Table.Briefing: Europe

Scholz-Rede + AI Act + Industriestrompreis

Liebe Leserin, lieber Leser,

Der Europatag ist Gelegenheit für große, symbolische Gesten und inspirierende, neue Impulse. Doch in Straßburg blieb Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Rede im Parlament gestern zögerlich und farblos. Hinter welchen Ideen aus dem Koalitionsvertrag der Ampel Scholz zurückblieb, lesen Sie in der Analyse von Markus Grabitz.

Um das Dickicht von Details in der regulären Gesetzgebung geht es dagegen bei der morgigen Abstimmung des Parlaments zum AI Act. Es könnte Überraschungen geben, nicht alle Abgeordneten stehen hinter dem Kompromiss der Berichterstatter. Auch die Trilogverhandlungen werden nicht leicht. Meine Kollegin Corinna Visser zeigt die wichtigsten Konfliktlinien auf.

In den News erkläre ich, warum der Vorstoß von Wirtschaftsminister Robert Habeck für einen Industriestrompreis vom neuesten Kompromissvorschlag der Ratspräsidentschaft zur Strommarktreform durchkreuzt werden könnte.

Um Europas Identität geht es dann wieder im Standpunkt von André Wilkens & Paweł Zerka. Im Umgang mit russischen Bürgern und russischer Kultur müsse Europa seine pluralistische Kultur herausstellen und so sein Selbstbild und sein Image in der Welt bestätigen, schreiben die Autoren.

Ihr
Manuel Berkel
Bild von Manuel  Berkel

Analyse

Scholz erntet wenig Beifall für Rede im Europaparlament

Kanzler Olaf Scholz spricht im Europaparlament.

Olaf Scholz muss wohl gemerkt haben, wie enttäuscht viele Abgeordnete über seine Rede waren. Am Ende der anschließenden einstündigen Debatte, in der ihm parteiübergreifend Mut- und Initiativlosigkeit attestiert wurde, ergriff der Bundeskanzler noch einmal das Wort. Da wirkte er wie verwandelt. Während er bei seiner eigentlichen Rede Wort für Wort von seinem Manuskript abgelesen hatte, redete er jetzt frei und beinahe leidenschaftlich. Und erntete dafür auch mehr als Höflichkeitsapplaus, etwa als er mahnte, das Beitrittsversprechen an die Balkanländer nicht weiter auf die lange Bank zu schieben.

Der Regierungschef eines der 27 Mitgliedstaaten bekommt nicht häufig die Gelegenheit, eine Grundsatzrede im Europaparlament zu halten. Doch Scholz verzichtete darauf, neue Akzente zur Weiterentwicklung der EU zu setzen. Als zentral für die Zukunft bezeichnete der Kanzler in seinem Beitrag die Aufnahme von Beitrittskandidaten wie der Westbalkanländer, der Ukraine und Moldau, und später womöglich Georgiens. Scholz leitet aus der Vergrößerung der EU “auf vielleicht 500 Millionen Bürger” die Notwendigkeit für innere Reformen ab.

Bei den Details verwies Scholz auf die Reformvorschläge, die er bei seiner Prager Rede im August vorgelegt hatte. Er hob die Forderung hervor, in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie bei Steuern im Rat zunehmend zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen. Den “Skeptikern” wolle er zurufen: “Nicht die Einstimmigkeit, nicht 100 Prozent Zustimmung zu allen Entscheidungen schafft größtmögliche demokratische Legitimation. Im Gegenteil.”  

Scholz für wirksamen Schutz der Außengrenzen

Der SPD-Politiker wirbt für mehr Freihandelsabkommen und eine gemeinsame Asylpolitik. Dazu gehörten auch “Maßnahmen für einen wirksamen Außengrenzenschutz”. Den hatten auch die Mitgliedstaaten im Rat im Februar beschlossen. Überhaupt beschränkte sich Scholz eher darauf, die laufenden Initiativen von Parlament und Rat zu loben, als neue vorzuschlagen.

Abgesehen vom Vorstoß für mehr Mehrheitsentscheidungen machte Scholz keine weiteren Vorschläge für institutionelle Reformen. Damit blieb er hinter dem Europakapitel im Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2021 zurück. Darin hatten sich SPD, Grüne und FDP ausgesprochen für:

  • einen Konvent für eine Änderung der Europäischen Verträge
  • ein Initiativrecht für das Europaparlament
  • Spitzenkandidaten und Transnationale Listen bei Europawahlen
  • die Weiterentwicklung der EU zu einem föderalen Bundesstaat
  • mehr Transparenz und schnellere Entscheidungen im Rat

In seiner Rede in Straßburg tauchte das Wort eines Verfassungskonvents, den das Europaparlament fordert, nicht auf. Damit stachelte er auch den Zorn der Abgeordneten an. EVP-Fraktionschef Manfred Weber betonte: “Wir brauchen den Konvent”. Die EU brauche keine weiteren Grundsatzreden mehr, sondern Führung. Viele Initiativen der Bundesregierung seien entweder “zu spät oder zu zaghaft”, etwa die Lieferung von Panzern und Munition an die Ukraine oder der Beitrag zur Debatte um den Stabilitäts- und Wachstumspakt.

Die Fraktionschefin der Grünen, Terry Reintke, sieht es ähnlich: Scholz sei doch angetreten mit dem Versprechen des Aufbruchs und dem Anspruch, Klimakanzler zu sein. “Das Bild des Kanzlers, der liefert, ist leider verblasst.” Und weiter: “Sie lassen laufen, statt sich klar zu positionieren”, sagte Reintke. Sie wünsche sich einen Kanzler, der kämpfe. Martin Schirdewan, Co-Chef der Fraktion der Linken, kritisierte: “Die Menschen sehnen sich angesichts der immer weiter anwachsenden sozialen Ungleichheit nach Antworten, die Sie in ihrer Rede aber nicht gegeben haben.”

Nur die SPD lobt den Kanzler

Nur die eigene S&D-Fraktion lobte den Kanzler in einer Debatte, die geprägt war von vielen Beiträgen deutscher Abgeordneter. Jens Geier, Chef der deutschen SPD-Abgeordneten, sagte, der Kanzler habe sich in “seiner reformfreudigen und zukunftsweisenden Rede für mehrere wichtige Weiterentwicklungen der EU starkgemacht”.

Linn Selle, die Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD), hob hervor, dass sich der Kanzler für eine erweiterte und reformierte EU im Europäischen Rat einsetzen wolle. “Leider fehlte aber ein klares Bekenntnis für ein starkes Europaparlament mit einem Initiativrecht, einem verbindlichen Spitzenkandidatensystem und einem einheitlichen EU-Wahlrecht”. Dabei fänden sich alle diese Versprechen bereits im Koalitionsvertrag der Ampel.

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AI Act: Der Kompromiss wackelt

Am Donnerstagvormittag wird es spannend im Raum 200 des Churchill-Gebäudes des Europäischen Parlaments in Straßburg. Dann stimmen die Abgeordneten in den federführenden Ausschüssen – Binnenmarkt (IMCO) und Bürgerliche Freiheiten (LIBE) – über ihren Kompromissvorschlag zum AI Act ab. Eigentlich hatten sich die Schattenberichterstatter in den Verhandlungen darauf geeinigt, alle erzielten Kompromisse zu unterstützen.

Die Abstimmungsliste ist lang

Doch ob es so kommt, ist keineswegs gewiss, denn auf Druck der EVP werden einige Punkte nun doch separat von den eigentlichen Kompromisspaketen abgestimmt. Und selbst, wenn die Abstimmung in den Ausschüssen und dann im Plenum gelingt, stehen schwierige Verhandlungen mit dem Rat im Trilog bevor. Nicht zuletzt, weil dieser keine Regelung für Allzweck-KI wie ChatGPT getroffen hat.

Allein im Parlament hatten die beiden Berichterstatter Brando Benifei (S&D) und Dragoş Tudorache (Renew) die enorme Zahl von 3312 Änderungsanträgen zu bearbeiten.

In der Folge ist auch die (vorläufige) Abstimmungsliste für Donnerstag mit 351 Seiten ausgesprochen lang. Die Fraktionen hatten bis Dienstagabend Zeit, weitere Änderungswünsche einzureichen. Nach Informationen von Europe.Table hat es aber keine substanziellen Änderungen mehr gegeben.

“Verbotene Praktiken” könnten zur Schlüsselfrage werden

Ein Änderungswunsch der EVP hatte die Berichterstatter bereits zuvor veranlasst, das Kompromisspaket zu Artikel 5 wieder auseinanderzunehmen. So werden die Ausschussmitglieder über verschiedene “Verbotene Praktiken im Bereich der Künstlichen Intelligenz” separat abstimmen:

  • zum einen über verbotene Praktiken wie Social Scoring oder Predictive Policing (Kompromisspaket 11)
  • zum anderen über die Verwendung von biometrischen Fernidentifikationssystemen in öffentlich zugänglichen Räumen (im Kompromisspaket 11a). Dabei soll die Überwachung in Echtzeit gänzlich verboten und in der nachträglichen Auswertung unter Richtervorbehalt gestellt sein.

