Table.Briefing: Europe

Übergewinnsteuer nur Papiertiger + China-Skepsis wächst + Industriestrompreis

  • Übergewinnsteuer für Ölkonzerne nur ein Papiertiger
  • China-Skepsis erreicht den Mainstream
  • Bund will Industriestrompreis von 13 Cent
  • Wahlen in Dänemark: Sozialdemokraten liegen vorn
  • EU verspricht Hilfe für ukrainische Energieinfrastruktur
  • Drei Abkommen auf Westbalkangipfel in Berlin geplant
  • Deutschland unterstützt vorerst keinen Tiefseebergbau
  • Standpunkt: Der Westen braucht eine Energie- und Ressourcenallianz
Liebe Leserin, lieber Leser,

Ölkonzerne haben in diesem Jahr Rekordgewinne gemacht: Der französische Konzern Total Energies etwa steigerte seinen Ertrag in den ersten neun Monaten des Jahres um 69 Prozent. Shell vervielfachte seinen Gewinn sogar von knapp 13 auf 30 Milliarden Euro. Die Debatte um eine Übergewinnsteuer für Öl- und Gaskonzerne hat dadurch in dieser Woche wieder an Brisanz gewonnen.

Die EU hatte Ende September einen Solidaritätsbeitrag beschlossen, die Mitgliedstaaten haben eigenen Gestaltungsspielraum. Deutschland rechnet jedoch nur mit geringen Einnahmen, wie aus einem Papier der Bundesregierung hervorgeht. Mehr dazu lesen Sie in Manuel Berkels Analyse.

Bundeskanzler Olaf Scholz reist morgen mit einer Wirtschaftsdelegation nach China. Nach der Debatte um den Teilverkauf des Hamburger Hafen-Terminals wird auch der erste Besuch des Kanzlers in China von deutlicher Kritik begleitet. EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton etwa sagte, er hätte einen gemeinschaftlicheren Ansatz befürwortet. Es sei wichtig, dass die EU-Staaten gegenüber China koordinierter agierten, damit Peking sie nicht gegeneinander ausspielen könne. Auch in der Gesellschaft wächst die Sorge vor einer wachsenden Abhängigkeit von Peking, schreibt mein Kollege Marcel Grzanna vom China.Table.

Um sich von China unabhängiger zu machen und die Versorgung mit kritischen Rohstoffen zu sichern, fordert Morten Svendstorp, Berater des dänischen Klima- und Energieministers, ein Bündnis westlicher Demokratien – ähnlich der NATO oder der Internationalen Energieagentur. Welche Aufgaben eine solche internationale Energie- und Ressourcenallianz erfüllen könnte, schreibt er im Standpunkt.

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Leonie Düngefeld
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Analyse

Übergewinnsteuer für Ölkonzerne nur ein Papiertiger

US-Präsident Joe Biden hat Anfang der Woche mit ihr gedroht, der neue britische Premier Rishi Sunak soll sie nach Ansicht des ehemaligen Präsidenten der Weltklimakonferenz Alok Sharma ausweiten. Die Übergewinnsteuer für Öl- und Gaskonzerne hat in den vergangenen Tagen wieder an Brisanz gewonnen – auch wegen neuer Rekordzahlen.

Der französische Konzern Total Energies steigerte seinen Ertrag in den ersten neun Monaten um 69 Prozent auf über 17 Milliarden Euro, Shell vervielfachte seinen Gewinn sogar von knapp 13 auf 30 Milliarden Euro. Auch in Deutschland gehören die Ölmultis zu den größten Akteuren; ihre Betriebsstätten sind grundsätzlich hier steuerpflichtig. Doch nach aktuellen Zahlen der Bundesregierung werden sie keine ehrgeizige Übergewinnsteuer fürchten müssen.

Auf lediglich ein bis drei Milliarden Euro schätzt Berlin die gesamten Einnahmen aus dem Solidaritätsbeitrag, auf den sich die EU-Energieminister Ende September geeinigt hatten. Die Zahlen für Deutschland stammen aus einem Papier der Bundesregierung vom Dienstag, das Europe.Table vorliegt.

Grüne wollen Übergewinnsteuer von 90 Prozent

Der Ministerrat hatte neben der Erlösobergrenze für Strom auch einen Solidaritätsbeitrag für die Förderung von Öl, Gas und Kohle sowie für Raffinerien beschlossen. Als Übergewinne definiert die EU-Verordnung solche Erträge, die mehr als 20 Prozent über dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021 liegen. Die nationalen Regierungen können selbst entscheiden, ob sie die Steuer nur für das laufende Jahr, nur für das kommende oder aber für beide Jahre erheben. Außerdem schreibt die Verordnung nur einen Mindestsatz von 33 Prozent vor.

Alles darüber ist möglich“, sagt die finanzpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Katharina Beck. Die Bundesregierung solle die Steuer zudem sowohl 2022 als auch 2023 erheben. Noch liegt der Gesetzentwurf des Finanzministeriums nicht vor, aber aus der Steuerschätzung lässt sich ableiten, dass die Bundesregierung wohl nicht über die Minimalanforderungen der EU-Verordnung hinausgehen wird.

Einen Hinweis gibt die Steuerprognose der Kommission. Für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten hatte sie die möglichen Einnahmen allein für das laufende Jahr auf 25 Milliarden Euro beziffert – wobei Deutschland mehr als ein Fünftel des gesamten Öls in der EU verbraucht.

An Forderungen nach einem schärferen Vorgehen mangelt es nicht. Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat bereits einen Steuersatz von 66 Prozent verlangt, um mehr Einnahmen an die Verbraucherinnen und Verbraucher zurückverteilen zu können.

Italienisches Modell soll Gewinnverlagerung lösen

Die Grünen-Abgeordnete Beck will noch weiter gehen: “Die Zufallsgewinne im Strommarkt sollen nach aktuellem Plan mit 90 Prozent abgeschöpft werden. Ich halte es für ein Gebot der Marktfairness, dass dies auch bei den fossilen Energieträgern wie Öl entsprechend der Abschöpfung in anderen Energiebereichen gehandhabt wird.”

Doch das größere Problem liegt im Steuerrecht. “Ein wesentlicher Teil der Übergewinne entsteht bei zwischengeschalteten Handelsgesellschaften in Steueroasen wie Singapur oder der Schweiz. Diese bleiben unbesteuert”, sagt Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Um Gewinne aber dort zu besteuern, wo sie entstehen, möchten die Grünen die Übergewinnsteuer ähnlich umsetzen wie in Italien.

“Eine gute Bemessungsgrundlage der nationalen Gewinne kann auf Basis von Umsatzsteuervoranmeldungen ermittelt werden”, erläutert Beck. “Das italienische, umsatzbasierte Modell löst tatsächlich das Problem, dass die Übergewinnsteuer durch eine Verlagerung von Gewinnen ins Ausland umgangen wird”, bestätigt die Finanzwissenschaftlerin Dominika Langenmayr von der Universität Eichstätt. “Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Steuer dann auf die Preise überwälzt werden kann und so am Ende nicht mehr von den Unternehmen oder deren Anteilseignern getragen wird, sondern von den deutschen Konsumenten”, sagt die Professorin, die auch Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums ist.

Ölwirtschaft erinnert an Corona-Verluste

Beim Verhindern der Steuerumgehung sehen die Grünen im EU-Parlament die Kommission in der Pflicht. “Außerdem sprechen wir uns für politische Gespräche mit der Schweiz aus, damit sich die Schweiz unserem Modell zur Abschöpfung der Übergewinne anschließt oder vergleichbare Schritte beschließt”, sagt der Abgeordnete Rasmus Andresen.

Die Mineralölbranche hält dagegen schon die bestehende EU-Verordnung für schädlich. “Besonders kritisch sehen wir die Tatsache, dass Jahre mit zum Teil erheblichen coronabedingten Verlusten für die Ermittlung des Referenzgewinns herangezogen werden“, sagt ein Sprecher des deutschen Branchenverbandes en2x. “Das kann bei Unternehmen voraussichtlich dazu führen, dass bereits für dieses Jahr ab dem ersten Euro Ertrag eine zusätzliche Abgabe fällig wird. Und das, bevor Verluste der Vorjahre ausgeglichen werden konnten. Dies könnte jedoch dringend notwendige Investitionen in die Transformation hin zu mehr Klimaschutz ernsthaft gefährden.”

Daher sollte die nationale Umsetzung nach Meinung der deutschen Mineralölwirtschaft nicht über das von der EU vorgesehene Mindestmaß hinausgehen. Ob auch das Geschäft mit der Förderung von Öl und Gas in Deutschland betroffen sein wird, kann der Verband BVEG noch nicht beurteilen. Er setzt sich aber für ein EU-weit einheitliches Vorgehen ein.

Wintershall Dea sieht Investitionen als Lösung

Gestern erklärte auch die niederländische Regierung, dass sie einen Steuersatz von 33 Prozent anstrebt. Für das laufende Jahr rechnet sie mit Einnahmen von 3,2 Milliarden Euro.

Deutschlands einziger größerer Öl- und Gasförderer Wintershall Dea argumentiert, dass Kapital für die Ausweitung des traditionellen Geschäfts benötigt werde. “Im Fall von Gas und Öl gibt es – zumindest in Europa – auch das politische Mantra, dass diese Energiequellen in naher Zukunft nicht mehr benötigt werden”, teilt der Konzern mit. “Unter diesen Umständen sind wichtige und notwendige Investitionen weder in die Produktion noch in die Infrastruktur getätigt worden. Die Lösung dieses Problems – und nicht die Abschöpfung von Investitionsmitteln der Energieunternehmen – wird der Schlüssel zu mehr Versorgungssicherheit sein.”

In dem Statement betont Wintershall Dea einerseits, es gelte, den Zusammenhalt unserer Gesellschaften zu sichern. Die Folgen der neuen globalen Situation – ausgelöst durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die dringende Notwendigkeit der Energieunabhängigkeit – machen sich auch im Geldbeutel vieler bemerkbar. Der Konzern versteigt sich aber auch zu einer eigenwilligen Deutung der Energiekrise: “Die Kluft zwischen ‘sich etwas leisten wollen’ und ‘sich etwas leisten können’ wird immer größer.”

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China-Skepsis erreicht den Mainstream

Umwelt, Datenschutz, soziale Gerechtigkeit – und jetzt China. Die Bürgerbewegung Campact betrat Ende Oktober mit ihrer Unterschriftenaktion gegen chinesische Einflussnahme Neuland. Erstmals in ihrer 18-jährigen Geschichte mobilisierten die Verantwortlichen der Nichtregierungsorganisation eine Protestaktion, die der deutschen Politik konkret einen wirtschaftlichen Schmusekurs mit den “Despoten” aus Peking vorwarf.

