Heizungsgesetz, Unternehmenssteuern, Kindergrundsicherung – die Ampel-Parteien zerstreiten sich inzwischen bei nahezu jeder Gelegenheit. BDI-Präsident Siegfried Russwurm betrachtet das Treiben mit Sorge: “Die Demokraten sollten sich zu einem Minimalkonsens zusammenfinden und aufhören mit den Sandkastenspielchen”, fordert er im Interview mit Table.Media. Das Verhalten der Koalitionäre sei “kindisch”.
In Brüssel wie in Berlin sieht Russwurm ein wachsendes Misstrauen gegenüber der Wirtschaft: Immer mehr Unternehmer fragten sich: “Hält mich die Politik eigentlich vom Grundsatz her für einen Missetäter, den man auf Schritt und Tritt überwachen muss?” Als Beispiel nennt er das geplante EU-Lieferkettengesetz: Dies drohe, “völlig ungeeignet zu werden”. Der frühere Siemens-Vorstand bezweifelt zudem, dass Berichtspflichten im großen Stil abgebaut werden, wie es Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Aussicht gestellt hat.
Auch von der Leyens industriepolitische Initiativen wie den Net-Zero Industry Act sieht Russwurm kritisch. Die Diskussion um strategische Souveränität sei viel zu unkonkret: “Wir sollten sagen, welche Technologien wir in Europa haben wollen und wie umfänglich”, fordert er, “dann können wir als Industrievertreter konkrete Preisschilder dahinter setzen und ermitteln, was das kostet.” Mittelständler verlören sich zudem im Dickicht der unterschiedlichen EU-Fördertöpfe.
Ich wünsche Ihnen eine hoffentlich erhellende Lektüre und ein schönes Wochenende. Kommende Woche nimmt dann auch der Politbetrieb in Brüssel wieder Fahrt auf.
Herr Russwurm, das Wort vom kranken Mann Europas macht wieder die Runde. Wie krank ist Deutschland?
Krank ist ein großes Wort. Aber besonders leistungsfähig ist dieser Sportler, der im globalen Wettbewerb steht, momentan nicht. Teilweise wegen seines Lebenswandels, teilweise wegen ein paar Randbedingungen, die man nur schwer beeinflussen kann. Aber teilweise auch wegen Einschränkungen, die selbst gemacht sind. Um beim Sportler zu bleiben: Auch Kleidung und Ausrüstung des Athleten Deutschland sind alles andere als zweckmäßig.
Politiker bis hinauf zum Kanzler sprechen unentwegt davon, dass Bürokratie abgebaut werden müsse. Passiert dennoch zu wenig?
Es wird immer mal ein Anlauf genommen und an einzelnen Stellen etwas gemacht. Aber die Grundrichtung bleibt: immer mehr Abfragen, Melde- und Dokumentationspflichten. Das wird schlimmer, nicht besser. Ich glaube, dass ein paar sehr fundamentale Fragen gestellt werden müssten. Föderalismus ist gut und schön und in vielem ein sehr richtiges Organisationsprinzip. Aber dass ein Schwertransporter auf dem Weg von Emden nach Niederbayern an jeder Landesgrenze eine neue Genehmigung braucht, ist absurd. Das ist Kleinstaaterei, die zum Himmel schreit. Und solche Beispiele gibt es viele. Die Antwort darauf muss heißen: Wir müssen an die Strukturen ran.
Hat die Politik es trotz aller schönen Worte nicht verstanden?
Doch. Es gibt kein Erkenntnisdefizit; aber der Mut zum Aufbrechen von überholten Regeln bleibt auf der Strecke. Zurück zum Beispiel der Schwertransporte: Warum nicht eine durchgängige Genehmigung für den gesamten Weg?
Sollten EU und Bundesregierung mehr Geld in die Hand nehmen, wie die USA nach dem Vorbild des Inflation Reduction Act?
Wenn ich alle Programme zusammennehme, die die EU aufgelegt hat, sind wir bei einer vergleichbaren Größenordnung. Es ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern der unbürokratischen Organisation. Beim IRA kann ich sehr leicht ausrechnen, was ich als Unternehmen für eine Förderung bekomme und mich darauf verlassen, dass es auch schnell geht. In Brüssel steht man dagegen einem Dickicht unterschiedlicher Programme, Fördertöpfe und Antragsbedingungen gegenüber. Als Großkonzern mit eigener Dependance in Brüssel kann man sich da vielleicht durchnavigieren. Für Mittelständler ist das völlig unmöglich. Dem steht gegenüber, dass ein Unternehmer, der in die USA kommt und dort mit dem local congressman redet, mit offenen Armen empfangen wird: “Schön, dass Sie da sind, wie kann ich Ihnen helfen?” Zwischen beiden Vorgehensweisen liegen Welten.
Die EU tut sich schwer damit, die gewachsenen Förderstrukturen über Bord zu werfen.
Aber weniger schwer ist es zu verstehen, wo die Unterschiede liegen. Wenn wir ein bisschen holzschnittartig draufschauen, dann haben sich die USA entschieden, grüne Energie billiger zu machen. Wir in Europa haben entschieden, fossile Energie teurer zu machen, um die Motivation hin zu grün zu schaffen. Der Impuls mag derselbe sein. Aber im internationalen Wettbewerb ist in den USA Energie billiger geworden und bei uns teurer. Das ist einen Riesenunterschied in seiner Wirkung auf Unternehmen und die Wettbewerbsfähigkeit des jeweiligen Standorts.
Derzeit wird viel vor einer drohenden Abwanderung von Unternehmen gewarnt, ja sogar vor einer Deindustrialisierung. Wie groß ist die Gefahr tatsächlich?
Wir versuchen, das durch Umfragen zu quantifizieren, die wir bei mittelständischen Unternehmen machen. Daraus wissen wir, dass 30 Prozent ernsthafte Planungen für verstärkte Auslandsinvestitionen begonnen haben und 16 Prozent schon konkreter mit der Umsetzung befasst sind. Meine dringende Aufforderung an das Bundeswirtschaftsministerium ist: Lasst uns Indikatoren für das Investitionsverhalten der Unternehmen finden, damit wir zu verlässlichen Daten kommen. Der bisherige Indikator für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die Arbeitslosenquote, funktioniert demografiebedingt nicht mehr – auch im Konjunkturtief gibt es Fachkräftemangel. Deshalb plädieren wir für einen Investitionsindikator. So wie wir früher jeden Monat an den offiziellen Daten zur Arbeitslosenstatistik den Puls der Wirtschaft messen konnten, sollten wir heute regelmäßig offizielle Daten zum Investitionsverhalten erheben und könnten dann daraus adäquate Schlüsse ziehen.
Der Frust wächst, in den Betrieben, man kann es auch an den Umfragezahlen für die AfD ablesen. Wie sehr besorgt Sie das?
Für mich sind das zwei unterschiedliche Baustellen. Das eine ist die AfD; das andere die Frage: Gerät da etwas ins Rutschen. Ich würde das zunächst nicht parteipolitisch fassen. Aber es gibt ein wachsendes Misstrauen in Politik und Staat, verbunden mit der Frage: Kennen die eigentlich noch unser reales Leben? Oder herrscht eine Flughöhe, die mit unserer Realität nichts mehr zu tun hat? Das heißt aber nicht, alle, die mit der Situation hadern, wählen diese oder jene Partei. So einfach ist die Welt nicht.
Was heißt es dann?
Immer mehr Unternehmer fragen sich: Hält mich die Politik eigentlich vom Grundsatz her für einen Missetäter, den man auf Schritt und Tritt überwachen und ihm vorschreiben muss, was er tun soll, muss oder nicht darf? Oder akzeptiert die Politik, dass ich einen vernünftigen eigenen ethischen Kompass habe, motiviert bin, einen guten Job zu machen, dabei durchaus auch Verantwortung für andere übernehme und ein Verständnis dafür habe, was ich meinen Kindern und meinen Enkeln an Umwelt hinterlasse? Da gerät tatsächlich etwas ins Rutschen. Besonders gilt das für diejenigen, die nicht die Option haben, im Zweifel in ein anderes Land zu gehen und gerade deshalb hier so wichtig sind; die ihre Arbeit lieben, aber jedes Wochenende gezwungen sind, Berichte abzuliefern, Anträge auszufüllen, mit Papierkram überhäuft werden und händeringend Arbeitskräfte suchen. Das ist es, was viele an den Rand der Verzweiflung bringt.