Axel Voss, Schattenberichterstatter der EVP, sagte Europe.Table wiederholt, dass es seiner Fraktion daran gelegen sei, möglichst wenige Technologien zu verbieten. Der Gedanke dahinter: Sonst würden diese außerhalb der EU entwickelt. Allerdings steht die EVP in dieser Frage nicht geschlossen hinter ihrem Schattenberichterstatter: Es gibt es wohl einige Abgeordnete in der EVP-Fraktion, die diese Form der Massenüberwachung ablehnen.

Die Liberalen sind in der Frage ebenfalls gespalten. Auch in der S&D gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Die Grünen/EFA lehnen die biometrische Fernerkennung in Echtzeit jedoch ganz klar ab. Für sie könnte das Thema biometrische Fernüberwachung gar zu einer Schlüsselfrage werden, die am Ende die Zustimmung zum gesamten Kompromisspapier gefährden kann.

Die Chatkontrolle ist eine weitere Schlüsselfrage

Bei der EVP ist die Schlüsselfrage eine andere, nämlich die Chatkontrolle. Svenja Hahn (Renew) hatte gefordert, den Einsatz von KI-basierten Technologien zur Überwachung privater Kommunikation im AI Act zu verbieten. Sie hatte auf diese Forderung aber verzichtet, da die Chatkontrolle auch an anderer Stelle diskutiert wird (etwa bei CSAM).

Scheitert jedoch der Kompromissantrag 11a bei der Abstimmung, dann stimmen die Abgeordneten die eigentlich unter den Kompromiss fallenden Änderungsanträge separat ab. Dann stünde auch das Verbot zur Chatkontrolle plötzlich wieder zur Abstimmung und könnte eine Mehrheit finden. Die EVP will aber eine Regelung zur Chatkontrolle im AI Act unbedingt verhindern.

Parlament hat Regeln für ChatGPT vorgelegt

Die schwierige Konsenssuche im Parlament gibt einen ersten Eindruck davon, wie problematisch die Verhandlungen mit dem Rat im folgenden Trilog werden dürften. Denn nach den 3312 Änderungsanträgen und insgesamt zwölf Kompromisspaketen unterscheidet sich die Parlamentsposition nicht nur erheblich vom Vorschlag der Kommission, sondern auch von der generellen Ausrichtung, die der Rat im Dezember beschlossen hat.

Exekutiv-Vizepräsidentin Margrethe Vestager sagte bei ihrem Besuch in Berlin am Montag, die Kommission habe den AI Act so konstruiert, dass er die Anwendungen reguliere und nicht die Technologien. Deswegen sei das Gesetz zukunftssicher.

Dennoch ist es problematisch, Allzweck-KI wie große Sprachmodelle zu denen auch ChatGPT gehört, in das Gesetz zu integrieren. Denn sie sind ja definitionsgemäß für keinen bestimmten Anwendungszweck entwickelt und fallen demnach gar nicht in den Geltungsbereich.

Die Parlamentsberichterstatter haben dennoch einen Weg gefunden, Allzweck KI in der Verordnung zu integrieren. Der Rat hatte darauf zunächst verzichtet. Angesichts der öffentlichen Diskussion über ChatGPT und ähnliche Modelle ist das nun unaufschiebbar. Die Diskussion über Allzweck-KI wie ChatGPT wird daher einer der großen Verhandlungspunkte mit dem Rat im Trilog sein.

Biometrische Fernüberwachung als Streitthema im Trilog

Weitere Reibungspunkte zwischen Rat und Parlament dürften sein:

  • Die Definition von KI: Sie bestimmt, was unter die Regulierung fällt und was nicht. Das Parlament hat lange gestritten. Die linke Seite befürwortete eine recht weitreichende Definition, die rechte Seite befürchtete, dass dann zu viele KI-Systeme unter die Regulierung fallen. Am Ende einigten sich die Verhandler auf einen Kompromiss, der enger gefasst ist als die Formulierung der Kommission. Er orientiert sich an der Definition der OECD und weicht nicht stark von der Ratsposition ab.
  • Die Klassifizierung: Welche KI-Systeme sind verboten und welche gelten als Hochrisiko-KI-Systeme? Hier geht es um die Systematik des Gesetzes. Rat und Parlament haben die Liste der Hochrisiko-Systeme (Anhang III) erweitert, fügen aber jeweils eine weitere Prüfebene ein. Die Liste verbotener Praktiken ist im Parlament länger als im Rat. Über den Einsatz biometrischer Fernerkennungssysteme wird es auch im Trilog zu harten Auseinandersetzungen kommen. Ebenso beim Einsatz von KI zur Strafverfolgung. Hier wollen die Mitgliedsländer mehr Freiheiten als das Parlament ihnen zubilligen will.
  • Die Umsetzung: Wer soll die Einhaltung der KI-Verordnung überwachen? Das ist besonders anspruchsvoll, da die Technologie sich entwickelt. Darum hatte die Kommission Anhänge vorgesehen, die sie leicht anpassen kann. Das Parlament hat ein europäisches AI Office vorgeschlagen. Doch die Mitgliedsländer im Rat müssen noch überzeugt werden, Kompetenzen abzugeben.

Vestager sagte in Berlin, sie erwarte, dass die Trilog-Verhandlungen noch in diesem Jahr ihren Abschluss finden. Wie lange es dann dauern werde, bis das Gesetz zur Anwendung kommt, sei Gegenstand der Verhandlungen.

  • Digitalpolitik
  • Künstliche Intelligenz
  • Künstliche Intelligenz-Verordnung

News

Ratspräsidentschaft gegen Habecks Industrieplan

Der Plan von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) für die langfristige Finanzierung von günstigem Industriestrom trifft auf Widerstand im Rat der EU. Das geht aus einer Vorlage der schwedischen Ratspräsidentschaft für das morgige Treffen der Arbeitsgruppe Energie hervor, die Table.Media vorliegt.

Die Kommission hatte vorgeschlagen, in Zeiten hoher Strompreise Übergewinne von neuen Erzeugungsanlagen abzuschöpfen und die Einnahmen je nach Verbrauch gleichmäßig an alle Stromkunden zu verteilen. In einem Arbeitspapier zum Industriestrompreis hatte Habeck vergangene Woche jedoch angekündigt, das Wirtschaftsministerium werde sich dafür einsetzen, “dass die Mitgliedstaaten die Einnahmen […] gezielt an die im internationalen Wettbewerb stehende Industrie weitergeben können, damit die Einnahmen für einen wettbewerbsfähigen Strompreis ausreichen”.

Virtuelle Hubs erst nach Folgenabschätzung

Im neuen Textvorschlag der Ratspräsidentschaft heißt es nun aber, Unternehmen sollten höchstens so viele Rückflüsse aus zweiseitigen Differenzverträgen (CfDs) erhalten, wie es ihrem gesamten Anteil am Stromverbrauch entspricht. Zudem müssten alle Unternehmen pro Kilowattstunde die gleiche Rückvergütung erhalten. Laut dem Verband BDEW hatten Haushalte 2022 einen Anteil von 27 Prozent am Stromverbrauch, bei der Industrie waren es 44 Prozent und bei Gewerbe, Handel, Dienstleistungen 26 Prozent.

Die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, direkte Preisstützungssysteme für erneuerbare Energien auf zweiseitige CfDs umzustellen, soll nach der Ratsvorlage außerdem erst nach einem Zeitraum von einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes gelten, um den Vertrauensschutz zu wahren.

Der Rat will außerdem die Einführung von Virtuellen Hubs für die Terminmärkte auf eine solidere Grundlage stellen. Mit den virtuellen Handelspunkten will die Kommission den Stromhandel zwischen den Gebotszonen ankurbeln, die sich häufig immer noch mit den Grenzen der Mitgliedstaaten decken. Das Design der Hubs wollte sie ACER übertragen. Die Mitgliedstaaten wollen aber, dass die Kommission die Ausgestaltung innerhalb von zwei Jahren mit einem Durchführungsrechtsakt selbst regelt und zunächst eine Folgenabschätzung durchführt. ber

  • Industriepolitik
  • Strommarkt
  • Strompreis

Ukraine: Von der Leyen würdigt Reformen

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat der Ukraine bei ihrem Besuch in Kiew am Dienstag tiefen Respekt für die Bemühungen um einen schnellen EU-Beitritt gezollt. Das Land arbeite “unermüdlich und intensiv” daran, die Voraussetzungen für den Start von Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. Und dies trotz der Schwierigkeiten, Reformen in einem blutigen Krieg durchzuführen.

