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Biodiversität bewahren: Warum der größte Schatz unseres Planeten unsere Zukunft sichert

von Christoph Heinrich

Das Ecologic Institut forscht als wissenschaftlicher Think Tank seit 30 Jahren an Lösungen zur Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit unserer Gesellschaft. Biodiversität gehört zu unseren thematischen Schwerpunkten – aus gutem Grund. Sie hat Querbezüge zu nahezu allen anderen Forschungsbereichen und Lösungsansätzen. Biodiversität begegnet uns als Objekt des Naturschutzes, des Klimawandels oder als naturbasierte Lösung für viele hochaktuelle Fragen. Biodiversität ist weit mehr als Nahrung, Medizin und Rohstoff. Sie ist das wahrscheinlich am meisten unterschätzte Schutzgut unseres Planeten.

Kann es also sein, dass wir den größten Schatz unseres Planeten jeden Tag vor Augen haben, ihn aber als solchen nicht erkennen? Mit der biologischen Vielfalt sind wir, weit mehr als uns bewusst ist, schicksalshaft verwoben. Sie produziert den lebenswichtigen Sauerstoff und speichert in großem Umfang Kohlenstoff. Sie verdunstet Wasser und erzeugt Niederschlag, sie beschattet und kühlt, sie mindert Wind und bindet Stäube. Sie bildet aus verwitterten Gesteinen fruchtbare Böden und bringt rund 50.000 Nutztierarten, Nahrungs- und Medizinalpflanzen hervor. Ihre Ökosysteme formen Landschaften, die uns Inspiration, Heimat und Erholungsorte sind.

Biologische Vielfalt ist nicht nur schön. Um bestehen zu können, muss sie ungeheuer funktional sein. Aus geringen Mengen Sonnenenergie, Wasser, Kohlendioxid und wenigen Nährmineralien formt sie hochkomplexe Moleküle, die zu Selbstorganisation und Reproduktion fähig sind – lebende Organismen. Die an die jeweiligen Standortbedingungen am besten angepassten Organismen bilden in ihrem Zusammenwirken Ökosysteme und diese in ihrer Gesamtheit die Biosphäre. Die hauchdünne Schicht der Biosphäre macht lediglich ein Zehnmilliardstel der Erdmasse aus. Sie ist der Unterschied zwischen der Ödnis des Mars und der Lebensfreundlichkeit unserer Erde. Sind wir intelligent genug, dies zu verstehen?

An einer Taxierung des biologischen Schatzes unserer Erde wird seit 200 Jahren gearbeitet. Als Naturforscher vom Schlage eines Alexander von Humboldt, Charles Darwin oder Alfred Russel Wallace im frühen 19. Jahrhundert daran gingen, die Artenvielfalt tropischer Ökosysteme zu beschreiben, flog ihnen diese förmlich um die Ohren. Wo sie anfangs mit wenigen hundert Arten rechneten, fanden sie tausende. Ein Forscherleben, das merkten sie schnell, würde nicht reichen, sie alle wissenschaftlich zu beschreiben. Heutige Schätzungen, und mehr als Schätzungen gibt es nicht, gehen von rund 10 Millionen Arten aus.

Jede dieser Arten ist Träger genetischer Information. Diese kann von wenigen tausend Genen in einzelligen Organismen bis zu mehreren hunderttausend Genen in Pflanzen reichen. Multipliziert man die Anzahl der Gene mit 10 Millionen Arten, errechnet sich ein riesiger Schatz an biogenetischer Information. Wäre dieser „Code des Lebens“ auf einem Computer gespeichert, so würden wir ganz sicher äußerst sorgsam mit ihm umgehen. Den biologischen Schatz unserer Natur hingegen behandeln wir nicht gut.

Der Weltbiodiversitätsrat IPBES hat in seinem Gutachten 2019 dargelegt, dass die aktuelle Aussterberate von Tier- und Pflanzenarten um den Faktor 10 bis 100 über der aus Fossilbelegen bekannten Aussterberate der vergangenen 10 Millionen Jahre läge.

Der vom WWF und der Zoological Society of London herausgegebene Living Planet Report 2024 belegt, dass die bloße Zahl von wildlebenden Tieren seit 1970 weltweit um 73 Prozent zurückgegangen ist. Erst seit 1970! Und was war vor dieser Zeit?

Den wahren ursprünglichen Reichtum der Natur können wir heute nur noch anhand historischer Aufzeichnungen verstehen. In Deutschland hat Theodor Fontane der ehedem überquellenden Natur des Oderbruchs vor dessen „Urbarmachung“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Seine präzisen Schilderungen der „alten Oder“ sind voller Staunen. Über Hechte, Schildkröten und Krebse, die zu tausenden mit einfachen Handnetzen aus der Oder gezogen wurden. Aus den Savannen Afrikas und Nordamerikas berichteten frühe Pioniere von der Allgegenwärtigkeit von Tieren. Von Herden, die mit Millionen Tieren tagelang an ihren Beobachtern vorbeizogen. Den Berichten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist gemein, dass sie bereits den Verlust immenser Naturvielfalt betrauern; zu einer Zeit, die wir aus unserer heutigen Rückbetrachtung noch als paradiesisch ansehen. Unsere Ansprüche an Natur werden von Generation zu Generation geringer. Wir erinnern heute, im frühen 21. Jahrhundert immerhin noch die toten Insekten an den Windschutzscheiben unserer Autos. Nachfolgende Generationen werden auch diese Erinnerung nur noch aus der Literatur schöpfen.