Hat die Politik in Berlin das verstanden?
Ich glaube, es kommt dort zunehmend an. Ich erlebe aber eine große Ratlosigkeit. Viele Politiker fragen sich, was sie wirklich substanziell tun könnten, ohne sich wieder im Kleinklein der Einzelmaßnahmen zu verlieren.
Und in Brüssel, kommt Ihre Botschaft dort an?
Wohl weniger. Wahrscheinlich liegt es daran, dass deutsche Politiker öfter und länger in ihren Wahlkreisen unterwegs sind und mit der Realität konfrontiert werden. Das komplexe Institutionen- und Kompromissgefüge von Kommission, Rat und Europaparlament in Brüssel neigt zu einem Eigenleben entfernt von der Alltagswelt der Bürger.
Wächst die EU-Verdrossenheit in der Unternehmerschaft?
Nein, das sehe ich nicht. Unternehmerinnen und Unternehmer sind sich der Tatsache bewusst, wie wichtig die Europäische Union für unseren wirtschaftlichen Erfolg ist. Aber die Erwartung ist auch, dass ein Land wie Deutschland wegen seiner Größe, aber auch wegen seines wirtschaftlichen Gewichts einen gewissen Einfluss in Brüssel haben sollte. Ich spreche im Konjunktiv, weil man sich in der Ampel und auch schon unter Vorgängerkonstellationen oft nicht einig war, und sich Deutschland deshalb im Rat immer wieder enthält, also selbst neutralisiert.
Das sprichwörtliche German Vote…
Nehmen wir das Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz. Wir haben ein in Deutschland gültiges Gesetz, und Frankreich hat ein vergleichbares. Als Europäer mit deutschem Pass frage ich mich: Wenn sich Deutschland und Frankreich einig sind, warum können die vorhandenen Gesetze nicht als Grundlage für eine EU-weite Regelung dienen? Stattdessen wird in Brüssel über die Corporate Sustainability Due Diligence Directive beraten, die völlig ungeeignet zu werden droht.
Von der Leyen hat als Trostpflaster angekündigt, ein Viertel der Berichtspflichten für Unternehmen kürzen zu wollen.
Na ja, es wird vermutlich einige anekdotische Beispiele geben. Aber ich bezweifele, dass die Kommission fundamental etwas ändert, solange wir gleichzeitig über ein Komplettverbot von Tausenden verschiedener Materialien der PFAS-Gruppe diskutieren.
Das neue Mantra in Brüssel ist “europäische Souveränität”. Was bedeutet das für die international aufgestellte deutsche Industrie?
Was mir in der Diskussion um strategische Souveränität fehlt, ist ein Gesamtbild mit konkreten Zielen und Zahlen. Wir sollten sagen, welche Technologien wir in Europa haben wollen und wie umfänglich. Dann können wir als Industrievertreter konkrete Preisschilder dahinter setzen und ermitteln, was das kostet. Und auf der Basis muss die Politik im Dialog mit uns klären, wie das finanzierbar ist. Nehmen wir das Beispiel Chipindustrie: Wenn es das angestrebte Ziel ist, in der EU Halbleiter von weniger als zehn Nanometer Gitterweite produzieren zu wollen und wir dabei im Wettbewerb mit Subventionen anderer Länder stehen, dann muss man sich darauf einlassen und Ansiedelungen mit Milliardenbeträgen unterstützen. Sonst gehen wir leer aus.
Es gibt schüchterne Ansätze wie den Net-Zero Industry Act, in dem klimafreundliche Technologien definiert und gefördert werden.
Ich würde einen konkreteren Ansatz bevorzugen. Wird eine europäische Solarindustrie als strategisches Ziel ausgegeben, also definiert, x Prozent unserer Solarmodule wollen wir hier produzieren, dann muss man klären: Was muss dafür alles passieren? Wir müssten mit Experten sprechen und beziffern, welche Kapazitäten wir brauchen und wie wir diese so aufbauen, dass sie global wettbewerbsfähig sind.
Sie haben viele Missstände geschildert. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Wie würden Sie diesen Staat und das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft neu organisieren?
Wir befinden uns in einer massiven Transformation, Stichwort Dekarbonisierung, Stichwort Digitalisierung, Stichwort Demografie. Ich würde mir wünschen, dass es einen Grundkonsens der demokratischen Parteien mit einer breiten Akzeptanz in Wirtschaft und Gesellschaft gibt für diese Prozesse, auf den über längere Laufzeit als eine Legislaturperiode Verlass ist. Ich habe weiterhin die Hoffnung, dass man etwa zum deutschen Weg zur Dekarbonisierung auch einen Konsens aller Demokraten finden kann. Das würde den Unternehmen Investitionssicherheit über viele Jahre hinweg geben. Und dann könnten Demokraten auch gemeinsam den Rattenfängern entgegentreten, die vorgaukeln, mit einfachen Lösungen seien anspruchsvolle Zukunftsthemen zu meistern oder schlicht behaupten, alles könne bleiben, wie es immer schon war.
Die Parteien, auch die in der Ampel, beschäftigen sich vor allem mit sich selbst.
Die Demokraten sollten sich zu einem Minimalkonsens zusammenfinden und aufhören mit den Sandkastenspielchen: Du hast mir meine Schaufel weggenommen, also klaue ich dir deine Schaufel. Und dann gehen wir gemeinsam in Klausur nach Meseberg und verteilen die Schaufeln neu – das ist doch kindisch.
Was der BDI-Chef zur China-Strategie der Bundesregierung und der geplanten schärferen Investitionskontrolle zu sagen hat, können Sie hier bei China.Table lesen.
Vier Monate nach ihrer Benennung treten nun die Pflichten des DSA für die 19 als besonders große Akteure identifizierten Angebote in Kraft. “Sie hatten genug Zeit, ihre Systeme an die neuen Vorschriften anzupassen”, meint EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton. Die Kommission werde den DSA sorgfältig durchsetzen und ihre neuen Kompetenzen nutzen, kündigte der Kommissar an.
Doch damit sie das umfangreiche Regelwerk durchsetzen kann, braucht die EU-Kommission das entsprechende Personal. Etwa 100 Vollzeitstellen sind bei der Generaldirektion Connect zum Start der DSA-Anwendung bereits besetzt. Im kommenden Jahr sollen es insgesamt 123 Stellen sein, unterstützt von 30 Mitarbeitern beim Europäischen Zentrum für algorithmische Transparenz (ECAT). Ob das allerdings ausreicht, um die größten Unternehmen der Digitalwelt zu beaufsichtigen?
Der SPD-Europaparlamentarier Tiemo Wölken warnt, dass ihm die “eher dünne Personalausstattung” Sorgen bereite. Beim wesentlich weniger weitreichenden Netzwerkdurchsetzungsgesetz seien 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Bundesamt für Justiz auf die Fälle angesetzt worden. “Im schlimmsten Fall tappen wir hier in eine Falle, in der die Regeln in der Theorie zwar gut gemeint sind, in der Praxis aber kaum durchgesetzt werden können”, warnt Wölken. “Das muss auf jeden Fall verhindert werden.”
Die Grüne Alexandra Geese lobt zwar: “Die EU-Kommission hat sich vorbildlich weitreichende Kenntnisse über die vom DSA betroffenen Unternehmen erarbeitet, Personal aufgestockt und externe Expertise eingeholt.” Es handele sich aber dennoch um eine “Mammutaufgabe, bei der die Mitgliedsstaaten tatkräftig unterstützen müssen“. Langfristig sieht Geese eine personell gut ausgestattete unabhängige Agentur als notwendig an, “die staats- und politikfern für eine konsequente Rechtsdurchsetzung gegenüber diesen mächtigen Konzernen sorgen kann”.