Eine erste Bewertung der aktuellen Reformanstrengungen der Ukraine wird die EU-Kommission nach den Angaben von der Leyens im Juni mündlich an den Rat übermitteln. Im Oktober soll es einen schriftlichen Bericht geben, auf Grundlage dessen eine Entscheidung über den Start von Beitrittsverhandlungen getroffen werden soll. Die Ukraine ist seit vergangenem Sommer Beitrittskandidat.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nutzte den Besuch von der Leyens für Kritik an Einfuhrbeschränkungen für Agrarprodukte in fünf EU-Staaten. “Jegliche Beschränkungen unseres Exports sind jetzt absolut unzulässig”, sagte er bei einer Pressekonferenz.

EVP will schnelle Nato-Mitgliedschaft

Unterdessen stimmte das EU-Parlament am Dienstag dafür, die Zölle auf Importe aus der Ukraine für ein weiteres Jahr auszusetzen. Die EU-Staaten müssen noch formell über die Maßnahme abstimmen. EU-Länder wie Bulgarien, Ungarn, Polen, Rumänien und die Slowakei hatten auch die Zollbefreiung dafür verantwortlich gemacht, dass deutlich mehr Futter- und Lebensmittel in ihre Länder kämen.

Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte gestern außerdem dafür, einen Plan für deutlich mehr Munitionslieferungen an die Ukraine in einem Dringlichkeitsverfahren zu behandeln. So sollen bereits im Juni Verhandlungen zu den Details des Vorhabens mit den EU-Staaten aufgenommen werden können, teilte das Parlament mit. “Wir müssen die europäische Produktion von Munition hochfahren, die zur Unterstützung der Ukraine dringend benötigt wird”, sagte der CDU-Abgeordnete Christian Ehler.

Die EVP-Fraktion sprach sich gestern außerdem dafür aus, dass die Ukraine nach Kriegsende so schnell wie möglich in die Nato aufgenommen wird. Es sei im Interesse des Westens, der Ukraine so bald wie möglich die Nato-Mitgliedschaft zu gewähren, heißt es in einem am Abend angenommenen Positionspapier der Fraktion, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. dpa

  • Agrarpolitik
  • Nato
  • Verteidigungspolitik

Breite Mehrheit im EU-Parlament für Methan-Verordnung

Wie erwartet haben am gestrigen Dienstag eine breite Mehrheit der Europaabgeordneten für den von Jutta Paulus (Grüne) verhandelten Kompromiss zur Methan-Verordnung zugestimmt. Somit ist der Weg frei für den nach der Sommerpause geplanten Trilog.

Das Parlament stimmte mit 499 Ja-Stimmen, 73 Nein-Stimmen und 55 Enthaltungen für das erste europäische Gesetz zur Verringerung von Methanemissionen. Der Text beinhaltet folgende Punkte:

  • ein Verbot des routinemäßigen Ablassens und Abfackelns von Methan
  • Verpflichtungen zu Erkennung und Reparatur von Lecks an Pipelines und Ventilen
  • ein verbindliches Ziel für die Verringerung der Methanemissionen bis 2030
  • das neue Gesetz gilt auch für Importe von Gas, Öl und Kohle ab dem Jahr 2026

Ergebnis bis Jahresende

Im Vorfeld der Abstimmung wurden etwa zehn Änderungsanträge eingereicht. Obwohl sich die Mehrheit der Fraktionen verpflichtet hatte, keine Änderungsanträge einzureichen, reichten Abgeordnete von EVP und der rechtsextremen ID Anträge ein, um die Verpflichtung von Gas- und Ölunternehmen zur Überwachung und Reparatur von Methanlecks einzuschränken. Diese fanden keine Mehrheit, spiegelte jedoch die Ansicht einiger EU-Länder wider, schwächere Regeln anzustreben. “Es stehen noch schwierige Verhandlungen an”, sagte Paulus, gerade bei Vorgaben für landwirtschaftliche Tierbetriebe.

Seitens des Parlaments werden die Verhandlungen im Rahmen des Trilogs von Jutta Paulus (Grüne) geführt, Verhandlungsführerin für den Industrieausschuss ITRE, und von dem ENVI-Vorsitzenden Pascal Canfin (Renew). Canfin rückte nach, nachdem die ursprüngliche Co-Rapporteurin Silvia Sardone (ID) zurückgetreten war. Der Text solle bis zum Jahresende fertig ausgehandelt werden, sagte Paulus.

Das Treibhausgas Methan wirkt über einen Zeitraum von 20 Jahren 80 Mal stärker als Kohlendioxid und ist für rund ein Drittel der Erderhitzung verantwortlich. Auf die Energiewirtschaft entfallen 19 Prozent der Methanemissionen in der EU. Methan ist der Hauptbestandteil von Erdgas. cst

  • Energie
  • Europäisches Parlament
  • Klima & Umwelt
  • Methan-Verordnung

Tarabella nicht mehr in Hausarrest

Im Bestechungsskandal im Europäischen Parlament ist der Hausarrest gegen zwei Verdächtige aufgehoben worden. Der EU-Abgeordnete Marc Tarabella sowie Francesco Giorgi, der Lebensgefährte der ehemaligen Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Eva Kaili, dürften ihre elektronische Fußfessel ablegen, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft in Brüssel am Dienstag. Der Untersuchungsrichter habe entschieden, dass die Untersuchungshaft nicht mehr gerechtfertigt sei. Kaili sowie der mutmaßliche Drahtzieher der Affäre, Antonio Panzeri, blieben bis auf weiteres mit elektronischer Überwachung im Hausarrest.

In dem Ende vergangenen Jahres öffentlich gewordenen Bestechungsskandal geht es um mutmaßliche Einflussnahme auf Entscheidungen des EU-Parlaments durch die Regierungen von Katar und Marokko. Die Staatsanwaltschaft wirft den Beschuldigten Korruption, Geldwäsche und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor. In Italien steht wegen einer möglichen Verstrickung in den Bestechungsskandal zudem weiterhin der Europarlamentarier Andrea Cozzolino unter Hausarrest. dpa

  • Katar
  • Korruption
  • Marokko

China bekräftigt Ablehnung von Sanktionen

Chinas Außenminister Qin Gang hat bei einem Besuch in Berlin die Ablehnung der Volksrepublik von möglichen EU-Sanktionen gegen Drittstaaten wegen des Russland-Konflikts unterstrichen. Qin versicherte am Dienstag, dass China keine Waffen in Krisenregionen liefere und sich bei Dual-Use-Gütern an chinesische Gesetze halten werde. Es herrsche ein normaler Austausch zwischen chinesischen und russischen Unternehmen. Dieser Austausch dürfe nicht gestört werden. Vielmehr werde man sich strikt dagegen wehren, sollten die EU einseitige Sanktionen gegen China verhängen, so Qin. “Wir werden die legitimen Interessen unserer Unternehmen und unseres Landes verteidigen.”

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock wies hinsichtlich etwaiger EU-Sanktionen gegen chinesische Firmen darauf hin, dass die Beratungen noch andauerten. Mögliche Maßnahmen würden sich jedoch nicht gegen ein Land, sondern gegen die Weitergabe von militärischen und Dual-Use-Gütern richten. Hier erwarte man aber auch von China, dass es entsprechend auf seine Firmen einwirke. rad

  • China
  • China-Sanktionen
  • Sanktionen

EU-Botschafter in Peking kritisiert Borrell für Taiwan-Aussage

Der EU-Botschafter in China hat die Forderung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell nach Patrouillenfahrten europäischer Kriegsschiffe in der Taiwanstraße kritisiert. Diese Aussage sei “stark übertrieben” gewesen, sagte Jorge Toledo Albiñana am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Peking. Borrell hatte in einem Meinungsartikel in der französischen Sonntagszeitung “Journal du Dimanche” gefordert, dass europäische Marinen in der Meerenge patrouillieren sollten, da Taiwan die EU “wirtschaftlich, kommerziell und technologisch” betreffe. Der EU-Botschafter in China kritisierte damit direkt Aussagen seines Chefs aus Brüssel. Toledo Albiñana hatte in der Vergangenheit bereits selbst mit Aussagen zu Taiwan Aufsehen erregt.