Campact nutzte die mediale Aufmerksamkeit der vergangenen Wochen für das Thema, um ein großes Echo in der Bevölkerung erzielen zu können. Zwar hatten sich nur eine Handvoll Menschen vor dem Bundeskanzleramt postiert, um gegen den Teilverkauf eines Hamburger Hafen-Terminals zu demonstrieren und Olaf Scholz auf einem Plakat die Frage vorzuhalten, ob er eigentlich noch etwas merke. Doch binnen 36 Stunden unterstützten 251.000 Unterzeichner die Petition im Internet.

Campact sei eine polythematische Organisation, die “dort reingehe, wo es brennt”, erklärt eine Sprecherin. Das Hafen-Geschäft hatte offenbar ausreichend Rauch produziert, um wirksame Dimensionen eines Appells erreichen zu können. “Statt Deutschland in Zukunft noch erpressbarer zu machen, muss Scholz zentrale Infrastruktur gezielt schützen, insbesondere vor dem Zugriff autokratischer Staaten”, warnte die Organisation.

Die Petition blieb zwar erfolglos. Der Verkauf von Anteilen am Betreiber des Hafen-Terminals Tollerort ist beschlossene Sache, wenn auch zu Konditionen, die China weniger Mitsprache gewähren. Doch die zunehmende Sorge in Deutschland vor chinesischem Einfluss nimmt Bundeskanzler Scholz (SPD) als zusätzliches Gepäck mit auf seinen Kurztrip nach Peking, zu dem er am Donnerstag abfliegt.

“Abhängigkeit von autokratischen Staaten verringern”

Für seine Zugeständnisse an China steckt Scholz Kritik ein, auch in anderen EU-Staaten. Selbst aus den Reihen des Koalitionspartners FDP kommen Warnungen. “Am Umgang des Kanzlers mit China zeigt sich, dass er keine Lehren aus der verfehlten Russlandpolitik der letzten Jahre gezogen hat. Die Zeitenwende lässt sich nicht auf ein Land beschränken, sondern erfordert, dass wir unsere Abhängigkeit von allen autokratischen Staaten verringern”, sagte die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Deutschen Bundestag, Renata Alt.

Dass sich das Blatt kurzfristig wendet, scheint eher unwahrscheinlich zu sein. “Ich bin immer wieder erstaunt, wie groß die Skepsis gegenüber China in der deutschen Öffentlichkeit und Wirtschaft ist”, beschreibt der Berlin-Korrespondent der britischen Times, Oliver Moody, auf Twitter den Trend. Noch aber sei das wachsende Bewusstsein für das Problem nicht an den Handelsdaten abzulesen. “Es ist interessant zu sehen, dass (A) in Deutschland weithin erkannt wird, dass eine strategische Falle lauert, und (B) die meisten Wirtschaftsdaten darauf hindeuten, dass das Land in diese Falle reinläuft”, so Moody.

An die Spitze der Laufbewegung hat sich – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – Scholz mit dem Hafen-Deal persönlich gestellt. Dabei ist es nicht nur der Kanzler selbst, der die Abhängigkeit weiter vorantreibt. Viele Unternehmen, Institutionen aus Forschung und Wissenschaft, aber auch Landes- oder Lokalpolitiker drehen das Rad aus Eigeninteresse stetig weiter. Hier ein Sponsoring für einen Professor an einer deutschen Uni oder eine Forschungskooperation, dort große Versprechen für millionenschwere Investitionen veranlassen Verantwortliche auf vielen Ebenen der Gesellschaft zu größerer Annäherung an das Regime.

Rauch um Kuka-Verkauf war bald wieder verzogen

Unabhängig davon, wie detailliert sich die breite Masse der Unterzeichner der Campact-Petition tatsächlich mit der Kernproblematik des Verkaufs kritischer Infrastruktur an die Volksrepublik befasst, ist die hohe Zahl an Unterzeichnern Ausdruck für eine Entwicklung, die sich seit einigen Jahren in Deutschland abgezeichnet hat. Die Wahrnehmung für Chinas strategische Zukäufe in Europa und speziell in Deutschland – und die damit verbundenen politischen Risiken – hat den emotionalen Mainstream der Bevölkerung erreicht.

Menschen, die sich nie zuvor ernsthaft damit auseinandergesetzt haben, wie und wo China in Deutschlands kritischer Infrastruktur bereits verankert ist, beginnen plötzlich, sich für das Thema zumindest oberflächlich zu interessieren und sich eigene Gedanken zu machen über mögliche Konsequenzen. Auch weil die deutsche Medienlandschaft den Teilverkauf des Tollerort-Terminals prominent auf die Agenda gesetzt hat.

Angesichts des normalen Wahnsinns der täglichen Nachrichtenfülle ist das ein bemerkenswerter Prozess. Denn immer noch ist China für viele Menschen einfach nur sehr weit weg – nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen westlichen Staaten. Jetzt aber scheint die Volksrepublik ein deutliches Stück näher an den deutschen Alltag herangerückt zu sein.

Zwar ist es nicht das erste Mal, dass Übernahmen durch chinesische Investoren für Furore sorgten. Als 2016 der deutsche Robotik-Marktführer Kuka an einen Anbieter aus der Volksrepublik ging, kochte das Thema hoch. Das Bundeswirtschaftsministerium verschärfte das Außenwirtschaftsgesetz und behielt sich strengere Prüfungen von ausländischen Investitionen vor. Doch der Rauch verzog sich, und das große Bild von Chinas industriepolitischer Strategie verschwand wieder in der Nische. Jetzt aber hat die Sorge vor einer wachsenden Abhängigkeit Bevölkerungsteile erreicht, für die Pekings Industriepolitik bislang nicht mehr als langweilige Nachrichten im Wirtschaftsteil bedeuteten.

Abhängigkeit von russischem Gas potenziert die Sorge

Denn die Vorzeichen sind 2022 andere als noch vor sechs Jahren. Die öffentliche Meinung zu China ist drastisch kritischer geworden. Der jüngste Transatlantic Trends Report des German Marshall Funds sagt aus, dass von 14 untersuchten Staaten nur in den USA und Kanada ein größerer Bevölkerungsanteil China für einen Rivalen hält als in Deutschland. Und lediglich in Großbritannien ist die Zahl derer, die China für einen Partner halten so klein wie in Deutschland (12 Prozent). Der Berlin Pulse Report der Körber-Siftung fand zudem heraus, dass zwei Drittel der Deutschen bereit sind, die wirtschaftliche Abhängigkeit von China zu verringern, selbst wenn das zu ökonomischen Einbußen führt.

Die Entdemokratisierung Hongkongs seit 2019, die Beweise für systematische und umfassende Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang und Tibet, das aggressive Auftreten von Wolfskrieger-Diplomaten im Ausland oder die Drohungen gegen Taiwan haben Spuren in Deutschland hinterlassen. Die Wucht dieser Ereignisse wurde jedoch erst potenziert durch die Erkenntnis, wie groß die Abhängigkeit Deutschlands von Rohstoffen aus Russland war. Hätte Putin die Ukraine nicht angegriffen, hätte der Teilverkauf des Hamburger Terminals möglicherweise weit weniger Beachtung erfahren. Jetzt ist er so etwas wie der Kippmoment für die Wahrnehmung chinesischer Strategien in Deutschland.

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News

Bund will Industriestrompreis von 13 Cent

Die Bundesregierung will den Strompreis für Privathaushalte ab Anfang kommenden Jahres bei 40 Cent pro Kilowattstunde deckeln. Dies soll für ein Grundkontingent von 80 Prozent des prognostizierten Jahresverbrauchs gelten, wie aus einem Papier der Bundesregierung vor den Beratungen mit der Ministerpräsidentenkonferenz am Mittwoch hervorgeht. Bei Industrieunternehmen würden die Strompreise bei 13 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt für 70 Prozent des Vorjahresverbrauchs.

Zur Mitfinanzierung der Strompreisbremse sollen Zufallsgewinne von Unternehmen auf dem Strommarkt rückwirkend ab 1. September abgeschöpft werden. Das betrifft etwa Produzenten von Ökostrom, aber auch Kern- und Braunkohlekraftwerke. Die über die Abschöpfung erzielten Einnahmen werden auf einen zweistelligen Milliardenbetrag geschätzt.

Laut dem Papier kostet die Strompreisbremse für Haushalte und kleinere Unternehmen voraussichtlich zwischen 23 und 33 Milliarden Euro. Der Mittelbedarf für die industrielle Strompreisbremse werde auf weitere 30 bis 36 Milliarden Euro geschätzt. Für die Gaspreisbremse schätzt die Bundesregierung Kosten von über 30 Milliarden Euro.

Der Verband der Elektro- und Digitalindustrie begrüßte die Strompreisbremse. Kritisch sieht der ZVEI aber, dass der Jahresverbrauch von 2021 als Grundlage für den vergünstigten Strombezug herangezogen werden soll. “Investitionen in die Elektrifizierung, die erst in diesem Jahr getätigt wurden und die einen höheren Strombezug zur Folge haben, beispielsweise bei Wärmepumpen oder Elektromobilität, werden hier außer Acht gelassen – und mehr oder weniger abgestraft”, so der Verband. Besser geeignet sei ein “atmender Mengendeckel”.

Für Beihilfen teils Einzelentscheidungen nötig

In Bezug auf die Gaspreisbremse bestätigte Wirtschaftsminister Robert Habeck gestern, dass die Beihilferichtlinien der EU den Vorschlägen der Gaskommission vom Montag teilweise entgegenstehen (Europe.Table berichtete). Die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenrunde hatte für die Industrie einen Gaspreis von sieben Cent pro Kilowattstunde für 70 Prozent des Verbrauchs in einem Vergleichszeitraum vorgeschlagen. Am Freitag zuvor hatte die EU-Kommission aber den neuen befristeten Krisenrahmen vorgelegt.

Im Temporary Crisis Framework hatte die EU-Behörde eine Obergrenze von 150 Millionen Euro für Energiebeihilfen eingezogen und die Zahlungen an Bedingungen geknüpft. Ein pauschaler Preis für große Industrieunternehmen entspreche nicht der Logik der EU-Kommission, sagte Habeck. Eine Sprecherin sagte gestern, das Ministerium habe sich an einigen Stellen noch etwas mehr Spielraum gewünscht.