Die 19 als besonders große Plattformen (VLOPs) und Suchmaschinen (VLOSE) benannten Anbieter müssen ab heute fast alle Regeln des Digital Services Act befolgen. Nur die Regeln, die zusätzlich einen nationalen Digitale-Dienste-Koordinator (DSC) erfordern, bleiben bis zum Februar 2024 noch außen vor.
Der DSA verpflichtet die Anbieter dabei zu einer Vielzahl an neuen Pflichten. Die wohl wichtigste bezieht sich auf illegale Inhalte: Zwar bleibt das Haftungsregime der E-Commerce-Richtlinie grundsätzlich erhalten. Anbieter müssen also nicht aktiv nach illegalen Inhalten suchen. Allerdings müssen Sie ab dem Moment, an dem Sie Kenntnis von möglicherweise rechtswidrigem Treiben haben, dem Vorfall nachgehen. Und sie müssen in einem nachvollziehbaren Verfahren über eine Löschung, Sperrung oder Nichtaktivität informieren. Gegen eine entsprechende Einstufung müssen Betroffene zudem Widerspruch beim Anbieter einlegen können – hier kommen also einige Änderungen auf Betreiber wie Nutzer zu.
In Deutschland tritt der DSA damit an Stelle des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes: durch den Vorrang des Europarechts findet dieses für die Zukunft weitgehend keine Anwendung mehr auf die großen Sozialen Netzwerke Twitter/X, Facebook, Instagram, Tiktok, Linkedin und Telegram. Der DSA umfasst dabei zugleich wesentlich mehr als der abgeschlossene Katalog des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes: illegale Inhalte, die nach nationalem Recht verboten sind, sofern dieses selbst nicht dem Europarecht widerspricht.
Die neuen Regeln gelten zudem nicht nur für Soziale Netzwerke: Auch Nutzerinhalte auf anderen Plattformen, etwa Bewertungen auf den großen Marktplätzen, müssen vergleichbar behandelt werden. Hier sind insbesondere Amazon und Zalando, aber auch die App Stores oder Rezensionen auf Kartendiensten ab heute in der Pflicht. Auch bei Empfehlungssystemen verlang der DSA deutliche Änderungen. Diese müssen auch in einem vom individuellen Nutzer unabhängigen Profil zur Verfügung stehen.
Dass neue Regulatorik konkrete Änderungen an Produkten zur Folge hat, zeigt ein weiteres Beispiel: “Auf Tiktok, Instagram und Facebook können Nutzende nun algorithmisch bestimmte Feeds abstellen, was eine Vorgabe des DSA ist”, erläutert Julian Jaursch, DSA-Experte bei der Stiftung Neue Verantwortung. “Auch wenn es teilweise solche Maßnahmen schon gab: Dass einige Plattformen Änderungen an ihren Produkten vornehmen, zeigt, dass der DSA Konsequenzen hat.” Speziell Tiktok und Instagram hatten sich bislang geweigert, nicht-algorithmische Darstellungen ihrer Inhalte möglich zu machen, Facebook war ursprünglich ohne eine solche gestartet.
Zum heutigen Stichtag müssen die Betreiber der als VLOPs beziehungswiese VLOSE klassifizierten Angebote Berichte zu sogenannten systemischen Risiken vorlegen. Hierin sollen sie darlegen, welche womöglich problematischen Wirkungen sie durch ihre Plattformen erkennen.
Beispiele hierfür könnten etwa lebensgefährliche Challenges auf Tiktok, Anorexie-Anleitungen auf Instagram, Wahlkampfbeeinflussungsversuche auf Facebook, Datenschutzverstöße oder die Verbreitung rechtswidriger Inhalte sein. Artikel 34 DSA enthält hier nur eine beispielhafte, nicht abschließende Liste. Welche Risiken welche Unternehmen dabei sehen, determiniert auch, welche Schritte diese unternehmen müssen, um die Gefahren einzudämmen. Dies kann etwa durch eine Anpassung von Algorithmen, der AGB oder der Inhaltemoderations-Mechanismen erfolgen.
Doch gerade dieser Bereich wird noch für einige Diskussionen sorgen. Inwiefern ist ein werbefinanziertes, datengetriebenes Geschäftsmodell nicht qua Design eine Gefährdung des Grundrechts auf den Schutz personenbezogener Daten? Inwiefern sind interaktionsbasierte Inhalteranking-Algorithmen tatsächlich als gesellschaftliches Risiko zu erachten? Viele der Fragen sind wissenschaftlich nicht so eindeutig geklärt, dass sie auch juristisch eindeutig wären. Es drohen jahrelange, intensive Auseinandersetzungen.
MEP Alexandra Geese jedenfalls erwartet von der Kommission, dass diese in einem Bereich zu Beginn ganz genau hinschaut: Im Europawahljahr 2024 müsse ein besonderer Fokus auf Soziale Netzwerke gelegt werden. “Die durch Algorithmen und Microtargeting überproportional und zielgenau verbreitete Desinformation sowie Hass und Hetze gefährden unsere Demokratie, da sie extremistischen Parteien enorme Reichweiten bescheren”, sagte Geese zu Table.Media. “Ranking-Kriterien müssen auf den Prüfstand gestellt werden.”
Der letzte der 94 Punkte des Manifests hat es in sich: “Brasilien, Indien, China und Südafrika sprechen Russland ihre volle Unterstützung für seinen Brics-Vorsitz im Jahr 2024 und die Abhaltung des 16. Brics-Gipfels in der russischen Stadt Kasan aus.” Das 26 Seiten umfassende Papier haben die fünf Gründerstaaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika am Donnerstag beschlossen.
Zum Brics-Gipfel, der von Dienstag bis gestern in Johannesburg stattfand, konnte Russlands Präsident Putin wegen eines internationalen Haftbefehls nicht anreisen. Im kommenden Jahr soll er dafür der Gastgeber sein. Der Wille der Brics-Staaten, sich der US-Dominanz entgegenzustellen, ist offenbar so groß, dass sie die russische Aggression gegen die Ukraine ausklammern.
Die Brics-Gründungsmitglieder haben sich zudem über die Aufnahme von sechs weiteren Ländern verständigt. Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa verkündete die künftigen Mitglieder:
Die Staaten werden der Gruppe zum 1. Januar 2024 beitreten. “Wir haben einen Konsens über die erste Phase dieses Expansionsprozesses, und weitere Phasen werden folgen”, sagte Ramaphosa.
Einige der Neulinge waren von Beobachtern bereits erwartet worden. Doch es sind auch Überraschungen darunter – vor allem Iran: Die Islamische Republik gilt im Westen als Paria und wird dem Lager um China und Russland zugerechnet. So ist Iran einer der wichtigsten Lieferanten von Militärdrohnen an Russland, die in der Ukraine eingesetzt werden.
Im Vorfeld des Brics-Gipfels hatten Experten einen iranischen Beitritt noch als unwahrscheinlich eingeschätzt. Die Demokratien Brasilien, Indien und Südafrika, die auch an guten Beziehungen zum Westen interessiert sind, könnten kaum ein Interesse daran haben, Brics zur Schmuddelecke werden zu lassen, so die Argumentation.
Doch offenbar wogen für die fünf Brics-Länder andere Überlegungen schwerer. Energie könnte dabei ein wichtiger Faktor gewesen sein. Schließlich umfasst die Gruppe mit Iran, Saudi-Arabien, Russland, den VAE und Brasilien künftig einige der größten Energieproduzenten der Welt. Iran beherbergt die zweitgrößten Gasvorkommen weltweit sowie ein Viertel der Ölvorkommen im Nahen Osten.
Im Manifest kritisieren die Unterzeichner die Iran-Politik des Westens deutlich: “Wir bekräftigen die Notwendigkeit, die iranische Atomfrage mit friedlichen und diplomatischen Mitteln im Einklang mit dem Völkerrecht zu lösen“, heißt es unter Punkt 21.