Auf seiner Pressekonferenz begrüßte Toledo Albiñana zudem das Telefonat von Chinas Staatschef Xi Jinping mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: “Wir würden uns wünschen, dass China weiter geht und mehr dazu beiträgt, einen gerechten Frieden zu erreichen, der den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine beinhaltet.” Auch kritisierte er das neue Anti-Spionage-Gesetz als “keine gute Nachricht.” Das neue Gesetz sorgt für erhebliche Unruhe unter ausländischen Firmen in China. ari/rtr

Presseschau

“Unermüdlich und intensiv”: Von der Leyen lobt Kiews Bemühungen um EU-Beitritt N-TV
Rede im Europäischen Parlament: Scholz – EU soll keine dritte Supermacht neben USA und China werden PROSIEBEN
Baerbock: Chinas Firmen dürfen EU-Sanktionen nicht unterwandern SUEDDEUTSCHE
Chinas Außenminister warnt EU vor geplanten Strafmaßnahmen gegen Unternehmen STERN
Europa zwischen den Supermächten: “Während die EU das Formular sucht, baut China schon” N-TV
Turkey’s Top Election Challenger Pledges Closer Ties to NATO and EU WSJ
Munitionslieferungen: EU-Parlament stimmt für Dringlichkeitsverfahren ARIVA
Selenskyj drängt EU zu schnellen Munitionslieferungen WELT
EU-Parlament stimmt weiterer Zollfreiheit für ukrainische Waren zu HANDELSBLATT
Französische Abgeordnete wollen Wagner-Söldner auf Terrorliste der EU setzen lassen EURONEWS
Omid Nouripour: Schutz der EU-Außengrenzen ist richtig FAZ
Ampel vor EU-Vorschlag über neue Gentechnik gespalten EURACTIV
“Klimapolitik vom ländlichen Raum aus denken”: Kurswechsel bei EU-Agrarpolitik gefordert RP-ONLINE
India to push for carbon certificates mutual recognition with EU ECONOMICTIMES
EU-Korruptionsskandal: Verdächtige aus Hausarrest entlassen WESER-KURIER
EU und Frankreich: Wie viel Platz braucht das Europäische Parlament? SPIEGEL
EU-Straßenverkehrsrichtlinie: Zwischen “toller Erfolg” und “nicht geglückt” VERKEHRSRUNDSCHAU
EU-Kommission ermöglicht Moldau Förderung von Verkehrsprojekten PRESSE-AUGSBURG
Lufthansa: EU-Gericht entscheidet über Genehmigung von Staatshilfen SWP
Vor Abstimmung: EU-Abgeordnete geben KI-Gesetz den letzten Schliff EURACTIV
EU-Medienfreiheitsgesetz: Gummiparagraf gegen Staatstrojaner NETZPOLITIK
Europa vermehrt im Visier chinesischer und russischer Ausspähversuche ZDNET
Missbrauch von Spionagesoftwares in der EU: Parlament fordert strengere Auflagen EURONEWS
Water gaps: Where in Europe is most at risk of water shortages and what can be done about it? EURONEWS
Ungarische Universitäten klagen gegen EU-Sanktionen FORSCHUNG-UND-LEHRE

Standpunkt

Die europäische Stimmung ist stark, vergeudet sie nicht!

Von André Wilkens & Paweł Zerka
Paweł Zerka ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR) und Autor des European Sentiment Compass.

Die Europäer haben ihre Herausforderer eines Besseren belehrt. Seit Russlands Einmarsch in die Ukraine haben die europäischen Regierungen und Bürger ein erstaunliches Maß an Solidarität mit der Ukraine gezeigt – sowie Einigkeit in den eigenen Reihen.

Diese starke europäische Stimmung wird in den kommenden Monaten auf die Probe gestellt. Doch nicht nur russische Desinformation, steigende Lebenshaltungskosten und Bedenken zu Migration könnten sie untergraben. Die EU muss erkennen, dass ihre Reaktion auf Russlands Krieg einen erheblichen Einfluss haben wird auf die Haltung der Bürger in Europa und ihr Image im Ausland. Ihr Handeln wird die europäischen Werte und damit ihre Glaubwürdigkeit und Legitimität entweder bekräftigen oder untergraben. Die europäische Stimmung, also das Gefühl einen gemeinsamen Raum, eine gemeinsame Zukunft und gemeinsame Werte zu teilen, ist aktuell bemerkenswert stark.

Kein Platz für Deklinismus

Jüngsten Meinungsumfragen zufolge fühlt sich die europäische Öffentlichkeit stark mit Europa verbunden und ist optimistisch, was die Zukunft der EU angeht. Die Regierungen der meisten Mitgliedstaaten sind eindeutig pro-europäisch – mit der einzigen Ausnahme von Ungarn und gemischten Botschaften aus Polen und Bulgarien. Im vergangenen Jahr haben die Regierungen von vier Ländern (Dänemark, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik) wachsende Verbundenheit mit Europa gezeigt, während die Regierung in nur einem Land (Bulgarien) skeptischer gegenüber den Vorteilen des europäischen Projekts geworden ist. 

Der “European Sentiment Compass“, ein Projekt des European Council on Foreign Relations (ECFR) und der European Cultural Foundation (ECF), untersucht, wie Europa auf die Herausforderungen reagiert, die der russische Angriffskrieg für die europäischen Werte und die Kultur darstellt. Die Ergebnisse sollten die EU dazu ermutigen, die Art und Weise zu überdenken, wie sie über Europa sprechen.

Unterschätztes Risiko  

Auf die Frage, wie Europa ihnen helfen sollte, fordern ukrainische Beamte in der Regel die Lieferung von Waffen und Munition. Verständlicherweise wird davon ausgegangen, dass nur militärische Ausrüstung einen unmittelbaren Unterschied auf dem Schlachtfeld bewirkt. Doch je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto wichtiger wird es, dafür zu sorgen, dass die europäische Unterstützung akzeptabel bleibt für die Europäer und überzeugend für die Ukrainer. Dies erfordert ein starkes “europäisches Gefühl”, um einen Ausdruck von Robert Schuman zu verwenden, einem der Architekten der europäischen Integration nach 1945.  

Die EU und die Staats- und Regierungschefs sind sich der Risiken bewusst, die mit der russischen Desinformation und den wachsenden Sorgen der Europäer um die Lebenshaltungskosten und die Migration verbunden sind. Diese könnten in der Tat die europäische Stimmung und damit auch die europäische Unterstützung für die Ukraine stark beeinträchtigen. Es ist gut, dass die EU Maßnahmen ergreift, um diese Bedrohungen zu bekämpfen.  

Unterschätzt wird jedoch das Risiko, dass ihre Entscheidungen bezüglich der russischen Kultur, Medien und Bürger auch die europäische Stimmung untergraben könnten. In diesem Zusammenhang stehen die Staats- und Regierungschefs vor verschiedenen Dilemmas. Sollen sie die Präsenz der russischen Kultur als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine einschränken? Sollen sie gegen russische Medien in der EU vorgehen? Sollen sie ein Reiseverbot für alle russischen Bürger verhängen? Sollen sie die Russen als Kollektiv verantwortlich für den Krieg machen? Oder könnten sie russische und weißrussische Bürger und Kulturschaffende als Verbündete bei der Beendigung des Krieges und der Transformation dieser Länder zum Besseren betrachten? 

Kultur des Widerstands  

Die Art und Weise, wie die EU auf diese Dilemmas reagieren, kann ihr Image rechtfertigen oder widerlegen – sowohl in den Augen ihrer eigenen Bürger als auch in denen der übrigen Welt. Europa kann sich als vertrauenswürdig, friedlich und stark erweisen. Oder es kann auch Argumente für diejenigen liefern, die behaupten, es sei heuchlerisch, aggressiv und schwach. Um Letzteres zu vermeiden, muss die EU das Vertrauen in den Liberalismus und in ihre eigenen Bürger zurückgewinnen.

  1. Sie muss sie im Umgang mit der russischen Kultur in Europa sehr vorsichtig sein. Solange der Krieg andauert, sollte es in Europa keinen Platz für russische Künstler geben, die in irgendeiner Weise mit dem russischen Staat verbunden sind. Damit ist jedoch noch lange nicht gesagt, dass die gesamte russische Kultur auf Eis gelegt werden sollte – wie es einige in Kiew und in den hawkishen EU-Mitgliedstaaten vorschlagen.
  2. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten zeigen, dass sie ein Ort sind, an dem eine pluralistische Debatte stattfinden kann. Wenn man sich zu sehr auf das Verbot russischer Medien und die Verfolgung von Fake News konzentriert, gerät Europa in die Defensive. Anstatt sich nur über die russische Propaganda zu beschweren und zu Maßnahmen zu greifen, die wie Zensur wirken, sollte sich Europa darauf vorbereiten, den Kampf der Narrative aufzunehmen – und ihn zu gewinnen.
  3. Schließlich sollten die europäischen Staats- und Regierungschefs der Versuchung widerstehen, eine Schwarz-Weiß-Rhetorik zu verwenden – und stattdessen die Menschen als Verbündete sehen. Sie sollten anerkennen, dass nicht alle Russen die gleiche Verantwortung für den Krieg in der Ukraine tragen. Und dass die belarussischen Bürger nicht dasselbe sind wie Lukaschenkos Regime, das mit Putin kollaboriert. Tatsächlich könnten sich viele russische und belarussische Bürger als nützliche Verbündete erweisen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden.  

Viel steht auf dem Spiel  

Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur eine Herausforderung für die europäische Sicherheit. Er stellt auch das europäische Bekenntnis zu Offenheit, Vielfalt, Freiheit, Solidarität und Eigenverantwortung auf den Prüfstand. Auf dem Spiel steht nicht nur das Ansehen Europas in der Welt und bei den Europäern selbst. Es geht auch um die langfristige Einigkeit Europas und die kollektive Unterstützung der Ukraine.

Co-Autor André Wilkens ist der Direktor der europäischen Kulturstiftung (ECF) in Amsterdam.  