Für große energieintensive Firmen seien in der Logik der Gaskommission teilweise Zahlungen deutlich über 150 Millionen Euro nötig, sagte der Energieexperte Philipp Jäger vom Jacques Delors Centre. In solchen Fällen könne die EU-Kommission Einzelentscheidungen treffen. rtr/dpa/ber/tho

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Wahlen in Dänemark: Sozialdemokraten liegen vorn

Die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Mette Frederiksen werden bei der Parlamentswahl in Dänemark ersten Prognosen zufolge erneut stärkste Kraft. Nachwahlbefragungen der Sender DR und TV2 deuteten am Dienstagabend jedoch auf ein kompliziertes Rennen um Mehrheiten hin – es ist somit offen, ob Frederiksen weiterregieren kann. Der neuen Partei des früheren Regierungschefs Lars Løkke Rasmussen wurde ein starkes Ergebnis vorhergesagt, während dessen liberal-konservative Ex-Partei Venstre vor klaren Verlusten steht.

Løkkes neue zentristisch-liberale Partei Die Moderaten hat sich in der Mitte zwischen den beiden traditionellen politischen Blöcken positioniert. Es ist unklar, ob der Mitte-links-Block um Frederiksens Sozialdemokraten trotz eines Vorsprungs vor dem Mitte-rechts-Block um Venstre-Chef Jakob Ellemann-Jensen ohne Løkke auf eine Mehrheit kommen wird. Bestätigen sich die prognostizierten Zahlen im Laufe des Wahlabends, dürfte Dänemark vor langwierigen Verhandlungen über die künftige Regierungszusammenarbeit stehen.

Für eine Mehrheit im dänischen Parlament in Kopenhagen sind 90 der 179 Sitze notwendig. In der DR-Prognose kam das linksgerichtete rote Lager zunächst auf 85 Mandate, der von Venstre angeführte blaue Block auf 73. Løkkes Moderaten wurden 17 Sitze prognostiziert, die in dem Fall entscheidend für eine Mehrheit wären. Jeweils zwei Parlamentssitze sind für Repräsentanten der Färöer-Inseln und Grönlands bestimmt, die offiziell zum Königreich Dänemark zählen.

Frederiksen führt Dänemark seit 2019 mit einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung, die meist auf parlamentarische Unterstützung linksgerichteter Parteien setzt, etwa in der strikten Einwanderungspolitik aber auch auf Stimmen von rechts. Die 44 Jahre alte Regierungschefin strebt diesmal eine breite, blockübergreifende Regierung mit Parteien beider Seiten an. Das gelte auch in dem Fall, sollte ihr linksgerichtetes Lager erneut auf eine Mehrheit kommen, hatte sie in der letzten TV-Debatte der Parteispitzen am Montagabend gesagt. Beobachter rechnen aber damit, dass sie im Falle einer roten Mehrheit auch auf dieses Lager zurückgreifen könnte. dpa

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EU verspricht Hilfe für ukrainische Energieinfrastruktur

Die Europäische Union prüft Möglichkeiten, die Hilfe für den ukrainischen Energiesektor, der durch wochenlange russische Angriffe geschädigt wurde, zu verstärken, erklärte EU-Energiekommissarin Kadri Simson am Dienstag bei einem Besuch in Kiew.

“Ich bin heute in Kiew, um dabei zu helfen, die Unterstützung für den ukrainischen Energiesektor zu verstärken”, erklärte sie in einem Tweet. “Ich habe das Ausmaß der Zerstörung in der Ukraine aus erster Hand gesehen und setze alles daran, die finanzielle, technische und praktische Hilfe zu erhöhen.”

Simson nannte die russischen Angriffe “eine grausame und unmenschliche Taktik, um menschliches Leid zu verursachen, während der Winter naht”. Die zusätzliche Hilfe müsse von den EU-Institutionen, den Mitgliedstaaten, internationalen Partnern und privaten Spendern kommen, sagte sie.

Die Kommissarin reiste nach den wochenlangen russischen Angriffen auf die ukrainische zivile Infrastruktur, insbesondere auf Kraftwerke, nach Kiew. Simson plant, mit ukrainischen Behörden und Energieunternehmen darüber zu sprechen, wie die EU, internationale Partner und der Privatsektor helfen können. Sie wird auch über die Lage im russisch besetzten Kernkraftwerk Saporischschja, die Versorgungssicherheit und den künftigen Wiederaufbau des Energiesystems sprechen.

Frankreich plant internationale Hilfskonferenz

40 Prozent des Energiesystems der Ukraine seien zerstört, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei dem Treffen. Bei der Wiederherstellung der Energie-Infrastruktur sollte die EU-Kommission eine koordinierende Rolle spielen, regte er an. Er erinnerte an die Ukraine-Kontaktgruppe, das sogenannte Ramstein-Format, in dem die Unterstützerländer ihre Rüstungshilfe koordinieren. Für Wirtschaft und Energie sollte es ebenfalls ein “Ramstein” geben, sagte er nach Medienberichten.

Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hat der Ukraine Hilfe bei der Reparatur der Wasser- und Energieinfrastruktur zugesagt, die durch die russischen Angriffe schwer beschädigt wurde. Frankreich werde der Ukraine helfen, den Winter zu überstehen und auch die ukrainische Luftabwehr stärken, teilt Macron nach einem Telefonat mit Selenskyj mit.

Er habe zudem mit Selenskyj vereinbart, am 13. Dezember in Paris eine internationale Konferenz für eine Unterstützung der ukrainischen Zivilbevölkerung im Winter auszurichten. Eine bilaterale Konferenz am Tag zuvor werde auch darauf abzielen, die Unterstützung der Ukraine durch französische Unternehmen zu verstärken. rtr/dpa

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Drei Abkommen auf Westbalkangipfel in Berlin geplant

Auf einem Westbalkan-Gipfel in Berlin sollen am Donnerstag drei Abkommen unterzeichnet werden. Man habe die “berechtigte Hoffnung”, dass die sechs Regierungen der Region Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Personalausweisen, Universitäts-Diplomen und Berufsabschlüssen unterschreiben, hieß es am Dienstag in Regierungskreisen in Berlin. Alle drei Punkte gelten als wichtige Bausteine für eine bessere Zusammenarbeit von Serbien, Montenegro, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und Kosovo, die alle in die EU streben.

Am Donnerstag empfängt Kanzler Olaf Scholz als Gastgeber des von seiner Vorgängerin Angela Merkel gestarteten sogenannten “Berliner Prozesses” Staats- und Regierungschefs vom Westbalkan und aus der EU. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel wollen teilnehmen. Zudem gebe es eine sehr enge Abstimmung mit der US-Regierung, die den Annäherungskurs der sechs Staaten unterstütze, hieß es in Regierungskreisen.

Der “Berliner Prozess” setzt vor allem auf eine stärkere Zusammenarbeit der einst verfeindeten Staaten, die nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden sind. Die EU selbst plant Anfang Dezember eine Konferenz, auf der die Beitrittsbemühungen der Länder zur EU im Mittelpunkt stehen. Hintergrund der verstärkten Bemühungen ist die Sorge, dass Russland, China oder die Türkei Einfluss in der Region nehmen. “Die Zeit spielt nicht für die krisenanfällige Region”, wurde in Regierungskreisen gewarnt. Man sei guter Hoffnung, dass es am Donnerstag auch konkrete finanzielle Zusagen gebe, wie man den sechs Staaten in der Energiekrise helfen könne.

Bundesregierung mahnt Serbien

Die Bundesregierung mahnte Serbien vor der Konferenz, sich für einen Weg in die EU oder eine Partnerschaft mit Russland zu entscheiden. “Die Entscheidungsnotwendigkeit spitzt sich zu angesichts der geopolitischen Entwicklung”, sagte ein Regierungsvertreter mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Man sei “überrascht und enttäuscht”, dass Serbien ein Abkommen zur verstärkten Zusammenarbeit mit Russland beschlossen habe. Dies passe schlecht zu der Erwartung, dass die EU-Beitrittskandidaten auch die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland übernehmen sollten.

Man habe den Eindruck, dass sich der serbische Präsident Aleksandar Vučić als erfahrener Politiker sehr wohl seiner Pendelposition zwischen der EU und Russland bewusst sei. Wenn Vučić sich entscheide, sein Land in Richtung EU zu führen, habe er dafür die Unterstützung der Bundesregierung. “Sollte er sich für den anderen Weg entscheiden, wird das umgekehrt Konsequenzen haben”, hieß es. Serbien pflegt traditionell enge Beziehungen zu Russland. Andere Westbalkan-Staaten und die EU fürchten, dass Russland über die Regierung in Belgrad Einfluss auf die Region ausüben will. In Regierungskreisen wurde zudem darauf gepocht, dass Serbien und die ehemalige serbische Provinz Kosovo ihre Streitigkeiten beilegten. Für diese sei angesichts der angespannten geopolitischen Lage “einfach kein Platz mehr”. rtr

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Deutschland unterstützt vorerst keinen Tiefseebergbau

Die Bundesregierung hat angekündigt, bis auf Weiteres keine Anträge auf kommerziellen Abbau von Rohstoffen in der Tiefsee zu unterstützen. Bei Verhandlungen im Rahmen des Rates der Internationalen Meeresbodenbehörde (ISA) in Jamaika hat sie eine vorsorgliche Pause (“precautionary pause”) beim Tiefseebergbau gefordert, bis die Tiefseeökosysteme und möglichen Risiken des Tiefseebergbaus ausreichend erforscht sind und strenge Abbauregularien vorliegen.

Das vorhandene Wissen und der Stand der Forschung reichten nicht aus, um ernsthafte Umweltschäden durch Tiefseebergbau auszuschließen, erklärte die Bundesregierung. Zudem werbe Deutschland im Kreis der Mitgliedstaaten dafür, ebenfalls keine Anträge zu unterstützen. Eine formale Unterstützung von Abbauanträgen durch einen Mitgliedstaat des UN-Seerechtsübereinkommens ist zwingende Voraussetzung dafür, dass ein Unternehmen eine Genehmigung der Internationale Meeresbodenbehörde erhält.

“Deutschland will die weitere Erforschung der Tiefsee“, erklärte Franziska Brantner, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium. “Aber wir wollen den Vorsorgeansatz im Tiefseebergbau stärken. Deshalb sollten bis auf Weiteres keine Anträge auf kommerziellen Abbau von Rohstoffen in der Tiefsee unterstützt werden.” Bundesumweltministerin Steffi Lemke sagte: “Tiefseebergbau würde die Meere weiter belasten und Ökosysteme unwiederbringlich zerstören. Deshalb werben wir als ersten Schritt für ein Innehalten und keine vorschnellen Entscheidungen auf Kosten der Meeresumwelt.”

EU-Kommission und Parlament für Moratorium

Deutschland schließt sich damit der Forderung von Ländern wie Neuseeland und Frankreich an. Auch die EU-Kommission fordert in ihrer Agenda für die Verwaltung der Ozeane ein “Verbot des Tiefseebergbaus, bis die wissenschaftlichen Lücken ordnungsgemäß geschlossen sind, keine schädlichen Auswirkungen des Bergbaus auftreten und die Meeresumwelt wirksam geschützt ist”. Das EU-Parlament hatte im Mai in einer Entschließung die Kommission und die Mitgliedstaaten aufgefordert, sich für ein internationales Moratorium für den Tiefseebergbau einzusetzen.