Der Beitritt Saudi-Arabiens hingegen war bereits von Experten erwartet worden. Im Vorfeld des Gipfels hatten China und auch Brasilien bereits ihre Unterstützung für den Beitritt ausgedrückt. Die Brics-Gruppe zu erweitern, sei wirtschaftlich nur sinnvoll, wenn Saudi-Arabien unter den neuen Mitgliedern sei, sagte der Erfinder des Brics-Akronyms, der Ökonom Jim O’Neill, zu Bloomberg.
Das Königreich ist der größte Ölproduzent der Welt, China der größte Ölkonsument. Da der größte Teil des Weltenergiehandels in Dollar abgewickelt wird, erleichtert die Erweiterung auch die Umstellung des Handels auf alternative Währungen. Als neuer Beitragszahler für die New Development Bank (NDB) der Brics-Länder ist Saudi-Arabien gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten von Bedeutung. Die Emirate sind bereits seit 2021 Mitglied der NDB.
Auch Ägypten ist seit März Anteilseigner der NDB. Das Land ist einer der Hauptempfänger amerikanischer Hilfszahlungen, unterhält aber seit langem enge Beziehungen zu Russland und hat wachsende Handelsbeziehungen zu China. Russland baut das erste ägyptische Atomkraftwerk und China Teile der neuen Hauptstadt. Ägypten leidet unter einer Währungskrise und setzt darauf, innerhalb der Brics-Gruppe ohne den Dollar Handel zu treiben.
Auch Argentinien kämpft mit einer Devisenkrise. Das Land will über die NDB Zugang zu alternativen Finanzierungsmöglichkeiten erlangen. Zu seinen Unterstützern innerhalb der Brics zählen der wichtigste Handelspartner und Nachbar Brasilien, sowie Indien und China.
Äthiopien zählt zu den eher unerwarteten Neulingen. Das Land ist zwar die drittgrößte Volkswirtschaft südlich der Sahara und liegt bei der Bevölkerung sogar auf Platz zwei. Äthiopiens BIP ist jedoch gerade einmal halb so groß wie das des kleinsten Brics-Mitglieds Südafrika. Zudem wird das Land zurzeit wieder von bewaffneten Zusammenstößen erschüttert.
Viele Beobachter hatten damit gerechnet, dass auch Indonesien unter den neuen Brics-Mitgliedern sein würde. Das Land habe um einen Aufschub seiner Mitgliedschaft gebeten, um sich mit seinen Partnern innerhalb der ASEAN zu beraten, erklärte Südafrikas Brics-Botschafter Anil Sooklal in einem Interview. Indonesien könne aber in den kommenden ein bis zwei Jahren aufgenommen werden.
Die Debatte um die Erweiterung der Brics-Gruppe war vor allem von China vorangetrieben worden. Die Volksrepublik setzt darauf, Alternativen zur westlich geprägten Weltordnung zu schaffen und will dafür möglichst viele Mitstreiter gewinnen. Russland ist international wegen des Ukrainekriegs isoliert und hofft ebenfalls, mit einer Brics-Erweiterung neue Unterstützer zu finden.
Indien und Brasilien waren zuletzt zögerlicher – auch wenn sie einer Erweiterung prinzipiell immer zugestimmt hatten. Sie befürchten, eine überhastete Erweiterung könnte den Wirtschaftsblock zu einem anti-westlichen Club machen. Beide Länder lehnen eine solche Positionierung ab. Indien ist zudem besorgt über die chinesische Dominanz innerhalb der Brics-Gruppe.
In ihrem Manifest fordern die Brics-Staaten “eine umfassende Reform” der Vereinten Nationen und des Weltsicherheitsrats, in dem die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs USA, Großbritannien und Frankreich, aber auch die beiden Brics-Staaten Russland und China mit Vetorecht ständige Mitglieder sind.
Dies sorgt immer wieder für Diskussionen, aber auch das Auswahlverfahren für jene Staaten, die nicht ständige Mitglieder sind. Der Weltsicherheitsrat, fordern die Brics-Staaten, müsse “demokratischer, repräsentativer, effektiver und effizienter” werden und die Entwicklungsländer stärker repräsentieren. Arne Schütte/Christian von Hiller
Am Donnerstagabend hat niemand geringeres als Russlands Präsident Wladimir Putin in Moskau den Tod des Wagner-Gründers Jewgenij Prigoschin – indirekt – bestätigt. Ohne dessen Namen zu nennen, sprach Putin von einer Tragödie und betonte den bedeutenden Beitrag von Wagner im Krieg gegen die Ukraine. Manche der in Russland prominenten Politologen, wie etwa Waleri Solowej, schließen aber auch eine Täuschung nicht aus.
Doch der Wissenschaftler, der sich lange mit der Wirkung von Propaganda beschäftigt hat, scheint diese These selbst nicht ganz ernst zu nehmen. In einem Gespräch mit dem russischen Journalisten Alexander Plushev am Donnerstag auf Youtube verwies Solowej darauf, dass der Tod Prigoschins den Zweck hat, die Machtübergabe nach Putin zu regeln. “Er (Putin) stirbt. Seine Umgebung weiß das, und der Tod Prigoschins soll die geplante Machtübergabe absichern und Einmischungen verhindern.”
Harte Belege für eine schwere Krankheit und ein baldiges Ableben Putins gibt es bisher nicht. Auch westliche Geheimdienstler, wie etwa CIA-Direktor William Burns, verweisen darauf, dass die mit dem Krieg zugenommenen Gerüchte über Putins Gesundheitszustand eher der Schwächung des politischen Gegners dienen sollen.*
Nach Angaben der russischen Behörden sind die Überreste von zehn Personen am Ort des Flugzeugabsturzes geborgen worden. Widersprüchliche Berichte gab es in russischen Medien und Telegram-Kanälen zur Identifizierung der Leichen, wonach die Körper von Prigoschin und seinem wichtigsten Vertreter, Dmitri Utkin, identifiziert worden sein sollen – oder aber bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren. In den sozialen Medien tauchten Bilder auf, die Einschusslöcher in Rumpfteilen des Jets zeigen sollen. Bereits am Abend des Absturzes wurde die Version eines “versehentlichen” Abschusses verbreitet.
Das Ereignis selbst bewertet die Politologin Jekaterina Schulmann negativ. “Alles, was gerade geschieht, ist sehr schlecht. Es gibt daran nichts Gutes”, sagte sie in der Youtube-Sendung von Plushev. “Das sind Zeichen für einen Failed State. Es ist absurd anzunehmen, dass diese Rache an Prigoschin, über die nun auf den ersten Seiten der Weltpresse zu lesen ist, Putins Position sichert.” Wenn Putin seine Umgebung mit solcher Gewalt in Schach halten müsse, dann stellt sich die Frage, ob nichts anderes sie mehr abschrecke? Schulmann erläuterte kürzlich im Interview mit Table.Media, dass die zunehmende Repression in Russland ein Zeichen für einen Zerfall des Regimes sei und nicht eine Stabilisierung.
Russlandkenner und Leiter des Landesprogramms der Friedich-Ebert-Stiftung, Alexey Yusupov, sagte auf Anfrage von Table.Media: “Prigoschin hatte etwas getan, was eigentlich nur dem Präsidenten vorbehalten war: Er sprach zum Volk. Er sprach zur Öffentlichkeit mit politischem Vorhaben. Er hatte damit ein Tabu gebrochen und das musste wohl richtiggestellt werden.”
Yusupov ergänzte, dass mit dem Angriff auf Prigoschin sich das System nun gegen eigene Leute wende, das habe es bisher in diesem Ausmaß nicht gegeben. “Bis zur Revolte vor zwei Monaten hatte das System die inneren Konflikte selbst geregelt. Damit war es dann mit dem Putschversuch vorbei. Das ist ein wichtiger Punkt.” Und die jetzige Vergeltung deute darauf hin, dass etwas im Gange ist und eine neue Dynamik in den Eliten aufkomme.