  • Europapolitik

Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Der Europatag ist Gelegenheit für große, symbolische Gesten und inspirierende, neue Impulse. Doch in Straßburg blieb Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Rede im Parlament gestern zögerlich und farblos. Hinter welchen Ideen aus dem Koalitionsvertrag der Ampel Scholz zurückblieb, lesen Sie in der Analyse von Markus Grabitz.

    Um das Dickicht von Details in der regulären Gesetzgebung geht es dagegen bei der morgigen Abstimmung des Parlaments zum AI Act. Es könnte Überraschungen geben, nicht alle Abgeordneten stehen hinter dem Kompromiss der Berichterstatter. Auch die Trilogverhandlungen werden nicht leicht. Meine Kollegin Corinna Visser zeigt die wichtigsten Konfliktlinien auf.

    In den News erkläre ich, warum der Vorstoß von Wirtschaftsminister Robert Habeck für einen Industriestrompreis vom neuesten Kompromissvorschlag der Ratspräsidentschaft zur Strommarktreform durchkreuzt werden könnte.

    Um Europas Identität geht es dann wieder im Standpunkt von André Wilkens & Paweł Zerka. Im Umgang mit russischen Bürgern und russischer Kultur müsse Europa seine pluralistische Kultur herausstellen und so sein Selbstbild und sein Image in der Welt bestätigen, schreiben die Autoren.

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    Manuel Berkel
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    Analyse

    Scholz erntet wenig Beifall für Rede im Europaparlament

    Kanzler Olaf Scholz spricht im Europaparlament.

    Olaf Scholz muss wohl gemerkt haben, wie enttäuscht viele Abgeordnete über seine Rede waren. Am Ende der anschließenden einstündigen Debatte, in der ihm parteiübergreifend Mut- und Initiativlosigkeit attestiert wurde, ergriff der Bundeskanzler noch einmal das Wort. Da wirkte er wie verwandelt. Während er bei seiner eigentlichen Rede Wort für Wort von seinem Manuskript abgelesen hatte, redete er jetzt frei und beinahe leidenschaftlich. Und erntete dafür auch mehr als Höflichkeitsapplaus, etwa als er mahnte, das Beitrittsversprechen an die Balkanländer nicht weiter auf die lange Bank zu schieben.

    Der Regierungschef eines der 27 Mitgliedstaaten bekommt nicht häufig die Gelegenheit, eine Grundsatzrede im Europaparlament zu halten. Doch Scholz verzichtete darauf, neue Akzente zur Weiterentwicklung der EU zu setzen. Als zentral für die Zukunft bezeichnete der Kanzler in seinem Beitrag die Aufnahme von Beitrittskandidaten wie der Westbalkanländer, der Ukraine und Moldau, und später womöglich Georgiens. Scholz leitet aus der Vergrößerung der EU “auf vielleicht 500 Millionen Bürger” die Notwendigkeit für innere Reformen ab.

    Bei den Details verwies Scholz auf die Reformvorschläge, die er bei seiner Prager Rede im August vorgelegt hatte. Er hob die Forderung hervor, in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie bei Steuern im Rat zunehmend zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen. Den “Skeptikern” wolle er zurufen: “Nicht die Einstimmigkeit, nicht 100 Prozent Zustimmung zu allen Entscheidungen schafft größtmögliche demokratische Legitimation. Im Gegenteil.”  

    Scholz für wirksamen Schutz der Außengrenzen

    Der SPD-Politiker wirbt für mehr Freihandelsabkommen und eine gemeinsame Asylpolitik. Dazu gehörten auch “Maßnahmen für einen wirksamen Außengrenzenschutz”. Den hatten auch die Mitgliedstaaten im Rat im Februar beschlossen. Überhaupt beschränkte sich Scholz eher darauf, die laufenden Initiativen von Parlament und Rat zu loben, als neue vorzuschlagen.

    Abgesehen vom Vorstoß für mehr Mehrheitsentscheidungen machte Scholz keine weiteren Vorschläge für institutionelle Reformen. Damit blieb er hinter dem Europakapitel im Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2021 zurück. Darin hatten sich SPD, Grüne und FDP ausgesprochen für:

    • einen Konvent für eine Änderung der Europäischen Verträge
    • ein Initiativrecht für das Europaparlament
    • Spitzenkandidaten und Transnationale Listen bei Europawahlen
    • die Weiterentwicklung der EU zu einem föderalen Bundesstaat
    • mehr Transparenz und schnellere Entscheidungen im Rat

    In seiner Rede in Straßburg tauchte das Wort eines Verfassungskonvents, den das Europaparlament fordert, nicht auf. Damit stachelte er auch den Zorn der Abgeordneten an. EVP-Fraktionschef Manfred Weber betonte: “Wir brauchen den Konvent”. Die EU brauche keine weiteren Grundsatzreden mehr, sondern Führung. Viele Initiativen der Bundesregierung seien entweder “zu spät oder zu zaghaft”, etwa die Lieferung von Panzern und Munition an die Ukraine oder der Beitrag zur Debatte um den Stabilitäts- und Wachstumspakt.

    Die Fraktionschefin der Grünen, Terry Reintke, sieht es ähnlich: Scholz sei doch angetreten mit dem Versprechen des Aufbruchs und dem Anspruch, Klimakanzler zu sein. “Das Bild des Kanzlers, der liefert, ist leider verblasst.” Und weiter: “Sie lassen laufen, statt sich klar zu positionieren”, sagte Reintke. Sie wünsche sich einen Kanzler, der kämpfe. Martin Schirdewan, Co-Chef der Fraktion der Linken, kritisierte: “Die Menschen sehnen sich angesichts der immer weiter anwachsenden sozialen Ungleichheit nach Antworten, die Sie in ihrer Rede aber nicht gegeben haben.”

    Nur die SPD lobt den Kanzler

    Nur die eigene S&D-Fraktion lobte den Kanzler in einer Debatte, die geprägt war von vielen Beiträgen deutscher Abgeordneter. Jens Geier, Chef der deutschen SPD-Abgeordneten, sagte, der Kanzler habe sich in “seiner reformfreudigen und zukunftsweisenden Rede für mehrere wichtige Weiterentwicklungen der EU starkgemacht”.

    Linn Selle, die Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD), hob hervor, dass sich der Kanzler für eine erweiterte und reformierte EU im Europäischen Rat einsetzen wolle. “Leider fehlte aber ein klares Bekenntnis für ein starkes Europaparlament mit einem Initiativrecht, einem verbindlichen Spitzenkandidatensystem und einem einheitlichen EU-Wahlrecht”. Dabei fänden sich alle diese Versprechen bereits im Koalitionsvertrag der Ampel.

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    AI Act: Der Kompromiss wackelt

    Am Donnerstagvormittag wird es spannend im Raum 200 des Churchill-Gebäudes des Europäischen Parlaments in Straßburg. Dann stimmen die Abgeordneten in den federführenden Ausschüssen – Binnenmarkt (IMCO) und Bürgerliche Freiheiten (LIBE) – über ihren Kompromissvorschlag zum AI Act ab. Eigentlich hatten sich die Schattenberichterstatter in den Verhandlungen darauf geeinigt, alle erzielten Kompromisse zu unterstützen.

    Die Abstimmungsliste ist lang

    Doch ob es so kommt, ist keineswegs gewiss, denn auf Druck der EVP werden einige Punkte nun doch separat von den eigentlichen Kompromisspaketen abgestimmt. Und selbst, wenn die Abstimmung in den Ausschüssen und dann im Plenum gelingt, stehen schwierige Verhandlungen mit dem Rat im Trilog bevor. Nicht zuletzt, weil dieser keine Regelung für Allzweck-KI wie ChatGPT getroffen hat.

    Allein im Parlament hatten die beiden Berichterstatter Brando Benifei (S&D) und Dragoş Tudorache (Renew) die enorme Zahl von 3312 Änderungsanträgen zu bearbeiten.

    In der Folge ist auch die (vorläufige) Abstimmungsliste für Donnerstag mit 351 Seiten ausgesprochen lang. Die Fraktionen hatten bis Dienstagabend Zeit, weitere Änderungswünsche einzureichen. Nach Informationen von Europe.Table hat es aber keine substanziellen Änderungen mehr gegeben.

    “Verbotene Praktiken” könnten zur Schlüsselfrage werden

    Ein Änderungswunsch der EVP hatte die Berichterstatter bereits zuvor veranlasst, das Kompromisspaket zu Artikel 5 wieder auseinanderzunehmen. So werden die Ausschussmitglieder über verschiedene “Verbotene Praktiken im Bereich der Künstlichen Intelligenz” separat abstimmen:

    • zum einen über verbotene Praktiken wie Social Scoring oder Predictive Policing (Kompromisspaket 11)
    • zum anderen über die Verwendung von biometrischen Fernidentifikationssystemen in öffentlich zugänglichen Räumen (im Kompromisspaket 11a). Dabei soll die Überwachung in Echtzeit gänzlich verboten und in der nachträglichen Auswertung unter Richtervorbehalt gestellt sein.