Die Entscheidung der Bundesregierung, für eine “precautionary pause” im Tiefseebergbau zu werben, erfolgt als Reaktion auf den im vergangenen Jahr angekündigten Abbauantrag des Pazifikstaats Nauru. Damit wurde die sogenannte “Zweijahresklausel” des Seerechtsübereinkommens ausgelöst, nach der innerhalb von zwei Jahren die Abbauregularien entwickelt werden müssen. Die Frist hierfür endet im Juli 2023.

Die deutschen Automobilhersteller Volkswagen und BMW hatten bereits zuvor erklärt, dass sie keine Metalle kaufen würden, die im Meeresboden abgebaut werden. leo/rtr

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Presseschau

Selenskyj will EU-Hilfe für Reparaturen am Energiesystem WALLSTREET-ONLINE
Beteiligung an Ukraine-Krieg: EU prüft weitere Sanktionen gegen Lukaschenko T-ONLINE
Putin will mit “Stromterror” für Flüchtlingskrise in EU sorgen – Ukraine sieht perfiden Plan NORDBAYERN
Kanzleramt will Gaspreisbremse schon ab Februar SPIEGEL
Brasilien: Lula geht auf die EU zu AGRARZEITUNG
Dramatische Bilanz: 5500 Quadratkilometer Wald in der EU verbrannt RND
Streit um Auslegung des EU-Mobilitätspakets DVZ
Konferenz in Berlin: Finden die Westbalkan-Länder doch den Weg in die EU? DW
Verlängerung der Eufor-Mission in Bosnien wegen Russland unsicher DERSTANDARD
Niederlande pochen auf weniger Spielraum für EU-Kommission FAZ
EU unterzeichnet Hilfsabkommen für Mosambik über 148 Millionen Euro DEUTSCHLANDFUNK
Energiekrise: Qatar warnt die EU FAZ
Europe’s diverging prices complicate ECB’s task REUTERS
Öffnung von App Store, Zahlungsmethode und iMessage: Wie die EU das Apple-Land umbauen will APFELPAGE
Microsoft Activision: EU-Kommission gibt Rekordübernahme vorerst nicht frei HEISE

Standpunkt

Der Westen braucht eine Energie- und Ressourcenallianz

Porträtfoto von Morten Svendstorp om Anzug vor Bäumen. Im Standpunkt schreibt er über ein Bündnis für die Versorgung mit Energie und kritischen Rohstoffen.
Morten Svendstorp ist strategischer Berater des dänischen Ministers für Klima, Energie und Versorgungswirtschaft und Gastwissenschaftler an der George Washington University, Washington, D.C.

Der alte Spruch “Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich oft” ist eine treffende Beschreibung der sich entwickelnden Beziehungen zwischen dem Westen und seinen Rivalen. Während des Kalten Krieges war die Sowjetunion dank ihrer militärischen Stärke eine globale Supermacht. Heute scheinen Russlands Streitkräfte in einem desolaten Zustand zu sein, aber das Land hat sich zu einer Energiesupermacht entwickelt, die ihre riesigen Erdgasreserven als Waffe einsetzen kann. In ähnlicher Weise erinnert die heutige Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland über die Ukraine an die Konfrontation zwischen Autoritarismus und Demokratie im Kalten Krieg.

Angesichts des bevorstehenden Winters könnte der vom Kreml verhängte Stopp der Gaslieferungen an die Europäische Union schwerwiegende Folgen haben und die größte Energiekrise seit 50 Jahren auslösen. Die Erhöhung der Gaslieferungen aus den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und Norwegen wird zwar kurzfristig die Abhängigkeit der EU von russischen Lieferungen verringern, ist aber keine langfristige Lösung.

Der Einsatz von Energieressourcen als Waffe unterstreicht die Notwendigkeit einer neuen Art von Bündnis zwischen den Demokratien der Welt. Auf dem Gipfeltreffen zur Energiesicherheit im Ostseeraum, das vor zwei Monaten in Dänemark stattfand, haben Deutschland, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland, Schweden und die Europäische Kommission einen vorläufigen Entwurf dafür vorgelegt, wie eine engere Energiekoordination aussehen könnte. Alle anwesenden Länder unterzeichneten eine Erklärung, in der sie sich verpflichten, ihre Offshore-Windenergiekapazitäten in den nächsten acht Jahren um fast das Siebenfache zu erhöhen. Bis 2030 sollen allein die Offshore-Windparks in der Ostseeregion in der Lage sein, 19,6 Gigawatt pro Jahr zu erzeugen, genug, um den Strombedarf von 28,5 Millionen europäischen Haushalten zu decken (was in etwa der Gesamtzahl der Haushalte in allen Ostseeländern außer Deutschland und Russland entspricht).

Chinas Kontrolle über wichtige Lieferketten eindämmen

Das Gipfeltreffen war ein historischer politischer Schritt, der zeigt, dass die Geopolitik der Energie an der Schwelle zu einer großen Veränderung steht. In den letzten zehn Jahren sind die Kosten für Wind- und Sonnenenergie in den meisten Ländern unter die Kosten für fossile Brennstoffe gefallen. Das rasche Wachstum der erneuerbaren Energien wird zwei tiefgreifende Folgen haben. Erstens wird die Fähigkeit der brennstoffexportierenden Länder, Energieressourcen als Waffe einzusetzen, geschwächt. Zweitens wird in dem Maße, in dem die geopolitische Bedeutung der Brennstoffressourcen abnimmt, die Bedeutung von kritischen Rohstoffen wie Seltene Erden, Mineralien und Metalle zunehmen.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich China eine weltweite Vormachtstellung bei der Gewinnung und Veredelung von Mineralien und Metallen gesichert. China fördert heute 58 Prozent der weltweiten Seltenen Erden, 85 Prozent dieser Rohstoffe werden in China weiterverarbeitet. Damit hat China die Kontrolle über wichtige Teile der Lieferketten, die für den Bau von Windturbinen, Solarzellen und Elektrofahrzeugen benötigt werden. Zum Vergleich: Der Anteil Saudi-Arabiens an der weltweiten Ölproduktion liegt bei nur 11 Prozent.

Chinas Vorherrschaft ist an sich schon besorgniserregend, doch was die Sache noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass das Land dafür bekannt ist, seine Ressourcen als Waffe einzusetzen. Nachdem 2010 ein chinesischer Trawler in den Gewässern um die umstrittenen Senkaku-Inseln mit einem Schiff der japanischen Küstenwache zusammengestoßen war, stoppte China seine Exporte von Seltenen Erden nach Japan. Daraufhin unternahm Japan Schritte, um seine Abhängigkeit von China zu verringern, indem es unter anderem mit Bergbauunternehmen zusammenarbeitete, um neue Quellen für dieselben Materialien zu finden, und indem es seine inländischen Raffineriekapazitäten ausbaute.

Gemeinsame Prognosen über Rohstoffversorgung

Europa, die USA und andere Demokratien sollten die Lehren aus dem Zwischenfall auf den Senkaku-Inseln im Jahr 2010 ziehen und eine neue Allianz schmieden, um die Versorgung mit Energie und wichtigen Rohstoffen zu sichern. Wir wissen bereits, dass solche missionsorientierten Bündnisse funktionieren: Die NATO ist seit vielen Jahrzehnten ein wirksames Bollwerk der Demokratie, des freien Handels und der Sicherheit, und die Internationale Energieagentur – die von den OECD-Mitgliedern nach dem Ölschock von 1973 gegründet wurde – hat sich als wirksames Mittel gegen den Gebrauch von Öl als Waffe durch die OPEC erwiesen.

Eine neue Energie- und Rohstoffallianz könnte zunächst Japan, Australien, Neuseeland, Südkorea und jene lateinamerikanischen Demokratien einbeziehen, die eine regelbasierte globale Ordnung unterstützen. Nach dem Vorbild der IEA würde sie eine gemeinsame Analysekapazität entwickeln, um regelmäßige Prognosen über die Versorgung mit kritischen Rohstoffen und die Nachfrage nach ihnen zu erstellen. Und so wie die IEA-Mitglieder Öl-Notreserven in Höhe von mindestens 90 Tagen der Nettoölimporte halten, würden die Mitglieder der neuen Allianz Vorräte an strategisch wichtigen Rohstoffen anlegen.

Die Allianz würde auch Standards für die Qualität von veredelten kritischen Rohstoffen und für nachhaltige, ethische Bergbaupraktiken festlegen. Solche Standards sind der effektivste Weg, um die Rohstoffgewinnung in Entwicklungsländern zu reformieren, wo der Betrieb oft durch Umweltzerstörung und unmenschliche Arbeitsbedingungen beeinträchtigt wird.

Bündnis könnte Forschung koordinieren

Schließlich würden die Mitglieder des Bündnisses im Rahmen der G7, der G20 und der Welthandelsorganisation auf ein marktbasiertes internationales Handelssystem für kritische Rohstoffe drängen. Sie würden die Forschung koordinieren und fördern, um die Nachfrage nach Mineralien zu diversifizieren. Und sie würden neue öffentlich-private Partnerschaften gründen, um eine Pipeline von anstehenden Abbau- und Raffinerieprojekten aufzubauen.

Kritische Rohstoffe und Energieressourcen können nicht nur den grünen Wandel vorantreiben, sondern auch zu einer Quelle des Friedens, der Zusammenarbeit und der Stabilität werden. Wenn wir auf den Lehren aus dem Ölschock von 1973 aufbauen, können wir sicherstellen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Das Ergebnis wäre eine weitere Tragödie, keine Farce, wie Karl Marx glaubte. Es kann nur vermieden werden, wenn sich die Demokratien der Welt zusammentun und alles Notwendige tun, damit wesentliche Wirtschaftsgüter nicht weiter als Waffe eingesetzt werden.

Aus dem Englischen von Andreas Hubig. In Kooperation mit Project Syndicate.

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Personalien

Moritz Hundhausen ist neuer Leiter Europäische Politik bei der Stiftung Familienunternehmen und Politik. Er vertritt die Belange der Familienunternehmen auf europäischer Ebene und leitet die Brüsseler Repräsentanz. Der 36-jährige Jurist war zuvor Referatsleiter für Umwelt- und Rohstoffpolitik im Brüsseler Büro des DIHK.