Kurzfristige Auswirkungen auf den Krieg in der Ukraine, die am 24. August ihren Unabhängigkeitstag gefeiert hat, wird der mutmaßliche Tod wohl nicht haben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beeilte sich lediglich darin zu versichern, dass die Ukraine ihre Hände nicht im Spiel gehabt habe.
Mehr Auswirkungen sind für Belarus zu erwarten. Dort baut das Wagner-Camp wohl seinen Standort ab. Das unabhängige journalistische Projekt Hajun, das in Belarus das Militär beobachtet, berichtete vom Rückbau des Lagers südöstlich von Minsk.
Auch ukrainische Telegram-Kanäle berichteten von einem Abzug der Wagner-Truppen seit Anfang August. Insgesamt sollen dort 2.000 Mann stationiert gewesen sein. Die Verlegung von Wagner-Einheiten nach Belarus kurz nach dem Putschversuch im Juni hatte unter anderem in Polen und baltischen Staaten die Sorge vor einer steigenden Gefahr ausgelöst.
Noch unklar ist die Situation für Wagner-Truppe in den afrikanischen Staaten Mali, Zentralafrikanische Republik und Burkina Faso. Sein letztes Video für die Öffentlichkeit soll Prigoschin in Mali aufgezeichnet haben, es war Anfang der Woche verbreitet worden. Ob der Tod des Milizenführers etwas an russischer Präsens in den genannten Staaten ändert, bleibt vorerst offen.
Und was wird aus der Wagner-Gruppe selbst? Russische Telegram-Kanäle haben nach den Meldungen über Prigoschins Tod verkündet, dass es einen Plan B gebe. Konkret schrieben etwa der Kreml-kritische Kanal Gulagu.net mit Verweis auf Quellen in Wagner-Strukturen, dass in naher Zeit kompromittierendes Material über die russische Machtspitze veröffentlicht werden soll. Ob und in welcher Form Wagner selbst bestehen bleiben wird, ist aktuell verlässlich nicht zu sagen.
* Diesen Absatz hat die Redaktion nach der Veröffentlichung des Artikels hinzugefügt. Die Aussage des ehemals Kreml-nahen Politologen Waleri Solowej lässt sich nicht überprüfen.
29.08.-30.08.2023
Informelle Ministertagung Verteidigung
Themen: Die Verteidigungsminister kommen zu Beratungen zusammen. Infos
29.08.2023 – 11:30-12:30 Uhr
Sitzung des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI)
Themen: Bericht über die laufenden interinstitutionellen Verhandlungen, Berichterstattung über Umweltdaten von Industrieanlagen und Einrichtung eines Industrieemissionsportals, Entwurf einer Stellungnahme zum Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2024. Vorläufige Tagesordnung
30.08.-31.08.2023
Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten (AFET)
Themen: Entwurf des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2024, Gedankenaustausch über die Lage in Niger, Berichtsentwurf zur Einrichtung der Fazilität für die Ukraine, Berichtsentwurf zur Umsetzung des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit. Vorläufige Tagesordnung
30.08.-31.08.2023
Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft und Währung (ECON)
Themen: Entwurf einer Stellungnahme zum Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2024, Entwurf einer Stellungnahme zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts, Berichtsentwurf zur Verordnung zur Stärkung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Vereinfachung des Zugangs zu Kapital für kleine und mittlere Unternehmen. Draft Agenda
30.08.2023
Informelle Ministertagung Auswärtige Angelegenheiten
Themen: Die Außenminister kommen zu Beratungen zusammen. Infos
30.08.2023 – 09:00-12:30 Uhr
Sitzung des Ausschusses für Entwicklung (DEVE)
Themen: Entwurf einer Stellungnahme zum Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2024, Berichtsentwurf zur Rolle der Entwicklungspolitik der Europäischen Union bei der Umgestaltung der Rohstoffwirtschaft für eine nachhaltige Entwicklung in den Entwicklungsländern, Berichtsentwurf zur Umsetzung des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit. Vorläufige Tagesordnung
30.08.2023 – 11:15-12:30 Uhr
Gemeinsame Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten (AFET) und des Haushaltsausschusses (BUDG)
Themen: Berichtsentwurf zur Einrichtung der Fazilität für die Ukraine. Vorläufige Tagesordnung
30.08.2023 – 14:30-15:30 Uhr
Gemeinsame Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten (AFET) und des Ausschusses für Entwicklung (DEVE)
Themen: Berichtsentwurf zur Umsetzung des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit. Vorläufige Tagesordnung
30.08.2023 – 15:10-16:00 Uhr
Gemeinsame Sitzung des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) und des Ausschusses für Rechte der Frauen und Gleichstellung der Geschlechter (FEMM)
Themen: Berichtsentwurf zur Standards für Gleichstellungsstellen im Bereich der Gleichbehandlung und Chancengleichheit von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen. Vorläufige Tagesordnung
03.09.-05.09.2023
Informelle Ministertagung Landwirtschaft
Themen: Die Landwirtschaftsminister kommen zu Beratungen zusammen. Infos
Wenige Wochen vor der bayerischen Landtagswahl haben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) am Donnerstag gemeinsam ein Projekt zur Gewinnung geothermischer Energie eingeweiht. Scholz versprach, Erdwärme solle eine bedeutendere Rolle für die Energiewende spielen als bisher.
Der Bund wolle bis 2030 “soviel Erdwärme wie möglich” erschließen, um “zehn Mal soviel Erdwärme ins Netz einzuspeisen wie heute”. Söder kündigte an, bis 2050 “einen Großteil des bayrischen Energiebedarfs aus Geothermie” gewinnen zu wollen.
Auch Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) wollte da nicht fehlen und lobte die Energiequelle. Er sagte Table.Media, im Gegensatz zur Windenergie sei Geothermie grundlastfähig, werde unterirdisch gewonnen und sei dadurch für die Bevölkerung nicht sichtbar.
Zwischen 200 und 350 Millionen Euro fließen in das Projekt in Geretsried. Knapp 92 Millionen werden aus dem Innovationsfonds der EU beigesteuert. Mehr dazu lesen Sie in dieser Analyse. luk
Die niederländische Regierung will am Freitag Außenminister Wopke Hoekstra als EU-Kommissar nominieren. Hoekstra würde Frans Timmermans als niederländischer Kommissar nachfolgen, der sein Amt aufgab, um bei den Parlamentswahlen in seinem Land zu kandidieren.
Timmermans tritt an, um nach der Wahl am 22. November Ministerpräsident und Nachfolger des vorzeitig abgetretenen Regierungschefs Mark Rutte von den Liberalen zu werden. In der EU-Kommission war Timmermans verantwortlich für den Green Deal. Diese Verantwortung übernimmt jetzt der slowakische Kommissionsvize Maroš Šefčovič.
Hoekstra war von 2017 bis 2022 niederländischer Finanzminister. Das niederländische Außenministerium lehnte eine Stellungnahme ab. Ein Vertreter der ständigen Vertretung der Niederlande bei der Europäischen Union sagte, man könne den Bericht nicht bestätigen. tho/rtr
Lettlands Staatspräsident Edgars Rinkevics hat Evika Siliņa mit der Regierungsbildung in dem baltischen EU- und Nato-Land beauftragt. Eine Woche nach dem Rücktritt von Regierungschef Krisjanis Karins und Gesprächen mit allen sieben im Parlament vertretenen Parteien nominierte der Staatschef am Donnerstag die 48 Jahre alte bisherige Wohlfahrtsministerin.
“Ich bin davon überzeugt, dass Frau Siliņa die Aufgabe in ausreichend kurzer Zeit erfüllen kann. Ihre Erfahrung und Wissen sind ein guter Anfang für die Schaffung eines funktionierenden Ministerkabinetts”, sagte Rinkevics auf einer Pressekonferenz in Riga. Der lettische Präsident, der sich für eine möglichst breite Koalition ausgesprochen hatte, äußerte die Hoffnung, dass die Regierungsbildung bis Mitte September abgeschlossen sein wird.