    Axel Voss, Schattenberichterstatter der EVP, sagte Europe.Table wiederholt, dass es seiner Fraktion daran gelegen sei, möglichst wenige Technologien zu verbieten. Der Gedanke dahinter: Sonst würden diese außerhalb der EU entwickelt. Allerdings steht die EVP in dieser Frage nicht geschlossen hinter ihrem Schattenberichterstatter: Es gibt es wohl einige Abgeordnete in der EVP-Fraktion, die diese Form der Massenüberwachung ablehnen.

    Die Liberalen sind in der Frage ebenfalls gespalten. Auch in der S&D gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Die Grünen/EFA lehnen die biometrische Fernerkennung in Echtzeit jedoch ganz klar ab. Für sie könnte das Thema biometrische Fernüberwachung gar zu einer Schlüsselfrage werden, die am Ende die Zustimmung zum gesamten Kompromisspapier gefährden kann.

    Die Chatkontrolle ist eine weitere Schlüsselfrage

    Bei der EVP ist die Schlüsselfrage eine andere, nämlich die Chatkontrolle. Svenja Hahn (Renew) hatte gefordert, den Einsatz von KI-basierten Technologien zur Überwachung privater Kommunikation im AI Act zu verbieten. Sie hatte auf diese Forderung aber verzichtet, da die Chatkontrolle auch an anderer Stelle diskutiert wird (etwa bei CSAM).

    Scheitert jedoch der Kompromissantrag 11a bei der Abstimmung, dann stimmen die Abgeordneten die eigentlich unter den Kompromiss fallenden Änderungsanträge separat ab. Dann stünde auch das Verbot zur Chatkontrolle plötzlich wieder zur Abstimmung und könnte eine Mehrheit finden. Die EVP will aber eine Regelung zur Chatkontrolle im AI Act unbedingt verhindern.

    Parlament hat Regeln für ChatGPT vorgelegt

    Die schwierige Konsenssuche im Parlament gibt einen ersten Eindruck davon, wie problematisch die Verhandlungen mit dem Rat im folgenden Trilog werden dürften. Denn nach den 3312 Änderungsanträgen und insgesamt zwölf Kompromisspaketen unterscheidet sich die Parlamentsposition nicht nur erheblich vom Vorschlag der Kommission, sondern auch von der generellen Ausrichtung, die der Rat im Dezember beschlossen hat.

    Exekutiv-Vizepräsidentin Margrethe Vestager sagte bei ihrem Besuch in Berlin am Montag, die Kommission habe den AI Act so konstruiert, dass er die Anwendungen reguliere und nicht die Technologien. Deswegen sei das Gesetz zukunftssicher.

    Dennoch ist es problematisch, Allzweck-KI wie große Sprachmodelle zu denen auch ChatGPT gehört, in das Gesetz zu integrieren. Denn sie sind ja definitionsgemäß für keinen bestimmten Anwendungszweck entwickelt und fallen demnach gar nicht in den Geltungsbereich.

    Die Parlamentsberichterstatter haben dennoch einen Weg gefunden, Allzweck KI in der Verordnung zu integrieren. Der Rat hatte darauf zunächst verzichtet. Angesichts der öffentlichen Diskussion über ChatGPT und ähnliche Modelle ist das nun unaufschiebbar. Die Diskussion über Allzweck-KI wie ChatGPT wird daher einer der großen Verhandlungspunkte mit dem Rat im Trilog sein.

    Biometrische Fernüberwachung als Streitthema im Trilog

    Weitere Reibungspunkte zwischen Rat und Parlament dürften sein:

    • Die Definition von KI: Sie bestimmt, was unter die Regulierung fällt und was nicht. Das Parlament hat lange gestritten. Die linke Seite befürwortete eine recht weitreichende Definition, die rechte Seite befürchtete, dass dann zu viele KI-Systeme unter die Regulierung fallen. Am Ende einigten sich die Verhandler auf einen Kompromiss, der enger gefasst ist als die Formulierung der Kommission. Er orientiert sich an der Definition der OECD und weicht nicht stark von der Ratsposition ab.
    • Die Klassifizierung: Welche KI-Systeme sind verboten und welche gelten als Hochrisiko-KI-Systeme? Hier geht es um die Systematik des Gesetzes. Rat und Parlament haben die Liste der Hochrisiko-Systeme (Anhang III) erweitert, fügen aber jeweils eine weitere Prüfebene ein. Die Liste verbotener Praktiken ist im Parlament länger als im Rat. Über den Einsatz biometrischer Fernerkennungssysteme wird es auch im Trilog zu harten Auseinandersetzungen kommen. Ebenso beim Einsatz von KI zur Strafverfolgung. Hier wollen die Mitgliedsländer mehr Freiheiten als das Parlament ihnen zubilligen will.
    • Die Umsetzung: Wer soll die Einhaltung der KI-Verordnung überwachen? Das ist besonders anspruchsvoll, da die Technologie sich entwickelt. Darum hatte die Kommission Anhänge vorgesehen, die sie leicht anpassen kann. Das Parlament hat ein europäisches AI Office vorgeschlagen. Doch die Mitgliedsländer im Rat müssen noch überzeugt werden, Kompetenzen abzugeben.

    Vestager sagte in Berlin, sie erwarte, dass die Trilog-Verhandlungen noch in diesem Jahr ihren Abschluss finden. Wie lange es dann dauern werde, bis das Gesetz zur Anwendung kommt, sei Gegenstand der Verhandlungen.

    • Digitalpolitik
    • Künstliche Intelligenz
    • Künstliche Intelligenz-Verordnung

    News

    Ratspräsidentschaft gegen Habecks Industrieplan

    Der Plan von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) für die langfristige Finanzierung von günstigem Industriestrom trifft auf Widerstand im Rat der EU. Das geht aus einer Vorlage der schwedischen Ratspräsidentschaft für das morgige Treffen der Arbeitsgruppe Energie hervor, die Table.Media vorliegt.

    Die Kommission hatte vorgeschlagen, in Zeiten hoher Strompreise Übergewinne von neuen Erzeugungsanlagen abzuschöpfen und die Einnahmen je nach Verbrauch gleichmäßig an alle Stromkunden zu verteilen. In einem Arbeitspapier zum Industriestrompreis hatte Habeck vergangene Woche jedoch angekündigt, das Wirtschaftsministerium werde sich dafür einsetzen, “dass die Mitgliedstaaten die Einnahmen […] gezielt an die im internationalen Wettbewerb stehende Industrie weitergeben können, damit die Einnahmen für einen wettbewerbsfähigen Strompreis ausreichen”.

    Virtuelle Hubs erst nach Folgenabschätzung

    Im neuen Textvorschlag der Ratspräsidentschaft heißt es nun aber, Unternehmen sollten höchstens so viele Rückflüsse aus zweiseitigen Differenzverträgen (CfDs) erhalten, wie es ihrem gesamten Anteil am Stromverbrauch entspricht. Zudem müssten alle Unternehmen pro Kilowattstunde die gleiche Rückvergütung erhalten. Laut dem Verband BDEW hatten Haushalte 2022 einen Anteil von 27 Prozent am Stromverbrauch, bei der Industrie waren es 44 Prozent und bei Gewerbe, Handel, Dienstleistungen 26 Prozent.

    Die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, direkte Preisstützungssysteme für erneuerbare Energien auf zweiseitige CfDs umzustellen, soll nach der Ratsvorlage außerdem erst nach einem Zeitraum von einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes gelten, um den Vertrauensschutz zu wahren.

    Der Rat will außerdem die Einführung von Virtuellen Hubs für die Terminmärkte auf eine solidere Grundlage stellen. Mit den virtuellen Handelspunkten will die Kommission den Stromhandel zwischen den Gebotszonen ankurbeln, die sich häufig immer noch mit den Grenzen der Mitgliedstaaten decken. Das Design der Hubs wollte sie ACER übertragen. Die Mitgliedstaaten wollen aber, dass die Kommission die Ausgestaltung innerhalb von zwei Jahren mit einem Durchführungsrechtsakt selbst regelt und zunächst eine Folgenabschätzung durchführt. ber

    • Industriepolitik
    • Strommarkt
    • Strompreis

    Ukraine: Von der Leyen würdigt Reformen

    Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat der Ukraine bei ihrem Besuch in Kiew am Dienstag tiefen Respekt für die Bemühungen um einen schnellen EU-Beitritt gezollt. Das Land arbeite “unermüdlich und intensiv” daran, die Voraussetzungen für den Start von Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. Und dies trotz der Schwierigkeiten, Reformen in einem blutigen Krieg durchzuführen.

    Eine erste Bewertung der aktuellen Reformanstrengungen der Ukraine wird die EU-Kommission nach den Angaben von der Leyens im Juni mündlich an den Rat übermitteln. Im Oktober soll es einen schriftlichen Bericht geben, auf Grundlage dessen eine Entscheidung über den Start von Beitrittsverhandlungen getroffen werden soll. Die Ukraine ist seit vergangenem Sommer Beitrittskandidat.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nutzte den Besuch von der Leyens für Kritik an Einfuhrbeschränkungen für Agrarprodukte in fünf EU-Staaten. “Jegliche Beschränkungen unseres Exports sind jetzt absolut unzulässig”, sagte er bei einer Pressekonferenz.