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Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Übergewinnsteuer für Ölkonzerne nur ein Papiertiger
    • China-Skepsis erreicht den Mainstream
    • Bund will Industriestrompreis von 13 Cent
    • Wahlen in Dänemark: Sozialdemokraten liegen vorn
    • EU verspricht Hilfe für ukrainische Energieinfrastruktur
    • Drei Abkommen auf Westbalkangipfel in Berlin geplant
    • Deutschland unterstützt vorerst keinen Tiefseebergbau
    • Standpunkt: Der Westen braucht eine Energie- und Ressourcenallianz
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Ölkonzerne haben in diesem Jahr Rekordgewinne gemacht: Der französische Konzern Total Energies etwa steigerte seinen Ertrag in den ersten neun Monaten des Jahres um 69 Prozent. Shell vervielfachte seinen Gewinn sogar von knapp 13 auf 30 Milliarden Euro. Die Debatte um eine Übergewinnsteuer für Öl- und Gaskonzerne hat dadurch in dieser Woche wieder an Brisanz gewonnen.

    Die EU hatte Ende September einen Solidaritätsbeitrag beschlossen, die Mitgliedstaaten haben eigenen Gestaltungsspielraum. Deutschland rechnet jedoch nur mit geringen Einnahmen, wie aus einem Papier der Bundesregierung hervorgeht. Mehr dazu lesen Sie in Manuel Berkels Analyse.

    Bundeskanzler Olaf Scholz reist morgen mit einer Wirtschaftsdelegation nach China. Nach der Debatte um den Teilverkauf des Hamburger Hafen-Terminals wird auch der erste Besuch des Kanzlers in China von deutlicher Kritik begleitet. EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton etwa sagte, er hätte einen gemeinschaftlicheren Ansatz befürwortet. Es sei wichtig, dass die EU-Staaten gegenüber China koordinierter agierten, damit Peking sie nicht gegeneinander ausspielen könne. Auch in der Gesellschaft wächst die Sorge vor einer wachsenden Abhängigkeit von Peking, schreibt mein Kollege Marcel Grzanna vom China.Table.

    Um sich von China unabhängiger zu machen und die Versorgung mit kritischen Rohstoffen zu sichern, fordert Morten Svendstorp, Berater des dänischen Klima- und Energieministers, ein Bündnis westlicher Demokratien – ähnlich der NATO oder der Internationalen Energieagentur. Welche Aufgaben eine solche internationale Energie- und Ressourcenallianz erfüllen könnte, schreibt er im Standpunkt.

    Einen guten Start in den Tag wünscht Ihnen

    Ihre
    Leonie Düngefeld
    Bild von Leonie  Düngefeld

    Analyse

    Übergewinnsteuer für Ölkonzerne nur ein Papiertiger

    US-Präsident Joe Biden hat Anfang der Woche mit ihr gedroht, der neue britische Premier Rishi Sunak soll sie nach Ansicht des ehemaligen Präsidenten der Weltklimakonferenz Alok Sharma ausweiten. Die Übergewinnsteuer für Öl- und Gaskonzerne hat in den vergangenen Tagen wieder an Brisanz gewonnen – auch wegen neuer Rekordzahlen.

    Der französische Konzern Total Energies steigerte seinen Ertrag in den ersten neun Monaten um 69 Prozent auf über 17 Milliarden Euro, Shell vervielfachte seinen Gewinn sogar von knapp 13 auf 30 Milliarden Euro. Auch in Deutschland gehören die Ölmultis zu den größten Akteuren; ihre Betriebsstätten sind grundsätzlich hier steuerpflichtig. Doch nach aktuellen Zahlen der Bundesregierung werden sie keine ehrgeizige Übergewinnsteuer fürchten müssen.

    Auf lediglich ein bis drei Milliarden Euro schätzt Berlin die gesamten Einnahmen aus dem Solidaritätsbeitrag, auf den sich die EU-Energieminister Ende September geeinigt hatten. Die Zahlen für Deutschland stammen aus einem Papier der Bundesregierung vom Dienstag, das Europe.Table vorliegt.

    Grüne wollen Übergewinnsteuer von 90 Prozent

    Der Ministerrat hatte neben der Erlösobergrenze für Strom auch einen Solidaritätsbeitrag für die Förderung von Öl, Gas und Kohle sowie für Raffinerien beschlossen. Als Übergewinne definiert die EU-Verordnung solche Erträge, die mehr als 20 Prozent über dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021 liegen. Die nationalen Regierungen können selbst entscheiden, ob sie die Steuer nur für das laufende Jahr, nur für das kommende oder aber für beide Jahre erheben. Außerdem schreibt die Verordnung nur einen Mindestsatz von 33 Prozent vor.

    Alles darüber ist möglich“, sagt die finanzpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Katharina Beck. Die Bundesregierung solle die Steuer zudem sowohl 2022 als auch 2023 erheben. Noch liegt der Gesetzentwurf des Finanzministeriums nicht vor, aber aus der Steuerschätzung lässt sich ableiten, dass die Bundesregierung wohl nicht über die Minimalanforderungen der EU-Verordnung hinausgehen wird.

    Einen Hinweis gibt die Steuerprognose der Kommission. Für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten hatte sie die möglichen Einnahmen allein für das laufende Jahr auf 25 Milliarden Euro beziffert – wobei Deutschland mehr als ein Fünftel des gesamten Öls in der EU verbraucht.

    An Forderungen nach einem schärferen Vorgehen mangelt es nicht. Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat bereits einen Steuersatz von 66 Prozent verlangt, um mehr Einnahmen an die Verbraucherinnen und Verbraucher zurückverteilen zu können.

    Italienisches Modell soll Gewinnverlagerung lösen

    Die Grünen-Abgeordnete Beck will noch weiter gehen: “Die Zufallsgewinne im Strommarkt sollen nach aktuellem Plan mit 90 Prozent abgeschöpft werden. Ich halte es für ein Gebot der Marktfairness, dass dies auch bei den fossilen Energieträgern wie Öl entsprechend der Abschöpfung in anderen Energiebereichen gehandhabt wird.”

    Doch das größere Problem liegt im Steuerrecht. “Ein wesentlicher Teil der Übergewinne entsteht bei zwischengeschalteten Handelsgesellschaften in Steueroasen wie Singapur oder der Schweiz. Diese bleiben unbesteuert”, sagt Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Um Gewinne aber dort zu besteuern, wo sie entstehen, möchten die Grünen die Übergewinnsteuer ähnlich umsetzen wie in Italien.

    “Eine gute Bemessungsgrundlage der nationalen Gewinne kann auf Basis von Umsatzsteuervoranmeldungen ermittelt werden”, erläutert Beck. “Das italienische, umsatzbasierte Modell löst tatsächlich das Problem, dass die Übergewinnsteuer durch eine Verlagerung von Gewinnen ins Ausland umgangen wird”, bestätigt die Finanzwissenschaftlerin Dominika Langenmayr von der Universität Eichstätt. “Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Steuer dann auf die Preise überwälzt werden kann und so am Ende nicht mehr von den Unternehmen oder deren Anteilseignern getragen wird, sondern von den deutschen Konsumenten”, sagt die Professorin, die auch Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums ist.

    Ölwirtschaft erinnert an Corona-Verluste

    Beim Verhindern der Steuerumgehung sehen die Grünen im EU-Parlament die Kommission in der Pflicht. “Außerdem sprechen wir uns für politische Gespräche mit der Schweiz aus, damit sich die Schweiz unserem Modell zur Abschöpfung der Übergewinne anschließt oder vergleichbare Schritte beschließt”, sagt der Abgeordnete Rasmus Andresen.

    Die Mineralölbranche hält dagegen schon die bestehende EU-Verordnung für schädlich. “Besonders kritisch sehen wir die Tatsache, dass Jahre mit zum Teil erheblichen coronabedingten Verlusten für die Ermittlung des Referenzgewinns herangezogen werden“, sagt ein Sprecher des deutschen Branchenverbandes en2x. “Das kann bei Unternehmen voraussichtlich dazu führen, dass bereits für dieses Jahr ab dem ersten Euro Ertrag eine zusätzliche Abgabe fällig wird. Und das, bevor Verluste der Vorjahre ausgeglichen werden konnten. Dies könnte jedoch dringend notwendige Investitionen in die Transformation hin zu mehr Klimaschutz ernsthaft gefährden.”

    Daher sollte die nationale Umsetzung nach Meinung der deutschen Mineralölwirtschaft nicht über das von der EU vorgesehene Mindestmaß hinausgehen. Ob auch das Geschäft mit der Förderung von Öl und Gas in Deutschland betroffen sein wird, kann der Verband BVEG noch nicht beurteilen. Er setzt sich aber für ein EU-weit einheitliches Vorgehen ein.

    Wintershall Dea sieht Investitionen als Lösung

    Gestern erklärte auch die niederländische Regierung, dass sie einen Steuersatz von 33 Prozent anstrebt. Für das laufende Jahr rechnet sie mit Einnahmen von 3,2 Milliarden Euro.

    Deutschlands einziger größerer Öl- und Gasförderer Wintershall Dea argumentiert, dass Kapital für die Ausweitung des traditionellen Geschäfts benötigt werde. “Im Fall von Gas und Öl gibt es – zumindest in Europa – auch das politische Mantra, dass diese Energiequellen in naher Zukunft nicht mehr benötigt werden”, teilt der Konzern mit. “Unter diesen Umständen sind wichtige und notwendige Investitionen weder in die Produktion noch in die Infrastruktur getätigt worden. Die Lösung dieses Problems – und nicht die Abschöpfung von Investitionsmitteln der Energieunternehmen – wird der Schlüssel zu mehr Versorgungssicherheit sein.”

    In dem Statement betont Wintershall Dea einerseits, es gelte, den Zusammenhalt unserer Gesellschaften zu sichern. Die Folgen der neuen globalen Situation – ausgelöst durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die dringende Notwendigkeit der Energieunabhängigkeit – machen sich auch im Geldbeutel vieler bemerkbar. Der Konzern versteigt sich aber auch zu einer eigenwilligen Deutung der Energiekrise: “Die Kluft zwischen ‘sich etwas leisten wollen’ und ‘sich etwas leisten können’ wird immer größer.”

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    China-Skepsis erreicht den Mainstream

    Umwelt, Datenschutz, soziale Gerechtigkeit – und jetzt China. Die Bürgerbewegung Campact betrat Ende Oktober mit ihrer Unterschriftenaktion gegen chinesische Einflussnahme Neuland. Erstmals in ihrer 18-jährigen Geschichte mobilisierten die Verantwortlichen der Nichtregierungsorganisation eine Protestaktion, die der deutschen Politik konkret einen wirtschaftlichen Schmusekurs mit den “Despoten” aus Peking vorwarf.