Die Ursachen für die Zerstörung und Verarmung der Natur sind wenig subtil. Sie bestehen zuvorderst in der direkten Zerstörung von Ökosystemen etwa durch Rodung oder Trockenlegung. Und in der naturfernen intensiven Art, wie wir Wälder bewirtschaften, Äcker überdüngen und mit Pestiziden behandeln oder Fischbestände bis zu ihrem Erlöschen überfischen. Das größte Drama spielte dabei in den vergangenen Jahrzehnten in den Tropen, den zugleich artenreichsten Regionen der Erde.

Der Klimawandel wirkt in Form von Dürren, Waldbränden, Überflutungen und Stürmen zunehmend stärker auf Ökosysteme. Perspektivisch ist seine Bedeutung gar nicht zu überschätzen. Resultiert doch aus der Wechselwirkung von Entwaldung, Freisetzung von Kohlendioxid, zunehmender Erhitzung mit der Folge von vermehrten Bränden, die wiederum mehr Kohlendioxid ausstoßen, ein sich selbst verstärkender Teufelskreislauf.

Es gibt auch gute Nachrichten. Die Lösungen zum Erhalt und zur Wiederherstellung von biologischer Vielfalt sind gut bekannt und sind noch nicht einmal sonderlich teuer. Sie stellen ein wahrhaft gutes Investment dar.

Im Dezember 2022 haben sich fast alle Staaten der Erde auf der UN-Weltnaturkonferenz in Montreal auf das Global Biodiversity Framework geeinigt, eine Naturschutzstrategie für den Planeten. Zu den markantesten Forderungen gehören der wirksame Schutz von 30 Prozent der Erde in Schutzgebieten sowie zusätzlich die Renaturierung von 30 Prozent der geschädigten Land- und Meeresökosysteme.

Die Finanzierungslücke, um all das umzusetzen, beträgt 200 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Für alle Staaten der Erde zusammengenommen eigentlich kein hoher Preis. In Ergänzung dazu müssten naturschädliche Subventionen von 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr abgebaut werden – die vielleicht schwerere Aufgabe. Fast alles, was Natur zerstört, wird direkt oder indirekt subventioniert: Die Überfischung der Meere, die intensive Landwirtschaft, fossile Energien.

Das Ergebnis birgt eine Perversion: Die Biosphäre, die Kohlenstoff in großen Mengen binden könnte, gehört heute wegen falscher Behandlung zu den größten Emittenten von Treibhausgasen. Wie kann man das Blatt wenden?

Zu den Leistungen des Ecologic Instituts gehört es, naturbasierte Lösungen zu entwickeln. Das kann Land- und Waldwirtschaft sein, die bodenschonend ist, dabei Kohlenstoff bindet und die Artenvielfalt fördert. Das können Lösungen für Küstenschutz durch natürliche Ökosysteme wie Mangrovenwälder, Riffe oder Watten sein. Oder natürliche Lösungen für den Wasserrückhalt in (Schwamm)Landschaften oder (Schwamm)Städten zur Minderung der Folgen von Dürren oder Extremniederschlägen. Immer bauen diese Ansätze darauf, dass Natur bei sinnvoller pfleglicher Bewirtschaftung und zielgerichteter Entwicklung enorm wirkungsvolle Dienste leisten kann. Und zur Verschönerung unserer Lebenswelt beiträgt. Städte werden durch naturbasierte Lösungen lebenswerter und grüner, kühler und staubärmer, erholsamer und erlebnisreicher. Landwirtschaftliche Flächen verlieren ihre Ödnis und bilden wieder Landschaften, gegliedert und angereichert durch Lebensraumstrukturen.

Der Schutz der Biologischen Vielfalt liegt nicht allein in den Grenzen von Schutzgebieten. Er liegt auch darin, Natur in unseren Nutzungssystemen einen Raum zu geben und von ihren wohltuenden Wirkungen zu profitieren.

Autor: Christoph Heinrich ist Executive Director der Ecologic Institut gGmbH.

Biodiversität ist entscheidend für die Zukunft von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt, da ihr Verlust nicht nur Ökosysteme, sondern auch Wertschöpfung, Investitionen und Innovationskraft gefährdet. Gleichzeitig erkennen immer mehr Akteure aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, dass der Schutz und die Förderung der Natur Chancen für nachhaltige Entwicklung, neue Geschäftsmodelle und größere Resilienz bieten. Das Table.Forum widmet sich einer natur-positiven Zukunft und zeigt anhand konkreter Beispiele, wie Unternehmen, Forschung und Zivilgesellschaft diesen Wandel aktiv gestalten. Im Mittelpunkt stehen dabei praxisnahe Fragen: Wie kann Biodiversität in der Kommunikation, im Geschäftsmodell und als Investitionschance erfolgreich genutzt werden?

Unsere Partner: Biodiversity Bridge ist ein gemeinnütziger Zusammenschluss erfahrener Biodiversitäts-Expertinnen und -Experten, die European Biodiversity Coalition ist eine sektorübergreifende Plattform, die Verantwortungsträger großer europäischer Unternehmen zusammenbringt, um geschäftsgetriebene Maßnahmen für Biodiversität zu beschleunigen und das Museum für Naturkunde Berlin ist eines der weltweit bedeutendsten Forschungsmuseen für biologische und geowissenschaftliche Evolution und Biodiversität.

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