahlen. Sind Risiken nicht mehr versicherbar, wird sie niemand mehr eingehen und kaum noch jemand investieren. Wachstum? Lässt sich so nicht generieren.

Risiken müssen neu gedacht werden

Als einer der weltweit führenden Versicherer und Asset Owner verfolgt die Allianz einen ganzheitlichen Nachhaltigkeitsansatz. Er zielt darauf ab, potenzielle negative Auswirkungen unserer Geschäftstätigkeit zu steuern und gleichzeitig neue Geschäftschancen zu nutzen. Dazu gehört die Integration von Due-Diligence-Kriterien zur Biodiversität, die Aspekte wie Abholzung, Umweltverschmutzung sowie Wasser-, Meeres- und andere Ressourcen in unsere Entscheidungsfindung einbeziehen.

Mit unseren Versicherungsprodukten haben wir zudem ein wirksames Instrument an der Hand, um die Widerstandsfähigkeit der Landwirtschaft gegen die Folgen des Klimawandels zu stärken – und damit zu Ernährungssicherheit und wirtschaftlicher Stabilität beizutragen. So koppeln parametrische Versicherungen Auszahlungen an vordefinierte objektive Messgrößen wie Niederschlagsmengen oder Erträge, anstatt an das Eintreten des Schadenfalls. Damit sind sie zur unkomplizierten Absicherung gegen Dürre oder Starkregen besonders geeignet.

Eine weitere effektive Maßnahme, die wir als institutioneller Investor ergreifen, ist das aktive Engagement mit den Unternehmen, in die wir investieren. So haben wir uns mehreren multilateralen Initiativen angeschlossen, darunter Nature Action 100, PRI Spring, der Investor Initiative on Hazardous Chemicals (IIHC) sowie Mining 2030. Durch diese von Investoren geleiteten Initiativen wollen wir gegen den Verlust der biologischen Vielfalt, die Schädigung von Land und Wäldern, gefährliche Chemikalien und verantwortungslose Geschäftspraktiken vorgehen.

Dazu kommen zahlreiche weitere Aktivitäten zum Schutz von Ökosystemen und Artenvielfalt: von der Partnerschaft mit der internationalen gemeinnützigen Organisation Sea Sheperds, die das Mittelmeer von verlassenem Fanggerät befreit, über ein Regenwald-Aufforstungsprojekt mit der Organisation PERÚ PURO zur Erforschung von Biodiversitätsschutz bis hin zu den jährlichen Cleanup Days, an denen wir uns beteiligen.

Ohne Biodiversität keine gesellschaftliche Resilienz

Es muss aber noch mehr passieren – auf allen Ebenen.

Erstens: Wir brauchen dringend wirksamere politische Maßnahmen. Der 2022 in Kunming und Montreal vereinbarte Globale Rahmen für die biologische Vielfalt legt 23 Ziele für 2030 fest. Dazu gehören der Schutz von Land- und Meeresflächen, die Wiederherstellung von geschädigten Gebieten und weniger Verschmutzung. Der UN-Vertrag über die Hohe See zielt darauf ab, die biologische Vielfalt der Ozeane zu schützen. Bislang haben weniger als die Hälfte der Mitgliedsstaaten den Vertrag ratifiziert.

Zweitens: Der private Sektor muss aktiv werden. Freiwillige Maßnahmen von Unternehmen zur Bewertung, Bewältigung und Offenlegung ihrer naturbezogenen Auswirkungen, Risiken und Abhängigkeiten – insbesondere in Sektoren wie Landwirtschaft, Ernährung und Bergbau – können den Fortschritt beschleunigen. Die meisten Projekte und Sektoren, die erheblich zur Zerstörung der biologischen Vielfalt beitragen, sind auf externes Kapital angewiesen. Das macht den Finanzsektor zu einem maßgeblichen Akteur für den Schutz der Biosphäre. Investitionen müssen gezielt in solche Geschäftsmodelle, Produktions- und Verbrauchspraktiken sowie Lieferketten gelenkt werden, die die biologische Vielfalt fördern.

Drittens müssen wir mehr investieren. Für den Schutz der Natur gibt die internationale Gemeinschaft aktuell 208 Milliarden Dollar aus. Benötigt werden bis 2030 aber jährlich etwa 1,15 Billionen Dollar. Das klingt viel, ist aber weniger als 1 Prozent des weltweiten BIP.

Keine Frage: Der Kampf gegen den weltweiten Verlust an Biodiversität ist nicht einfach. Aber wir haben das Wissen und die Instrumente, um etwas zu ändern. Was fehlt, sind Geschwindigkeit und Skalierung – und das Bewusstsein, dass es nicht darum geht, den Planeten zu retten. Es geht darum, die Bedingungen zu bewahren, unter denen Märkte, Finanzen und Gesellschaften auch zukünftig existieren können.

Autor: Günther Thallinger ist Vorstand Allianz SE.

Biodiversität ist entscheidend für die Zukunft von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt, da ihr Verlust nicht nur Ökosysteme, sondern auch Wertschöpfung, Investitionen und Innovationskraft gefährdet. Gleichzeitig erkennen immer mehr Akteure aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, dass der Schutz und die Förderung der Natur Chancen für nachhaltige Entwicklung, neue Geschäftsmodelle und größere Resilienz bieten. Das Table.Forum widmet sich einer natur-positiven Zukunft und zeigt anhand konkreter Beispiele, wie Unternehmen, Forschung und Zivilgesellschaft diesen Wandel aktiv gestalten. Im Mittelpunkt stehen dabei praxisnahe Fragen: Wie kann Biodiversität in der Kommunikation, im Geschäftsmodell und als Investitionschance erfolgreich genutzt werden?

Unsere Partner: Biodiversity Bridge ist ein gemeinnütziger Zusammenschluss erfahrener Biodiversitäts-Expertinnen und -Experten, die European Biodiversity Coalition ist eine sektorübergreifende Plattform, die Verantwortungsträger großer europäischer Unternehmen zusammenbringt, um geschäftsgetriebene Maßnahmen für Biodiversität zu beschleunigen und das Museum für Naturkunde Berlin ist eines der weltweit bedeutendsten Forschungsmuseen für biologische und geowissenschaftliche Evolution und Biodiversität.

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