    Campact nutzte die mediale Aufmerksamkeit der vergangenen Wochen für das Thema, um ein großes Echo in der Bevölkerung erzielen zu können. Zwar hatten sich nur eine Handvoll Menschen vor dem Bundeskanzleramt postiert, um gegen den Teilverkauf eines Hamburger Hafen-Terminals zu demonstrieren und Olaf Scholz auf einem Plakat die Frage vorzuhalten, ob er eigentlich noch etwas merke. Doch binnen 36 Stunden unterstützten 251.000 Unterzeichner die Petition im Internet.

    Campact sei eine polythematische Organisation, die “dort reingehe, wo es brennt”, erklärt eine Sprecherin. Das Hafen-Geschäft hatte offenbar ausreichend Rauch produziert, um wirksame Dimensionen eines Appells erreichen zu können. “Statt Deutschland in Zukunft noch erpressbarer zu machen, muss Scholz zentrale Infrastruktur gezielt schützen, insbesondere vor dem Zugriff autokratischer Staaten”, warnte die Organisation.

    Die Petition blieb zwar erfolglos. Der Verkauf von Anteilen am Betreiber des Hafen-Terminals Tollerort ist beschlossene Sache, wenn auch zu Konditionen, die China weniger Mitsprache gewähren. Doch die zunehmende Sorge in Deutschland vor chinesischem Einfluss nimmt Bundeskanzler Scholz (SPD) als zusätzliches Gepäck mit auf seinen Kurztrip nach Peking, zu dem er am Donnerstag abfliegt.

    “Abhängigkeit von autokratischen Staaten verringern”

    Für seine Zugeständnisse an China steckt Scholz Kritik ein, auch in anderen EU-Staaten. Selbst aus den Reihen des Koalitionspartners FDP kommen Warnungen. “Am Umgang des Kanzlers mit China zeigt sich, dass er keine Lehren aus der verfehlten Russlandpolitik der letzten Jahre gezogen hat. Die Zeitenwende lässt sich nicht auf ein Land beschränken, sondern erfordert, dass wir unsere Abhängigkeit von allen autokratischen Staaten verringern”, sagte die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Deutschen Bundestag, Renata Alt.

    Dass sich das Blatt kurzfristig wendet, scheint eher unwahrscheinlich zu sein. “Ich bin immer wieder erstaunt, wie groß die Skepsis gegenüber China in der deutschen Öffentlichkeit und Wirtschaft ist”, beschreibt der Berlin-Korrespondent der britischen Times, Oliver Moody, auf Twitter den Trend. Noch aber sei das wachsende Bewusstsein für das Problem nicht an den Handelsdaten abzulesen. “Es ist interessant zu sehen, dass (A) in Deutschland weithin erkannt wird, dass eine strategische Falle lauert, und (B) die meisten Wirtschaftsdaten darauf hindeuten, dass das Land in diese Falle reinläuft”, so Moody.

    An die Spitze der Laufbewegung hat sich – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – Scholz mit dem Hafen-Deal persönlich gestellt. Dabei ist es nicht nur der Kanzler selbst, der die Abhängigkeit weiter vorantreibt. Viele Unternehmen, Institutionen aus Forschung und Wissenschaft, aber auch Landes- oder Lokalpolitiker drehen das Rad aus Eigeninteresse stetig weiter. Hier ein Sponsoring für einen Professor an einer deutschen Uni oder eine Forschungskooperation, dort große Versprechen für millionenschwere Investitionen veranlassen Verantwortliche auf vielen Ebenen der Gesellschaft zu größerer Annäherung an das Regime.

    Rauch um Kuka-Verkauf war bald wieder verzogen

    Unabhängig davon, wie detailliert sich die breite Masse der Unterzeichner der Campact-Petition tatsächlich mit der Kernproblematik des Verkaufs kritischer Infrastruktur an die Volksrepublik befasst, ist die hohe Zahl an Unterzeichnern Ausdruck für eine Entwicklung, die sich seit einigen Jahren in Deutschland abgezeichnet hat. Die Wahrnehmung für Chinas strategische Zukäufe in Europa und speziell in Deutschland – und die damit verbundenen politischen Risiken – hat den emotionalen Mainstream der Bevölkerung erreicht.

    Menschen, die sich nie zuvor ernsthaft damit auseinandergesetzt haben, wie und wo China in Deutschlands kritischer Infrastruktur bereits verankert ist, beginnen plötzlich, sich für das Thema zumindest oberflächlich zu interessieren und sich eigene Gedanken zu machen über mögliche Konsequenzen. Auch weil die deutsche Medienlandschaft den Teilverkauf des Tollerort-Terminals prominent auf die Agenda gesetzt hat.

    Angesichts des normalen Wahnsinns der täglichen Nachrichtenfülle ist das ein bemerkenswerter Prozess. Denn immer noch ist China für viele Menschen einfach nur sehr weit weg – nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen westlichen Staaten. Jetzt aber scheint die Volksrepublik ein deutliches Stück näher an den deutschen Alltag herangerückt zu sein.

    Zwar ist es nicht das erste Mal, dass Übernahmen durch chinesische Investoren für Furore sorgten. Als 2016 der deutsche Robotik-Marktführer Kuka an einen Anbieter aus der Volksrepublik ging, kochte das Thema hoch. Das Bundeswirtschaftsministerium verschärfte das Außenwirtschaftsgesetz und behielt sich strengere Prüfungen von ausländischen Investitionen vor. Doch der Rauch verzog sich, und das große Bild von Chinas industriepolitischer Strategie verschwand wieder in der Nische. Jetzt aber hat die Sorge vor einer wachsenden Abhängigkeit Bevölkerungsteile erreicht, für die Pekings Industriepolitik bislang nicht mehr als langweilige Nachrichten im Wirtschaftsteil bedeuteten.

    Abhängigkeit von russischem Gas potenziert die Sorge

    Denn die Vorzeichen sind 2022 andere als noch vor sechs Jahren. Die öffentliche Meinung zu China ist drastisch kritischer geworden. Der jüngste Transatlantic Trends Report des German Marshall Funds sagt aus, dass von 14 untersuchten Staaten nur in den USA und Kanada ein größerer Bevölkerungsanteil China für einen Rivalen hält als in Deutschland. Und lediglich in Großbritannien ist die Zahl derer, die China für einen Partner halten so klein wie in Deutschland (12 Prozent). Der Berlin Pulse Report der Körber-Siftung fand zudem heraus, dass zwei Drittel der Deutschen bereit sind, die wirtschaftliche Abhängigkeit von China zu verringern, selbst wenn das zu ökonomischen Einbußen führt.

    Die Entdemokratisierung Hongkongs seit 2019, die Beweise für systematische und umfassende Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang und Tibet, das aggressive Auftreten von Wolfskrieger-Diplomaten im Ausland oder die Drohungen gegen Taiwan haben Spuren in Deutschland hinterlassen. Die Wucht dieser Ereignisse wurde jedoch erst potenziert durch die Erkenntnis, wie groß die Abhängigkeit Deutschlands von Rohstoffen aus Russland war. Hätte Putin die Ukraine nicht angegriffen, hätte der Teilverkauf des Hamburger Terminals möglicherweise weit weniger Beachtung erfahren. Jetzt ist er so etwas wie der Kippmoment für die Wahrnehmung chinesischer Strategien in Deutschland.

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    News

    Bund will Industriestrompreis von 13 Cent

    Die Bundesregierung will den Strompreis für Privathaushalte ab Anfang kommenden Jahres bei 40 Cent pro Kilowattstunde deckeln. Dies soll für ein Grundkontingent von 80 Prozent des prognostizierten Jahresverbrauchs gelten, wie aus einem Papier der Bundesregierung vor den Beratungen mit der Ministerpräsidentenkonferenz am Mittwoch hervorgeht. Bei Industrieunternehmen würden die Strompreise bei 13 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt für 70 Prozent des Vorjahresverbrauchs.

    Zur Mitfinanzierung der Strompreisbremse sollen Zufallsgewinne von Unternehmen auf dem Strommarkt rückwirkend ab 1. September abgeschöpft werden. Das betrifft etwa Produzenten von Ökostrom, aber auch Kern- und Braunkohlekraftwerke. Die über die Abschöpfung erzielten Einnahmen werden auf einen zweistelligen Milliardenbetrag geschätzt.

    Laut dem Papier kostet die Strompreisbremse für Haushalte und kleinere Unternehmen voraussichtlich zwischen 23 und 33 Milliarden Euro. Der Mittelbedarf für die industrielle Strompreisbremse werde auf weitere 30 bis 36 Milliarden Euro geschätzt. Für die Gaspreisbremse schätzt die Bundesregierung Kosten von über 30 Milliarden Euro.

    Der Verband der Elektro- und Digitalindustrie begrüßte die Strompreisbremse. Kritisch sieht der ZVEI aber, dass der Jahresverbrauch von 2021 als Grundlage für den vergünstigten Strombezug herangezogen werden soll. “Investitionen in die Elektrifizierung, die erst in diesem Jahr getätigt wurden und die einen höheren Strombezug zur Folge haben, beispielsweise bei Wärmepumpen oder Elektromobilität, werden hier außer Acht gelassen – und mehr oder weniger abgestraft”, so der Verband. Besser geeignet sei ein “atmender Mengendeckel”.

    Für Beihilfen teils Einzelentscheidungen nötig

    In Bezug auf die Gaspreisbremse bestätigte Wirtschaftsminister Robert Habeck gestern, dass die Beihilferichtlinien der EU den Vorschlägen der Gaskommission vom Montag teilweise entgegenstehen (Europe.Table berichtete). Die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenrunde hatte für die Industrie einen Gaspreis von sieben Cent pro Kilowattstunde für 70 Prozent des Verbrauchs in einem Vergleichszeitraum vorgeschlagen. Am Freitag zuvor hatte die EU-Kommission aber den neuen befristeten Krisenrahmen vorgelegt.

    Im Temporary Crisis Framework hatte die EU-Behörde eine Obergrenze von 150 Millionen Euro für Energiebeihilfen eingezogen und die Zahlungen an Bedingungen geknüpft. Ein pauschaler Preis für große Industrieunternehmen entspreche nicht der Logik der EU-Kommission, sagte Habeck. Eine Sprecherin sagte gestern, das Ministerium habe sich an einigen Stellen noch etwas mehr Spielraum gewünscht.