    EVP will schnelle Nato-Mitgliedschaft

    Unterdessen stimmte das EU-Parlament am Dienstag dafür, die Zölle auf Importe aus der Ukraine für ein weiteres Jahr auszusetzen. Die EU-Staaten müssen noch formell über die Maßnahme abstimmen. EU-Länder wie Bulgarien, Ungarn, Polen, Rumänien und die Slowakei hatten auch die Zollbefreiung dafür verantwortlich gemacht, dass deutlich mehr Futter- und Lebensmittel in ihre Länder kämen.

    Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte gestern außerdem dafür, einen Plan für deutlich mehr Munitionslieferungen an die Ukraine in einem Dringlichkeitsverfahren zu behandeln. So sollen bereits im Juni Verhandlungen zu den Details des Vorhabens mit den EU-Staaten aufgenommen werden können, teilte das Parlament mit. “Wir müssen die europäische Produktion von Munition hochfahren, die zur Unterstützung der Ukraine dringend benötigt wird”, sagte der CDU-Abgeordnete Christian Ehler.

    Die EVP-Fraktion sprach sich gestern außerdem dafür aus, dass die Ukraine nach Kriegsende so schnell wie möglich in die Nato aufgenommen wird. Es sei im Interesse des Westens, der Ukraine so bald wie möglich die Nato-Mitgliedschaft zu gewähren, heißt es in einem am Abend angenommenen Positionspapier der Fraktion, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. dpa

    • Agrarpolitik
    • Nato
    • Verteidigungspolitik

    Breite Mehrheit im EU-Parlament für Methan-Verordnung

    Wie erwartet haben am gestrigen Dienstag eine breite Mehrheit der Europaabgeordneten für den von Jutta Paulus (Grüne) verhandelten Kompromiss zur Methan-Verordnung zugestimmt. Somit ist der Weg frei für den nach der Sommerpause geplanten Trilog.

    Das Parlament stimmte mit 499 Ja-Stimmen, 73 Nein-Stimmen und 55 Enthaltungen für das erste europäische Gesetz zur Verringerung von Methanemissionen. Der Text beinhaltet folgende Punkte:

    • ein Verbot des routinemäßigen Ablassens und Abfackelns von Methan
    • Verpflichtungen zu Erkennung und Reparatur von Lecks an Pipelines und Ventilen
    • ein verbindliches Ziel für die Verringerung der Methanemissionen bis 2030
    • das neue Gesetz gilt auch für Importe von Gas, Öl und Kohle ab dem Jahr 2026

    Ergebnis bis Jahresende

    Im Vorfeld der Abstimmung wurden etwa zehn Änderungsanträge eingereicht. Obwohl sich die Mehrheit der Fraktionen verpflichtet hatte, keine Änderungsanträge einzureichen, reichten Abgeordnete von EVP und der rechtsextremen ID Anträge ein, um die Verpflichtung von Gas- und Ölunternehmen zur Überwachung und Reparatur von Methanlecks einzuschränken. Diese fanden keine Mehrheit, spiegelte jedoch die Ansicht einiger EU-Länder wider, schwächere Regeln anzustreben. “Es stehen noch schwierige Verhandlungen an”, sagte Paulus, gerade bei Vorgaben für landwirtschaftliche Tierbetriebe.

    Seitens des Parlaments werden die Verhandlungen im Rahmen des Trilogs von Jutta Paulus (Grüne) geführt, Verhandlungsführerin für den Industrieausschuss ITRE, und von dem ENVI-Vorsitzenden Pascal Canfin (Renew). Canfin rückte nach, nachdem die ursprüngliche Co-Rapporteurin Silvia Sardone (ID) zurückgetreten war. Der Text solle bis zum Jahresende fertig ausgehandelt werden, sagte Paulus.

    Das Treibhausgas Methan wirkt über einen Zeitraum von 20 Jahren 80 Mal stärker als Kohlendioxid und ist für rund ein Drittel der Erderhitzung verantwortlich. Auf die Energiewirtschaft entfallen 19 Prozent der Methanemissionen in der EU. Methan ist der Hauptbestandteil von Erdgas. cst

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    Tarabella nicht mehr in Hausarrest

    Im Bestechungsskandal im Europäischen Parlament ist der Hausarrest gegen zwei Verdächtige aufgehoben worden. Der EU-Abgeordnete Marc Tarabella sowie Francesco Giorgi, der Lebensgefährte der ehemaligen Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Eva Kaili, dürften ihre elektronische Fußfessel ablegen, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft in Brüssel am Dienstag. Der Untersuchungsrichter habe entschieden, dass die Untersuchungshaft nicht mehr gerechtfertigt sei. Kaili sowie der mutmaßliche Drahtzieher der Affäre, Antonio Panzeri, blieben bis auf weiteres mit elektronischer Überwachung im Hausarrest.

    In dem Ende vergangenen Jahres öffentlich gewordenen Bestechungsskandal geht es um mutmaßliche Einflussnahme auf Entscheidungen des EU-Parlaments durch die Regierungen von Katar und Marokko. Die Staatsanwaltschaft wirft den Beschuldigten Korruption, Geldwäsche und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor. In Italien steht wegen einer möglichen Verstrickung in den Bestechungsskandal zudem weiterhin der Europarlamentarier Andrea Cozzolino unter Hausarrest. dpa

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    China bekräftigt Ablehnung von Sanktionen

    Chinas Außenminister Qin Gang hat bei einem Besuch in Berlin die Ablehnung der Volksrepublik von möglichen EU-Sanktionen gegen Drittstaaten wegen des Russland-Konflikts unterstrichen. Qin versicherte am Dienstag, dass China keine Waffen in Krisenregionen liefere und sich bei Dual-Use-Gütern an chinesische Gesetze halten werde. Es herrsche ein normaler Austausch zwischen chinesischen und russischen Unternehmen. Dieser Austausch dürfe nicht gestört werden. Vielmehr werde man sich strikt dagegen wehren, sollten die EU einseitige Sanktionen gegen China verhängen, so Qin. “Wir werden die legitimen Interessen unserer Unternehmen und unseres Landes verteidigen.”

    Bundesaußenministerin Annalena Baerbock wies hinsichtlich etwaiger EU-Sanktionen gegen chinesische Firmen darauf hin, dass die Beratungen noch andauerten. Mögliche Maßnahmen würden sich jedoch nicht gegen ein Land, sondern gegen die Weitergabe von militärischen und Dual-Use-Gütern richten. Hier erwarte man aber auch von China, dass es entsprechend auf seine Firmen einwirke. rad

    • China
    • China-Sanktionen
    • Sanktionen

    EU-Botschafter in Peking kritisiert Borrell für Taiwan-Aussage

    Der EU-Botschafter in China hat die Forderung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell nach Patrouillenfahrten europäischer Kriegsschiffe in der Taiwanstraße kritisiert. Diese Aussage sei “stark übertrieben” gewesen, sagte Jorge Toledo Albiñana am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Peking. Borrell hatte in einem Meinungsartikel in der französischen Sonntagszeitung “Journal du Dimanche” gefordert, dass europäische Marinen in der Meerenge patrouillieren sollten, da Taiwan die EU “wirtschaftlich, kommerziell und technologisch” betreffe. Der EU-Botschafter in China kritisierte damit direkt Aussagen seines Chefs aus Brüssel. Toledo Albiñana hatte in der Vergangenheit bereits selbst mit Aussagen zu Taiwan Aufsehen erregt.