Auch Siliņa nannte diesen Termin als Ziel und erklärte, am Freitag mit vier Parteien Koalitionsverhandlungen aufnehmen zu wollen. Die Politikerin der liberalkonservativen Regierungspartei Jauna Vienotiba war die einzige Kandidatin, die von den Parteien offiziell für das Amt des Ministerpräsidenten in dem Ostseestaat nominiert wurde. dpa
Die Deutsche Bank stellt sich in der Kommunikation mit der Politik neu auf und siedelt ihren neuen Leiter für politische Angelegenheiten weltweit in Brüssel und London an. Der künftige Global Head of Political Affairs, Stephen Fisher übernimmt sein Amt zum 1. Oktober und berichtet direkt an Ben Alka, Global Head of Corporate Affairs & Strategy.
Fisher kommt vom US-Vermögensverwalter Blackrock, wo er Co-Head Global Public Policy Group EMEA war. Zuvor arbeitete er unter anderem für den niederländischen und den europäischen Bankenverband sowie die britische Finanzaufsicht. “Ich freue mich sehr, dass wir mit Stephen Fisher einen versierten, gut vernetzen Kenner der politischen Landschaft und der Finanzbranche gewinnen”, erklärte Alka in einer Pressemeldung der Bank.
Fisher habe umfangreiche Erfahrung im Austausch mit politischen Entscheidern und bei Regulierungsthemen, ergänzte Alka. Er werde die Bank dabei unterstützen, ihre Beziehungen zur Politik in Europa und anderen wichtigen Märkten weltweit weiter auszubauen.
Fisher folgt auf Sven Afhüppe. Die Deutsche Bank hatte den früheren Chefredakteur des Handelsblatts zu sich geholt, um die teils belasteten Beziehungen vor allem zur Politik in Berlin zu verbessern, was laut Alka auch gelungen sei. Die Bank legt den Fokus nun wohl mehr auf Europa und die Welt. vis
Am 9. Juni 2024 werden die Franzosen zur Wahl ihrer 79 Europaparlamentarier aufgerufen. Historisch gesehen ist dies die Wahl, die in Frankreich nur wenige Menschen mobilisiert: Kaum die Hälfte der französischen Wähler zeigt besonderes Interesse an dieser Abstimmung. Dennoch sind die politischen Herausforderungen nicht unbedeutend: Diese Wahl könnte die rechtsextreme Rassemblement National (RN) und die Regierungspartei Renaissance als die Hauptkräfte im Land festigen. Sie könnte jedoch auch zu einem Aufstieg der linken Parteien führen. Unter einer Voraussetzung: dass sie ihre tiefe Spaltung überwinden können.
Es geht dabei um die vier linken Parteien – La France Insoumise (LFI), Parti Socialiste (PS), Parti Communiste (PC) und Europe Écologie/Les Verts (EELV) -, die seit den Parlamentswahlen im Juni 2022 unter dem Banner der Nouvelle Union populaire écologique et sociale (Nupes) vereint sind.
Seit Monaten drängt La France Insoumise auf die Bildung einer einzigen Liste der Nupes für die kommenden Europawahlen. Doch im vergangenen Juli haben die französischen Grünen (EELV) ihre Strategie für eine eigenständige Liste mit 86 Prozent Zustimmung gebilligt. Die Ökologen wollen bei den nächsten Europawahlen allein antreten und haben sogar bereits ihre Spitzenkandidatin benannt: die Europaabgeordnete Marie Toussaint. Die “Ecolos” haben sich dabei sicherlich daran erinnert, dass die Grünen 2019 dreizehn Europaabgeordnete gewählt haben können, während die “Insoumis” und die Sozialisten jeweils nur sechs Sitze erreichten.
Eine im letzten Mai veröffentlichte Umfrage von Cluster17 für Le Point hat dennoch einige Diskussionen hervorgerufen: Eine gemeinsame Liste der Nupes würde bei der Wahl mit 27 Prozent der Stimmen vorn liegen, gefolgt vom Rassemblement National (25,5 Prozent) und der Regierungspartei (23 Prozent).
Im Falle getrennter linker Listen wäre die Summe der Stimmen der Linken – LFI (11 Prozent), EELV (11 Prozent), PS (9 Prozent) und PCF (4 Prozent), zusammen 35 Prozent – höher als das Ergebnis einer gemeinsamen Liste. Dann würde der Rassemblement National (24 Prozent) an erster Stelle stehen, gefolgt von der Regierungspartei, die dann ein geringeres Ergebnis erzielen würde (19,5 Prozent).
Dies könnte erklären, warum La France Insoumise und vor allem ihr Anführer Jean-Luc Mélenchon, der für seine nicht gerade freundlichen Ansichten gegenüber Deutschland bekannt ist, in den vergangenen Monaten den Druck auf die Grünen erhöht haben. Die “Insoumis” wiederholen fast jede Woche gegenüber der Vorsitzenden der Grünen, Marine Tondelier, die Notwendigkeit einer einzigen Liste. Tondelier reagierte mit einer klaren Botschaft: “Die Grünen werden ihre Meinung nicht ändern, nur weil ein Kerl fünfmal dasselbe immer lauter sagt.” – Ambiance.
Hinter diesem Machtkampf zeichnet sich in Frankreich ein politischer Kampf ab, bei dem die anderen linken Parteien, und eben insbesondere die Grünen, eine Nupes ausgleichen wollen, die seit ihrer Gründung von LFI dominiert wird. LFI ihrerseits erkennt die Bedeutung des linken Zusammenschlusses im Jahr 2024 für das Überleben von Nupes und prophezeit andernfalls deren Zerfall.
Diese Spannungen könnten nun auf Marie Toussaint lasten, die deutlich positiver zur Nupes steht und deren Ernennung von LFI als “Signal” aufgenommen wurde. Zwar ist sie in der breiten Öffentlichkeit unbekannt, aber sie hat sich mit der “Affaire du siècle” in der Aktivistenwelt einen Namen gemacht: 2019 verklagte sie mit ihrer Umweltrechts-NGO Notre affaire à tous gemeinsam mit drei anderen Organisationen (Greenpeace, Fondation pour la nature et l’homme und Oxfam) den französischen Staat und forderte ihn auf, seine Klimaschutzverpflichtungen einzuhalten.
Mehr als zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger unterzeichneten die parallel gestartete Petition. 2021 wurde Frankreich vom Staatsrat wegen Untätigkeit im Klimaschutz verurteilt. “Meine Hauptwaffe ist das Recht”, sagte die Absolventin im Bereich des internationalen Umweltrechts. Von nun an wird sie jedoch die juristische Sprache zugunsten einer deutlich politischeren Sprache zurücklassen müssen.
Heizungsgesetz, Unternehmenssteuern, Kindergrundsicherung – die Ampel-Parteien zerstreiten sich inzwischen bei nahezu jeder Gelegenheit. BDI-Präsident Siegfried Russwurm betrachtet das Treiben mit Sorge: “Die Demokraten sollten sich zu einem Minimalkonsens zusammenfinden und aufhören mit den Sandkastenspielchen”, fordert er im Interview mit Table.Media. Das Verhalten der Koalitionäre sei “kindisch”.
In Brüssel wie in Berlin sieht Russwurm ein wachsendes Misstrauen gegenüber der Wirtschaft: Immer mehr Unternehmer fragten sich: “Hält mich die Politik eigentlich vom Grundsatz her für einen Missetäter, den man auf Schritt und Tritt überwachen muss?” Als Beispiel nennt er das geplante EU-Lieferkettengesetz: Dies drohe, “völlig ungeeignet zu werden”. Der frühere Siemens-Vorstand bezweifelt zudem, dass Berichtspflichten im großen Stil abgebaut werden, wie es Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Aussicht gestellt hat.
Auch von der Leyens industriepolitische Initiativen wie den Net-Zero Industry Act sieht Russwurm kritisch. Die Diskussion um strategische Souveränität sei viel zu unkonkret: “Wir sollten sagen, welche Technologien wir in Europa haben wollen und wie umfänglich”, fordert er, “dann können wir als Industrievertreter konkrete Preisschilder dahinter setzen und ermitteln, was das kostet.” Mittelständler verlören sich zudem im Dickicht der unterschiedlichen EU-Fördertöpfe.