    Für große energieintensive Firmen seien in der Logik der Gaskommission teilweise Zahlungen deutlich über 150 Millionen Euro nötig, sagte der Energieexperte Philipp Jäger vom Jacques Delors Centre. In solchen Fällen könne die EU-Kommission Einzelentscheidungen treffen. rtr/dpa/ber/tho

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    Wahlen in Dänemark: Sozialdemokraten liegen vorn

    Die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Mette Frederiksen werden bei der Parlamentswahl in Dänemark ersten Prognosen zufolge erneut stärkste Kraft. Nachwahlbefragungen der Sender DR und TV2 deuteten am Dienstagabend jedoch auf ein kompliziertes Rennen um Mehrheiten hin – es ist somit offen, ob Frederiksen weiterregieren kann. Der neuen Partei des früheren Regierungschefs Lars Løkke Rasmussen wurde ein starkes Ergebnis vorhergesagt, während dessen liberal-konservative Ex-Partei Venstre vor klaren Verlusten steht.

    Løkkes neue zentristisch-liberale Partei Die Moderaten hat sich in der Mitte zwischen den beiden traditionellen politischen Blöcken positioniert. Es ist unklar, ob der Mitte-links-Block um Frederiksens Sozialdemokraten trotz eines Vorsprungs vor dem Mitte-rechts-Block um Venstre-Chef Jakob Ellemann-Jensen ohne Løkke auf eine Mehrheit kommen wird. Bestätigen sich die prognostizierten Zahlen im Laufe des Wahlabends, dürfte Dänemark vor langwierigen Verhandlungen über die künftige Regierungszusammenarbeit stehen.

    Für eine Mehrheit im dänischen Parlament in Kopenhagen sind 90 der 179 Sitze notwendig. In der DR-Prognose kam das linksgerichtete rote Lager zunächst auf 85 Mandate, der von Venstre angeführte blaue Block auf 73. Løkkes Moderaten wurden 17 Sitze prognostiziert, die in dem Fall entscheidend für eine Mehrheit wären. Jeweils zwei Parlamentssitze sind für Repräsentanten der Färöer-Inseln und Grönlands bestimmt, die offiziell zum Königreich Dänemark zählen.

    Frederiksen führt Dänemark seit 2019 mit einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung, die meist auf parlamentarische Unterstützung linksgerichteter Parteien setzt, etwa in der strikten Einwanderungspolitik aber auch auf Stimmen von rechts. Die 44 Jahre alte Regierungschefin strebt diesmal eine breite, blockübergreifende Regierung mit Parteien beider Seiten an. Das gelte auch in dem Fall, sollte ihr linksgerichtetes Lager erneut auf eine Mehrheit kommen, hatte sie in der letzten TV-Debatte der Parteispitzen am Montagabend gesagt. Beobachter rechnen aber damit, dass sie im Falle einer roten Mehrheit auch auf dieses Lager zurückgreifen könnte. dpa

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    EU verspricht Hilfe für ukrainische Energieinfrastruktur

    Die Europäische Union prüft Möglichkeiten, die Hilfe für den ukrainischen Energiesektor, der durch wochenlange russische Angriffe geschädigt wurde, zu verstärken, erklärte EU-Energiekommissarin Kadri Simson am Dienstag bei einem Besuch in Kiew.

    “Ich bin heute in Kiew, um dabei zu helfen, die Unterstützung für den ukrainischen Energiesektor zu verstärken”, erklärte sie in einem Tweet. “Ich habe das Ausmaß der Zerstörung in der Ukraine aus erster Hand gesehen und setze alles daran, die finanzielle, technische und praktische Hilfe zu erhöhen.”

    Simson nannte die russischen Angriffe “eine grausame und unmenschliche Taktik, um menschliches Leid zu verursachen, während der Winter naht”. Die zusätzliche Hilfe müsse von den EU-Institutionen, den Mitgliedstaaten, internationalen Partnern und privaten Spendern kommen, sagte sie.

    Die Kommissarin reiste nach den wochenlangen russischen Angriffen auf die ukrainische zivile Infrastruktur, insbesondere auf Kraftwerke, nach Kiew. Simson plant, mit ukrainischen Behörden und Energieunternehmen darüber zu sprechen, wie die EU, internationale Partner und der Privatsektor helfen können. Sie wird auch über die Lage im russisch besetzten Kernkraftwerk Saporischschja, die Versorgungssicherheit und den künftigen Wiederaufbau des Energiesystems sprechen.

    Frankreich plant internationale Hilfskonferenz

    40 Prozent des Energiesystems der Ukraine seien zerstört, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei dem Treffen. Bei der Wiederherstellung der Energie-Infrastruktur sollte die EU-Kommission eine koordinierende Rolle spielen, regte er an. Er erinnerte an die Ukraine-Kontaktgruppe, das sogenannte Ramstein-Format, in dem die Unterstützerländer ihre Rüstungshilfe koordinieren. Für Wirtschaft und Energie sollte es ebenfalls ein “Ramstein” geben, sagte er nach Medienberichten.

    Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hat der Ukraine Hilfe bei der Reparatur der Wasser- und Energieinfrastruktur zugesagt, die durch die russischen Angriffe schwer beschädigt wurde. Frankreich werde der Ukraine helfen, den Winter zu überstehen und auch die ukrainische Luftabwehr stärken, teilt Macron nach einem Telefonat mit Selenskyj mit.

    Er habe zudem mit Selenskyj vereinbart, am 13. Dezember in Paris eine internationale Konferenz für eine Unterstützung der ukrainischen Zivilbevölkerung im Winter auszurichten. Eine bilaterale Konferenz am Tag zuvor werde auch darauf abzielen, die Unterstützung der Ukraine durch französische Unternehmen zu verstärken. rtr/dpa

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    Drei Abkommen auf Westbalkangipfel in Berlin geplant

    Auf einem Westbalkan-Gipfel in Berlin sollen am Donnerstag drei Abkommen unterzeichnet werden. Man habe die “berechtigte Hoffnung”, dass die sechs Regierungen der Region Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Personalausweisen, Universitäts-Diplomen und Berufsabschlüssen unterschreiben, hieß es am Dienstag in Regierungskreisen in Berlin. Alle drei Punkte gelten als wichtige Bausteine für eine bessere Zusammenarbeit von Serbien, Montenegro, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und Kosovo, die alle in die EU streben.

    Am Donnerstag empfängt Kanzler Olaf Scholz als Gastgeber des von seiner Vorgängerin Angela Merkel gestarteten sogenannten “Berliner Prozesses” Staats- und Regierungschefs vom Westbalkan und aus der EU. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel wollen teilnehmen. Zudem gebe es eine sehr enge Abstimmung mit der US-Regierung, die den Annäherungskurs der sechs Staaten unterstütze, hieß es in Regierungskreisen.

    Der “Berliner Prozess” setzt vor allem auf eine stärkere Zusammenarbeit der einst verfeindeten Staaten, die nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden sind. Die EU selbst plant Anfang Dezember eine Konferenz, auf der die Beitrittsbemühungen der Länder zur EU im Mittelpunkt stehen. Hintergrund der verstärkten Bemühungen ist die Sorge, dass Russland, China oder die Türkei Einfluss in der Region nehmen. “Die Zeit spielt nicht für die krisenanfällige Region”, wurde in Regierungskreisen gewarnt. Man sei guter Hoffnung, dass es am Donnerstag auch konkrete finanzielle Zusagen gebe, wie man den sechs Staaten in der Energiekrise helfen könne.

    Bundesregierung mahnt Serbien

    Die Bundesregierung mahnte Serbien vor der Konferenz, sich für einen Weg in die EU oder eine Partnerschaft mit Russland zu entscheiden. “Die Entscheidungsnotwendigkeit spitzt sich zu angesichts der geopolitischen Entwicklung”, sagte ein Regierungsvertreter mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Man sei “überrascht und enttäuscht”, dass Serbien ein Abkommen zur verstärkten Zusammenarbeit mit Russland beschlossen habe. Dies passe schlecht zu der Erwartung, dass die EU-Beitrittskandidaten auch die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland übernehmen sollten.

    Man habe den Eindruck, dass sich der serbische Präsident Aleksandar Vučić als erfahrener Politiker sehr wohl seiner Pendelposition zwischen der EU und Russland bewusst sei. Wenn Vučić sich entscheide, sein Land in Richtung EU zu führen, habe er dafür die Unterstützung der Bundesregierung. “Sollte er sich für den anderen Weg entscheiden, wird das umgekehrt Konsequenzen haben”, hieß es. Serbien pflegt traditionell enge Beziehungen zu Russland. Andere Westbalkan-Staaten und die EU fürchten, dass Russland über die Regierung in Belgrad Einfluss auf die Region ausüben will. In Regierungskreisen wurde zudem darauf gepocht, dass Serbien und die ehemalige serbische Provinz Kosovo ihre Streitigkeiten beilegten. Für diese sei angesichts der angespannten geopolitischen Lage “einfach kein Platz mehr”. rtr

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    Deutschland unterstützt vorerst keinen Tiefseebergbau

    Die Bundesregierung hat angekündigt, bis auf Weiteres keine Anträge auf kommerziellen Abbau von Rohstoffen in der Tiefsee zu unterstützen. Bei Verhandlungen im Rahmen des Rates der Internationalen Meeresbodenbehörde (ISA) in Jamaika hat sie eine vorsorgliche Pause (“precautionary pause”) beim Tiefseebergbau gefordert, bis die Tiefseeökosysteme und möglichen Risiken des Tiefseebergbaus ausreichend erforscht sind und strenge Abbauregularien vorliegen.

    Das vorhandene Wissen und der Stand der Forschung reichten nicht aus, um ernsthafte Umweltschäden durch Tiefseebergbau auszuschließen, erklärte die Bundesregierung. Zudem werbe Deutschland im Kreis der Mitgliedstaaten dafür, ebenfalls keine Anträge zu unterstützen. Eine formale Unterstützung von Abbauanträgen durch einen Mitgliedstaat des UN-Seerechtsübereinkommens ist zwingende Voraussetzung dafür, dass ein Unternehmen eine Genehmigung der Internationale Meeresbodenbehörde erhält.

    “Deutschland will die weitere Erforschung der Tiefsee“, erklärte Franziska Brantner, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium. “Aber wir wollen den Vorsorgeansatz im Tiefseebergbau stärken. Deshalb sollten bis auf Weiteres keine Anträge auf kommerziellen Abbau von Rohstoffen in der Tiefsee unterstützt werden.” Bundesumweltministerin Steffi Lemke sagte: “Tiefseebergbau würde die Meere weiter belasten und Ökosysteme unwiederbringlich zerstören. Deshalb werben wir als ersten Schritt für ein Innehalten und keine vorschnellen Entscheidungen auf Kosten der Meeresumwelt.”

    EU-Kommission und Parlament für Moratorium

    Deutschland schließt sich damit der Forderung von Ländern wie Neuseeland und Frankreich an. Auch die EU-Kommission fordert in ihrer Agenda für die Verwaltung der Ozeane ein “Verbot des Tiefseebergbaus, bis die wissenschaftlichen Lücken ordnungsgemäß geschlossen sind, keine schädlichen Auswirkungen des Bergbaus auftreten und die Meeresumwelt wirksam geschützt ist”. Das EU-Parlament hatte im Mai in einer Entschließung die Kommission und die Mitgliedstaaten aufgefordert, sich für ein internationales Moratorium für den Tiefseebergbau einzusetzen.

