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Gedanken aus der Nachbarschaft zum Tag der Einheit

von Péter Györkös

Die Anfrage ist ehrenvoll, beinahe verführerisch, doch würde ich den deutschen Entscheidungsträgern keinen Rat erteilen. Die Ungarn sind Souveränisten, widersetzen sich jedem, der von außen hineinreden will, wie wir zu leben haben. Andererseits hört man Ihre Spitzenpolitiker, so stellt sich nicht die Frage der Erkenntnis, sondern des Handelns. Sollte ich dennoch einen Rat geben: Just do it! Deutschland ist zu groß und zu zentral in Europa, so ist das keine „Privatangelegenheit“.

Auf uns ist Verlass. Schon vor 35 Jahren standen wir an der Seite der Deutschen. Die Ungarn schlugen den ersten Stein aus der Berliner Mauer. Diese Lücke dehnten die Ostdeutschen zu einem Tor aus. Wir öffneten die in Beton gegossene „deutsche Frage“, die Helmut Kohl löste, indem er mit Punkt 5 seines Zehn-Punkte-Plans den Weg zur deutschen Einheit und mit Punkt 7 den zur europäischen Einigung eröffnete. Auch bei der Unterstützung der deutschen Wiedervereinigung gingen die Ungarn voran, wissend, dass sie nicht unabhängig sein können, solange Deutschland seine Einheit in Freiheit nicht zurückgewinnt. Die größten europäischen Konflikte der letzten zehn Jahre haben das deutsch-ungarische Verhältnis nicht verschont. Abermals ist es nicht nur eine bilaterale Angelegenheit, ob wir angemessene Antworten geben können. Mit der neuen Bundesregierung scheint sich ein Konfliktfeld zu entspannen. Dies dürfen wir – aufgrund der Duden-Definition – als Kulturkampf bezeichnen. In kulturellen, ethischen, sozialen Grundfragen, die zum Kern nationaler Souveränität gehören (Migration, Familienpolitik), hatten wir scharfe Auseinandersetzungen. Während sich in Brüssel die EU weiterhin als Umerziehungsanstalt versteht, scheint der Mainstream – dem sich nun auch Deutschland anschließt – hiervon abzurücken.

So können wir uns auf die größten Herausforderungen konzentrieren: Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit. Auf dem Logo der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft 2011 stand: „Strong Europe“. Wir sahen die EU als reich, aber schwach. Heute ist die EU weniger reich und noch schwächer. Ihre weltwirtschaftlichen Positionen verfallen. Ohne eine deutsche Wende wird sich daran nichts ändern. Die Ungarn haben von der schwäbischen Hausfrau gelernt, wollen keine Schuldenunion, keine negative europäische Erzählung, die die glänzende Zukunft in der gemeinsamen Verschuldung erblickt, indem sie verteilt, was gar nicht erwirtschaftet wurde. Wir haben auch von Gerhard Schröder gelernt: Wer arbeiten kann, soll arbeiten. Arbeit ist nicht die unangenehme Unterbrechung der Freizeit, sondern die Existenzvoraussetzung unseres Fortbestands. Es gilt, keine Welfare-, sondern eine Workfare-Welt zu errichten. Dies ist weniger Ökonomie als Kultur. Die Kultur der Leistung, der Verantwortung. Wie die Financial Times schrieb: It’s the culture, stupid. Ungarn bleibt ein sicherer Hafen für die deutsche Industrie, was auch das nun eröffnete BMW-Werk eindrucksvoll belegt.

Mit dem Überleben des Binnenmarkts ist Sicherheit untrennbar verbunden. Ungeachtet der Differenzen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine herrscht volle Einigkeit darüber, dass jeder Zentimeter Bündnisgebiet verteidigt werden muss. Schon unsere 2018 gestartete Rüstungskooperation baute auf jener Doktrin auf, dass wir uns selbst verteidigen können müssen, damit wir uns nicht verteidigen müssen. Gerade beim Schutz der beiden größten europäischen Errungenschaften, des Binnenmarkts und von Schengen, entwickelte sich 2015 der größte Konflikt zwischen uns. Wir gerieten ins Kreuzfeuer unwürdiger Angriffe, bewiesen jedoch, dass die Außengrenzen schützbar sind. Ohne dies ist die EU wie ein Ei ohne Schale. Viele erkannten nicht den Unterschied zwischen der Zellentür (1989) und der Wohnungstür (2015). Die neue deutsche Regierung hat eine Migrationswende angekündigt. Gut so. Auf Grundlage unserer Erfahrung wäre es zugleich effizienter, nicht die Kontrolle der Binnengrenzen, die erhoffte Domino-Wirkung und die sekundären Effekte in den Vordergrund zu stellen, sondern den Schutz der Außengrenzen. Dazu gehört auch, dass der die Außengrenzen schützende „ungarische Burgkapitän“ Unterstützung erhielte und nicht brutale finanzielle Sanktionen. Denn hierzu ist Ungarn verurteilt und muss täglich eine Million Euro zahlen. Auch am Tag der Deutschen Einheit.

Autor: Péter Györkös ist Ungarischer Botschafter in Deutschland.

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