Ich wünsche Ihnen eine hoffentlich erhellende Lektüre und ein schönes Wochenende. Kommende Woche nimmt dann auch der Politbetrieb in Brüssel wieder Fahrt auf.
Herr Russwurm, das Wort vom kranken Mann Europas macht wieder die Runde. Wie krank ist Deutschland?
Krank ist ein großes Wort. Aber besonders leistungsfähig ist dieser Sportler, der im globalen Wettbewerb steht, momentan nicht. Teilweise wegen seines Lebenswandels, teilweise wegen ein paar Randbedingungen, die man nur schwer beeinflussen kann. Aber teilweise auch wegen Einschränkungen, die selbst gemacht sind. Um beim Sportler zu bleiben: Auch Kleidung und Ausrüstung des Athleten Deutschland sind alles andere als zweckmäßig.
Politiker bis hinauf zum Kanzler sprechen unentwegt davon, dass Bürokratie abgebaut werden müsse. Passiert dennoch zu wenig?
Es wird immer mal ein Anlauf genommen und an einzelnen Stellen etwas gemacht. Aber die Grundrichtung bleibt: immer mehr Abfragen, Melde- und Dokumentationspflichten. Das wird schlimmer, nicht besser. Ich glaube, dass ein paar sehr fundamentale Fragen gestellt werden müssten. Föderalismus ist gut und schön und in vielem ein sehr richtiges Organisationsprinzip. Aber dass ein Schwertransporter auf dem Weg von Emden nach Niederbayern an jeder Landesgrenze eine neue Genehmigung braucht, ist absurd. Das ist Kleinstaaterei, die zum Himmel schreit. Und solche Beispiele gibt es viele. Die Antwort darauf muss heißen: Wir müssen an die Strukturen ran.
Hat die Politik es trotz aller schönen Worte nicht verstanden?
Doch. Es gibt kein Erkenntnisdefizit; aber der Mut zum Aufbrechen von überholten Regeln bleibt auf der Strecke. Zurück zum Beispiel der Schwertransporte: Warum nicht eine durchgängige Genehmigung für den gesamten Weg?
Sollten EU und Bundesregierung mehr Geld in die Hand nehmen, wie die USA nach dem Vorbild des Inflation Reduction Act?
Wenn ich alle Programme zusammennehme, die die EU aufgelegt hat, sind wir bei einer vergleichbaren Größenordnung. Es ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern der unbürokratischen Organisation. Beim IRA kann ich sehr leicht ausrechnen, was ich als Unternehmen für eine Förderung bekomme und mich darauf verlassen, dass es auch schnell geht. In Brüssel steht man dagegen einem Dickicht unterschiedlicher Programme, Fördertöpfe und Antragsbedingungen gegenüber. Als Großkonzern mit eigener Dependance in Brüssel kann man sich da vielleicht durchnavigieren. Für Mittelständler ist das völlig unmöglich. Dem steht gegenüber, dass ein Unternehmer, der in die USA kommt und dort mit dem local congressman redet, mit offenen Armen empfangen wird: “Schön, dass Sie da sind, wie kann ich Ihnen helfen?” Zwischen beiden Vorgehensweisen liegen Welten.
Die EU tut sich schwer damit, die gewachsenen Förderstrukturen über Bord zu werfen.
Aber weniger schwer ist es zu verstehen, wo die Unterschiede liegen. Wenn wir ein bisschen holzschnittartig draufschauen, dann haben sich die USA entschieden, grüne Energie billiger zu machen. Wir in Europa haben entschieden, fossile Energie teurer zu machen, um die Motivation hin zu grün zu schaffen. Der Impuls mag derselbe sein. Aber im internationalen Wettbewerb ist in den USA Energie billiger geworden und bei uns teurer. Das ist einen Riesenunterschied in seiner Wirkung auf Unternehmen und die Wettbewerbsfähigkeit des jeweiligen Standorts.
Derzeit wird viel vor einer drohenden Abwanderung von Unternehmen gewarnt, ja sogar vor einer Deindustrialisierung. Wie groß ist die Gefahr tatsächlich?
Wir versuchen, das durch Umfragen zu quantifizieren, die wir bei mittelständischen Unternehmen machen. Daraus wissen wir, dass 30 Prozent ernsthafte Planungen für verstärkte Auslandsinvestitionen begonnen haben und 16 Prozent schon konkreter mit der Umsetzung befasst sind. Meine dringende Aufforderung an das Bundeswirtschaftsministerium ist: Lasst uns Indikatoren für das Investitionsverhalten der Unternehmen finden, damit wir zu verlässlichen Daten kommen. Der bisherige Indikator für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die Arbeitslosenquote, funktioniert demografiebedingt nicht mehr – auch im Konjunkturtief gibt es Fachkräftemangel. Deshalb plädieren wir für einen Investitionsindikator. So wie wir früher jeden Monat an den offiziellen Daten zur Arbeitslosenstatistik den Puls der Wirtschaft messen konnten, sollten wir heute regelmäßig offizielle Daten zum Investitionsverhalten erheben und könnten dann daraus adäquate Schlüsse ziehen.
Der Frust wächst, in den Betrieben, man kann es auch an den Umfragezahlen für die AfD ablesen. Wie sehr besorgt Sie das?
Für mich sind das zwei unterschiedliche Baustellen. Das eine ist die AfD; das andere die Frage: Gerät da etwas ins Rutschen. Ich würde das zunächst nicht parteipolitisch fassen. Aber es gibt ein wachsendes Misstrauen in Politik und Staat, verbunden mit der Frage: Kennen die eigentlich noch unser reales Leben? Oder herrscht eine Flughöhe, die mit unserer Realität nichts mehr zu tun hat? Das heißt aber nicht, alle, die mit der Situation hadern, wählen diese oder jene Partei. So einfach ist die Welt nicht.
Was heißt es dann?
Immer mehr Unternehmer fragen sich: Hält mich die Politik eigentlich vom Grundsatz her für einen Missetäter, den man auf Schritt und Tritt überwachen und ihm vorschreiben muss, was er tun soll, muss oder nicht darf? Oder akzeptiert die Politik, dass ich einen vernünftigen eigenen ethischen Kompass habe, motiviert bin, einen guten Job zu machen, dabei durchaus auch Verantwortung für andere übernehme und ein Verständnis dafür habe, was ich meinen Kindern und meinen Enkeln an Umwelt hinterlasse? Da gerät tatsächlich etwas ins Rutschen. Besonders gilt das für diejenigen, die nicht die Option haben, im Zweifel in ein anderes Land zu gehen und gerade deshalb hier so wichtig sind; die ihre Arbeit lieben, aber jedes Wochenende gezwungen sind, Berichte abzuliefern, Anträge auszufüllen, mit Papierkram überhäuft werden und händeringend Arbeitskräfte suchen. Das ist es, was viele an den Rand der Verzweiflung bringt.
Hat die Politik in Berlin das verstanden?
Ich glaube, es kommt dort zunehmend an. Ich erlebe aber eine große Ratlosigkeit. Viele Politiker fragen sich, was sie wirklich substanziell tun könnten, ohne sich wieder im Kleinklein der Einzelmaßnahmen zu verlieren.
Und in Brüssel, kommt Ihre Botschaft dort an?
Wohl weniger. Wahrscheinlich liegt es daran, dass deutsche Politiker öfter und länger in ihren Wahlkreisen unterwegs sind und mit der Realität konfrontiert werden. Das komplexe Institutionen- und Kompromissgefüge von Kommission, Rat und Europaparlament in Brüssel neigt zu einem Eigenleben entfernt von der Alltagswelt der Bürger.
Wächst die EU-Verdrossenheit in der Unternehmerschaft?