    Die Entscheidung der Bundesregierung, für eine “precautionary pause” im Tiefseebergbau zu werben, erfolgt als Reaktion auf den im vergangenen Jahr angekündigten Abbauantrag des Pazifikstaats Nauru. Damit wurde die sogenannte “Zweijahresklausel” des Seerechtsübereinkommens ausgelöst, nach der innerhalb von zwei Jahren die Abbauregularien entwickelt werden müssen. Die Frist hierfür endet im Juli 2023.

    Die deutschen Automobilhersteller Volkswagen und BMW hatten bereits zuvor erklärt, dass sie keine Metalle kaufen würden, die im Meeresboden abgebaut werden. leo/rtr

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    Presseschau

    Selenskyj will EU-Hilfe für Reparaturen am Energiesystem WALLSTREET-ONLINE
    Beteiligung an Ukraine-Krieg: EU prüft weitere Sanktionen gegen Lukaschenko T-ONLINE
    Putin will mit “Stromterror” für Flüchtlingskrise in EU sorgen – Ukraine sieht perfiden Plan NORDBAYERN
    Kanzleramt will Gaspreisbremse schon ab Februar SPIEGEL
    Brasilien: Lula geht auf die EU zu AGRARZEITUNG
    Dramatische Bilanz: 5500 Quadratkilometer Wald in der EU verbrannt RND
    Streit um Auslegung des EU-Mobilitätspakets DVZ
    Konferenz in Berlin: Finden die Westbalkan-Länder doch den Weg in die EU? DW
    Verlängerung der Eufor-Mission in Bosnien wegen Russland unsicher DERSTANDARD
    Niederlande pochen auf weniger Spielraum für EU-Kommission FAZ
    EU unterzeichnet Hilfsabkommen für Mosambik über 148 Millionen Euro DEUTSCHLANDFUNK
    Energiekrise: Qatar warnt die EU FAZ
    Europe’s diverging prices complicate ECB’s task REUTERS
    Öffnung von App Store, Zahlungsmethode und iMessage: Wie die EU das Apple-Land umbauen will APFELPAGE
    Microsoft Activision: EU-Kommission gibt Rekordübernahme vorerst nicht frei HEISE

    Standpunkt

    Der Westen braucht eine Energie- und Ressourcenallianz

    Porträtfoto von Morten Svendstorp om Anzug vor Bäumen. Im Standpunkt schreibt er über ein Bündnis für die Versorgung mit Energie und kritischen Rohstoffen.
    Morten Svendstorp ist strategischer Berater des dänischen Ministers für Klima, Energie und Versorgungswirtschaft und Gastwissenschaftler an der George Washington University, Washington, D.C.

    Der alte Spruch “Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich oft” ist eine treffende Beschreibung der sich entwickelnden Beziehungen zwischen dem Westen und seinen Rivalen. Während des Kalten Krieges war die Sowjetunion dank ihrer militärischen Stärke eine globale Supermacht. Heute scheinen Russlands Streitkräfte in einem desolaten Zustand zu sein, aber das Land hat sich zu einer Energiesupermacht entwickelt, die ihre riesigen Erdgasreserven als Waffe einsetzen kann. In ähnlicher Weise erinnert die heutige Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland über die Ukraine an die Konfrontation zwischen Autoritarismus und Demokratie im Kalten Krieg.

    Angesichts des bevorstehenden Winters könnte der vom Kreml verhängte Stopp der Gaslieferungen an die Europäische Union schwerwiegende Folgen haben und die größte Energiekrise seit 50 Jahren auslösen. Die Erhöhung der Gaslieferungen aus den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und Norwegen wird zwar kurzfristig die Abhängigkeit der EU von russischen Lieferungen verringern, ist aber keine langfristige Lösung.

    Der Einsatz von Energieressourcen als Waffe unterstreicht die Notwendigkeit einer neuen Art von Bündnis zwischen den Demokratien der Welt. Auf dem Gipfeltreffen zur Energiesicherheit im Ostseeraum, das vor zwei Monaten in Dänemark stattfand, haben Deutschland, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland, Schweden und die Europäische Kommission einen vorläufigen Entwurf dafür vorgelegt, wie eine engere Energiekoordination aussehen könnte. Alle anwesenden Länder unterzeichneten eine Erklärung, in der sie sich verpflichten, ihre Offshore-Windenergiekapazitäten in den nächsten acht Jahren um fast das Siebenfache zu erhöhen. Bis 2030 sollen allein die Offshore-Windparks in der Ostseeregion in der Lage sein, 19,6 Gigawatt pro Jahr zu erzeugen, genug, um den Strombedarf von 28,5 Millionen europäischen Haushalten zu decken (was in etwa der Gesamtzahl der Haushalte in allen Ostseeländern außer Deutschland und Russland entspricht).

    Chinas Kontrolle über wichtige Lieferketten eindämmen

    Das Gipfeltreffen war ein historischer politischer Schritt, der zeigt, dass die Geopolitik der Energie an der Schwelle zu einer großen Veränderung steht. In den letzten zehn Jahren sind die Kosten für Wind- und Sonnenenergie in den meisten Ländern unter die Kosten für fossile Brennstoffe gefallen. Das rasche Wachstum der erneuerbaren Energien wird zwei tiefgreifende Folgen haben. Erstens wird die Fähigkeit der brennstoffexportierenden Länder, Energieressourcen als Waffe einzusetzen, geschwächt. Zweitens wird in dem Maße, in dem die geopolitische Bedeutung der Brennstoffressourcen abnimmt, die Bedeutung von kritischen Rohstoffen wie Seltene Erden, Mineralien und Metalle zunehmen.

    In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich China eine weltweite Vormachtstellung bei der Gewinnung und Veredelung von Mineralien und Metallen gesichert. China fördert heute 58 Prozent der weltweiten Seltenen Erden, 85 Prozent dieser Rohstoffe werden in China weiterverarbeitet. Damit hat China die Kontrolle über wichtige Teile der Lieferketten, die für den Bau von Windturbinen, Solarzellen und Elektrofahrzeugen benötigt werden. Zum Vergleich: Der Anteil Saudi-Arabiens an der weltweiten Ölproduktion liegt bei nur 11 Prozent.

    Chinas Vorherrschaft ist an sich schon besorgniserregend, doch was die Sache noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass das Land dafür bekannt ist, seine Ressourcen als Waffe einzusetzen. Nachdem 2010 ein chinesischer Trawler in den Gewässern um die umstrittenen Senkaku-Inseln mit einem Schiff der japanischen Küstenwache zusammengestoßen war, stoppte China seine Exporte von Seltenen Erden nach Japan. Daraufhin unternahm Japan Schritte, um seine Abhängigkeit von China zu verringern, indem es unter anderem mit Bergbauunternehmen zusammenarbeitete, um neue Quellen für dieselben Materialien zu finden, und indem es seine inländischen Raffineriekapazitäten ausbaute.

    Gemeinsame Prognosen über Rohstoffversorgung

    Europa, die USA und andere Demokratien sollten die Lehren aus dem Zwischenfall auf den Senkaku-Inseln im Jahr 2010 ziehen und eine neue Allianz schmieden, um die Versorgung mit Energie und wichtigen Rohstoffen zu sichern. Wir wissen bereits, dass solche missionsorientierten Bündnisse funktionieren: Die NATO ist seit vielen Jahrzehnten ein wirksames Bollwerk der Demokratie, des freien Handels und der Sicherheit, und die Internationale Energieagentur – die von den OECD-Mitgliedern nach dem Ölschock von 1973 gegründet wurde – hat sich als wirksames Mittel gegen den Gebrauch von Öl als Waffe durch die OPEC erwiesen.

    Eine neue Energie- und Rohstoffallianz könnte zunächst Japan, Australien, Neuseeland, Südkorea und jene lateinamerikanischen Demokratien einbeziehen, die eine regelbasierte globale Ordnung unterstützen. Nach dem Vorbild der IEA würde sie eine gemeinsame Analysekapazität entwickeln, um regelmäßige Prognosen über die Versorgung mit kritischen Rohstoffen und die Nachfrage nach ihnen zu erstellen. Und so wie die IEA-Mitglieder Öl-Notreserven in Höhe von mindestens 90 Tagen der Nettoölimporte halten, würden die Mitglieder der neuen Allianz Vorräte an strategisch wichtigen Rohstoffen anlegen.

    Die Allianz würde auch Standards für die Qualität von veredelten kritischen Rohstoffen und für nachhaltige, ethische Bergbaupraktiken festlegen. Solche Standards sind der effektivste Weg, um die Rohstoffgewinnung in Entwicklungsländern zu reformieren, wo der Betrieb oft durch Umweltzerstörung und unmenschliche Arbeitsbedingungen beeinträchtigt wird.

    Bündnis könnte Forschung koordinieren

    Schließlich würden die Mitglieder des Bündnisses im Rahmen der G7, der G20 und der Welthandelsorganisation auf ein marktbasiertes internationales Handelssystem für kritische Rohstoffe drängen. Sie würden die Forschung koordinieren und fördern, um die Nachfrage nach Mineralien zu diversifizieren. Und sie würden neue öffentlich-private Partnerschaften gründen, um eine Pipeline von anstehenden Abbau- und Raffinerieprojekten aufzubauen.

    Kritische Rohstoffe und Energieressourcen können nicht nur den grünen Wandel vorantreiben, sondern auch zu einer Quelle des Friedens, der Zusammenarbeit und der Stabilität werden. Wenn wir auf den Lehren aus dem Ölschock von 1973 aufbauen, können wir sicherstellen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Das Ergebnis wäre eine weitere Tragödie, keine Farce, wie Karl Marx glaubte. Es kann nur vermieden werden, wenn sich die Demokratien der Welt zusammentun und alles Notwendige tun, damit wesentliche Wirtschaftsgüter nicht weiter als Waffe eingesetzt werden.

    Aus dem Englischen von Andreas Hubig. In Kooperation mit Project Syndicate.

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    • Erdgas
    • Rohstoffe

    Personalien

    Moritz Hundhausen ist neuer Leiter Europäische Politik bei der Stiftung Familienunternehmen und Politik. Er vertritt die Belange der Familienunternehmen auf europäischer Ebene und leitet die Brüsseler Repräsentanz. Der 36-jährige Jurist war zuvor Referatsleiter für Umwelt- und Rohstoffpolitik im Brüsseler Büro des DIHK.

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