    Auf seiner Pressekonferenz begrüßte Toledo Albiñana zudem das Telefonat von Chinas Staatschef Xi Jinping mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: “Wir würden uns wünschen, dass China weiter geht und mehr dazu beiträgt, einen gerechten Frieden zu erreichen, der den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine beinhaltet.” Auch kritisierte er das neue Anti-Spionage-Gesetz als “keine gute Nachricht.” Das neue Gesetz sorgt für erhebliche Unruhe unter ausländischen Firmen in China. ari/rtr

    Presseschau

    “Unermüdlich und intensiv”: Von der Leyen lobt Kiews Bemühungen um EU-Beitritt N-TV
    Rede im Europäischen Parlament: Scholz – EU soll keine dritte Supermacht neben USA und China werden PROSIEBEN
    Baerbock: Chinas Firmen dürfen EU-Sanktionen nicht unterwandern SUEDDEUTSCHE
    Chinas Außenminister warnt EU vor geplanten Strafmaßnahmen gegen Unternehmen STERN
    Europa zwischen den Supermächten: “Während die EU das Formular sucht, baut China schon” N-TV
    Turkey’s Top Election Challenger Pledges Closer Ties to NATO and EU WSJ
    Munitionslieferungen: EU-Parlament stimmt für Dringlichkeitsverfahren ARIVA
    Selenskyj drängt EU zu schnellen Munitionslieferungen WELT
    EU-Parlament stimmt weiterer Zollfreiheit für ukrainische Waren zu HANDELSBLATT
    Französische Abgeordnete wollen Wagner-Söldner auf Terrorliste der EU setzen lassen EURONEWS
    Omid Nouripour: Schutz der EU-Außengrenzen ist richtig FAZ
    Ampel vor EU-Vorschlag über neue Gentechnik gespalten EURACTIV
    “Klimapolitik vom ländlichen Raum aus denken”: Kurswechsel bei EU-Agrarpolitik gefordert RP-ONLINE
    India to push for carbon certificates mutual recognition with EU ECONOMICTIMES
    EU-Korruptionsskandal: Verdächtige aus Hausarrest entlassen WESER-KURIER
    EU und Frankreich: Wie viel Platz braucht das Europäische Parlament? SPIEGEL
    EU-Straßenverkehrsrichtlinie: Zwischen “toller Erfolg” und “nicht geglückt” VERKEHRSRUNDSCHAU
    EU-Kommission ermöglicht Moldau Förderung von Verkehrsprojekten PRESSE-AUGSBURG
    Lufthansa: EU-Gericht entscheidet über Genehmigung von Staatshilfen SWP
    Vor Abstimmung: EU-Abgeordnete geben KI-Gesetz den letzten Schliff EURACTIV
    EU-Medienfreiheitsgesetz: Gummiparagraf gegen Staatstrojaner NETZPOLITIK
    Europa vermehrt im Visier chinesischer und russischer Ausspähversuche ZDNET
    Missbrauch von Spionagesoftwares in der EU: Parlament fordert strengere Auflagen EURONEWS
    Water gaps: Where in Europe is most at risk of water shortages and what can be done about it? EURONEWS
    Ungarische Universitäten klagen gegen EU-Sanktionen FORSCHUNG-UND-LEHRE

    Standpunkt

    Die europäische Stimmung ist stark, vergeudet sie nicht!

    Von André Wilkens & Paweł Zerka
    Paweł Zerka ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR) und Autor des European Sentiment Compass.

    Die Europäer haben ihre Herausforderer eines Besseren belehrt. Seit Russlands Einmarsch in die Ukraine haben die europäischen Regierungen und Bürger ein erstaunliches Maß an Solidarität mit der Ukraine gezeigt – sowie Einigkeit in den eigenen Reihen.

    Diese starke europäische Stimmung wird in den kommenden Monaten auf die Probe gestellt. Doch nicht nur russische Desinformation, steigende Lebenshaltungskosten und Bedenken zu Migration könnten sie untergraben. Die EU muss erkennen, dass ihre Reaktion auf Russlands Krieg einen erheblichen Einfluss haben wird auf die Haltung der Bürger in Europa und ihr Image im Ausland. Ihr Handeln wird die europäischen Werte und damit ihre Glaubwürdigkeit und Legitimität entweder bekräftigen oder untergraben. Die europäische Stimmung, also das Gefühl einen gemeinsamen Raum, eine gemeinsame Zukunft und gemeinsame Werte zu teilen, ist aktuell bemerkenswert stark.

    Kein Platz für Deklinismus

    Jüngsten Meinungsumfragen zufolge fühlt sich die europäische Öffentlichkeit stark mit Europa verbunden und ist optimistisch, was die Zukunft der EU angeht. Die Regierungen der meisten Mitgliedstaaten sind eindeutig pro-europäisch – mit der einzigen Ausnahme von Ungarn und gemischten Botschaften aus Polen und Bulgarien. Im vergangenen Jahr haben die Regierungen von vier Ländern (Dänemark, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik) wachsende Verbundenheit mit Europa gezeigt, während die Regierung in nur einem Land (Bulgarien) skeptischer gegenüber den Vorteilen des europäischen Projekts geworden ist. 

    Der “European Sentiment Compass“, ein Projekt des European Council on Foreign Relations (ECFR) und der European Cultural Foundation (ECF), untersucht, wie Europa auf die Herausforderungen reagiert, die der russische Angriffskrieg für die europäischen Werte und die Kultur darstellt. Die Ergebnisse sollten die EU dazu ermutigen, die Art und Weise zu überdenken, wie sie über Europa sprechen.

    Unterschätztes Risiko  

    Auf die Frage, wie Europa ihnen helfen sollte, fordern ukrainische Beamte in der Regel die Lieferung von Waffen und Munition. Verständlicherweise wird davon ausgegangen, dass nur militärische Ausrüstung einen unmittelbaren Unterschied auf dem Schlachtfeld bewirkt. Doch je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto wichtiger wird es, dafür zu sorgen, dass die europäische Unterstützung akzeptabel bleibt für die Europäer und überzeugend für die Ukrainer. Dies erfordert ein starkes “europäisches Gefühl”, um einen Ausdruck von Robert Schuman zu verwenden, einem der Architekten der europäischen Integration nach 1945.  

    Die EU und die Staats- und Regierungschefs sind sich der Risiken bewusst, die mit der russischen Desinformation und den wachsenden Sorgen der Europäer um die Lebenshaltungskosten und die Migration verbunden sind. Diese könnten in der Tat die europäische Stimmung und damit auch die europäische Unterstützung für die Ukraine stark beeinträchtigen. Es ist gut, dass die EU Maßnahmen ergreift, um diese Bedrohungen zu bekämpfen.  

    Unterschätzt wird jedoch das Risiko, dass ihre Entscheidungen bezüglich der russischen Kultur, Medien und Bürger auch die europäische Stimmung untergraben könnten. In diesem Zusammenhang stehen die Staats- und Regierungschefs vor verschiedenen Dilemmas. Sollen sie die Präsenz der russischen Kultur als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine einschränken? Sollen sie gegen russische Medien in der EU vorgehen? Sollen sie ein Reiseverbot für alle russischen Bürger verhängen? Sollen sie die Russen als Kollektiv verantwortlich für den Krieg machen? Oder könnten sie russische und weißrussische Bürger und Kulturschaffende als Verbündete bei der Beendigung des Krieges und der Transformation dieser Länder zum Besseren betrachten? 

    Kultur des Widerstands  

    Die Art und Weise, wie die EU auf diese Dilemmas reagieren, kann ihr Image rechtfertigen oder widerlegen – sowohl in den Augen ihrer eigenen Bürger als auch in denen der übrigen Welt. Europa kann sich als vertrauenswürdig, friedlich und stark erweisen. Oder es kann auch Argumente für diejenigen liefern, die behaupten, es sei heuchlerisch, aggressiv und schwach. Um Letzteres zu vermeiden, muss die EU das Vertrauen in den Liberalismus und in ihre eigenen Bürger zurückgewinnen.

    1. Sie muss sie im Umgang mit der russischen Kultur in Europa sehr vorsichtig sein. Solange der Krieg andauert, sollte es in Europa keinen Platz für russische Künstler geben, die in irgendeiner Weise mit dem russischen Staat verbunden sind. Damit ist jedoch noch lange nicht gesagt, dass die gesamte russische Kultur auf Eis gelegt werden sollte – wie es einige in Kiew und in den hawkishen EU-Mitgliedstaaten vorschlagen.
    2. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten zeigen, dass sie ein Ort sind, an dem eine pluralistische Debatte stattfinden kann. Wenn man sich zu sehr auf das Verbot russischer Medien und die Verfolgung von Fake News konzentriert, gerät Europa in die Defensive. Anstatt sich nur über die russische Propaganda zu beschweren und zu Maßnahmen zu greifen, die wie Zensur wirken, sollte sich Europa darauf vorbereiten, den Kampf der Narrative aufzunehmen – und ihn zu gewinnen.
    3. Schließlich sollten die europäischen Staats- und Regierungschefs der Versuchung widerstehen, eine Schwarz-Weiß-Rhetorik zu verwenden – und stattdessen die Menschen als Verbündete sehen. Sie sollten anerkennen, dass nicht alle Russen die gleiche Verantwortung für den Krieg in der Ukraine tragen. Und dass die belarussischen Bürger nicht dasselbe sind wie Lukaschenkos Regime, das mit Putin kollaboriert. Tatsächlich könnten sich viele russische und belarussische Bürger als nützliche Verbündete erweisen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden.  

    Viel steht auf dem Spiel  

    Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur eine Herausforderung für die europäische Sicherheit. Er stellt auch das europäische Bekenntnis zu Offenheit, Vielfalt, Freiheit, Solidarität und Eigenverantwortung auf den Prüfstand. Auf dem Spiel steht nicht nur das Ansehen Europas in der Welt und bei den Europäern selbst. Es geht auch um die langfristige Einigkeit Europas und die kollektive Unterstützung der Ukraine.

    Co-Autor André Wilkens ist der Direktor der europäischen Kulturstiftung (ECF) in Amsterdam.  

    • Europapolitik

    Europe.Table Redaktion

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