Nein, das sehe ich nicht. Unternehmerinnen und Unternehmer sind sich der Tatsache bewusst, wie wichtig die Europäische Union für unseren wirtschaftlichen Erfolg ist. Aber die Erwartung ist auch, dass ein Land wie Deutschland wegen seiner Größe, aber auch wegen seines wirtschaftlichen Gewichts einen gewissen Einfluss in Brüssel haben sollte. Ich spreche im Konjunktiv, weil man sich in der Ampel und auch schon unter Vorgängerkonstellationen oft nicht einig war, und sich Deutschland deshalb im Rat immer wieder enthält, also selbst neutralisiert.
Das sprichwörtliche German Vote…
Nehmen wir das Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz. Wir haben ein in Deutschland gültiges Gesetz, und Frankreich hat ein vergleichbares. Als Europäer mit deutschem Pass frage ich mich: Wenn sich Deutschland und Frankreich einig sind, warum können die vorhandenen Gesetze nicht als Grundlage für eine EU-weite Regelung dienen? Stattdessen wird in Brüssel über die Corporate Sustainability Due Diligence Directive beraten, die völlig ungeeignet zu werden droht.
Von der Leyen hat als Trostpflaster angekündigt, ein Viertel der Berichtspflichten für Unternehmen kürzen zu wollen.
Na ja, es wird vermutlich einige anekdotische Beispiele geben. Aber ich bezweifele, dass die Kommission fundamental etwas ändert, solange wir gleichzeitig über ein Komplettverbot von Tausenden verschiedener Materialien der PFAS-Gruppe diskutieren.
Das neue Mantra in Brüssel ist “europäische Souveränität”. Was bedeutet das für die international aufgestellte deutsche Industrie?
Was mir in der Diskussion um strategische Souveränität fehlt, ist ein Gesamtbild mit konkreten Zielen und Zahlen. Wir sollten sagen, welche Technologien wir in Europa haben wollen und wie umfänglich. Dann können wir als Industrievertreter konkrete Preisschilder dahinter setzen und ermitteln, was das kostet. Und auf der Basis muss die Politik im Dialog mit uns klären, wie das finanzierbar ist. Nehmen wir das Beispiel Chipindustrie: Wenn es das angestrebte Ziel ist, in der EU Halbleiter von weniger als zehn Nanometer Gitterweite produzieren zu wollen und wir dabei im Wettbewerb mit Subventionen anderer Länder stehen, dann muss man sich darauf einlassen und Ansiedelungen mit Milliardenbeträgen unterstützen. Sonst gehen wir leer aus.
Es gibt schüchterne Ansätze wie den Net-Zero Industry Act, in dem klimafreundliche Technologien definiert und gefördert werden.
Ich würde einen konkreteren Ansatz bevorzugen. Wird eine europäische Solarindustrie als strategisches Ziel ausgegeben, also definiert, x Prozent unserer Solarmodule wollen wir hier produzieren, dann muss man klären: Was muss dafür alles passieren? Wir müssten mit Experten sprechen und beziffern, welche Kapazitäten wir brauchen und wie wir diese so aufbauen, dass sie global wettbewerbsfähig sind.
Sie haben viele Missstände geschildert. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Wie würden Sie diesen Staat und das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft neu organisieren?
Wir befinden uns in einer massiven Transformation, Stichwort Dekarbonisierung, Stichwort Digitalisierung, Stichwort Demografie. Ich würde mir wünschen, dass es einen Grundkonsens der demokratischen Parteien mit einer breiten Akzeptanz in Wirtschaft und Gesellschaft gibt für diese Prozesse, auf den über längere Laufzeit als eine Legislaturperiode Verlass ist. Ich habe weiterhin die Hoffnung, dass man etwa zum deutschen Weg zur Dekarbonisierung auch einen Konsens aller Demokraten finden kann. Das würde den Unternehmen Investitionssicherheit über viele Jahre hinweg geben. Und dann könnten Demokraten auch gemeinsam den Rattenfängern entgegentreten, die vorgaukeln, mit einfachen Lösungen seien anspruchsvolle Zukunftsthemen zu meistern oder schlicht behaupten, alles könne bleiben, wie es immer schon war.
Die Parteien, auch die in der Ampel, beschäftigen sich vor allem mit sich selbst.
Die Demokraten sollten sich zu einem Minimalkonsens zusammenfinden und aufhören mit den Sandkastenspielchen: Du hast mir meine Schaufel weggenommen, also klaue ich dir deine Schaufel. Und dann gehen wir gemeinsam in Klausur nach Meseberg und verteilen die Schaufeln neu – das ist doch kindisch.
Was der BDI-Chef zur China-Strategie der Bundesregierung und der geplanten schärferen Investitionskontrolle zu sagen hat, können Sie hier bei China.Table lesen.
Vier Monate nach ihrer Benennung treten nun die Pflichten des DSA für die 19 als besonders große Akteure identifizierten Angebote in Kraft. “Sie hatten genug Zeit, ihre Systeme an die neuen Vorschriften anzupassen”, meint EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton. Die Kommission werde den DSA sorgfältig durchsetzen und ihre neuen Kompetenzen nutzen, kündigte der Kommissar an.
Doch damit sie das umfangreiche Regelwerk durchsetzen kann, braucht die EU-Kommission das entsprechende Personal. Etwa 100 Vollzeitstellen sind bei der Generaldirektion Connect zum Start der DSA-Anwendung bereits besetzt. Im kommenden Jahr sollen es insgesamt 123 Stellen sein, unterstützt von 30 Mitarbeitern beim Europäischen Zentrum für algorithmische Transparenz (ECAT). Ob das allerdings ausreicht, um die größten Unternehmen der Digitalwelt zu beaufsichtigen?
Der SPD-Europaparlamentarier Tiemo Wölken warnt, dass ihm die “eher dünne Personalausstattung” Sorgen bereite. Beim wesentlich weniger weitreichenden Netzwerkdurchsetzungsgesetz seien 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Bundesamt für Justiz auf die Fälle angesetzt worden. “Im schlimmsten Fall tappen wir hier in eine Falle, in der die Regeln in der Theorie zwar gut gemeint sind, in der Praxis aber kaum durchgesetzt werden können”, warnt Wölken. “Das muss auf jeden Fall verhindert werden.”
Die Grüne Alexandra Geese lobt zwar: “Die EU-Kommission hat sich vorbildlich weitreichende Kenntnisse über die vom DSA betroffenen Unternehmen erarbeitet, Personal aufgestockt und externe Expertise eingeholt.” Es handele sich aber dennoch um eine “Mammutaufgabe, bei der die Mitgliedsstaaten tatkräftig unterstützen müssen“. Langfristig sieht Geese eine personell gut ausgestattete unabhängige Agentur als notwendig an, “die staats- und politikfern für eine konsequente Rechtsdurchsetzung gegenüber diesen mächtigen Konzernen sorgen kann”.
Die 19 als besonders große Plattformen (VLOPs) und Suchmaschinen (VLOSE) benannten Anbieter müssen ab heute fast alle Regeln des Digital Services Act befolgen. Nur die Regeln, die zusätzlich einen nationalen Digitale-Dienste-Koordinator (DSC) erfordern, bleiben bis zum Februar 2024 noch außen vor.
Der DSA verpflichtet die Anbieter dabei zu einer Vielzahl an neuen Pflichten. Die wohl wichtigste bezieht sich auf illegale Inhalte: Zwar bleibt das Haftungsregime der E-Commerce-Richtlinie grundsätzlich erhalten. Anbieter müssen also nicht aktiv nach illegalen Inhalten suchen. Allerdings müssen Sie ab dem Moment, an dem Sie Kenntnis von möglicherweise rechtswidrigem Treiben haben, dem Vorfall nachgehen. Und sie müssen in einem nachvollziehbaren Verfahren über eine Löschung, Sperrung oder Nichtaktivität informieren. Gegen eine entsprechende Einstufung müssen Betroffene zudem Widerspruch beim Anbieter einlegen können – hier kommen also einige Änderungen auf Betreiber wie Nutzer zu.
In Deutschland tritt der DSA damit an Stelle des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes: durch den Vorrang des Europarechts findet dieses für die Zukunft weitgehend keine Anwendung mehr auf die großen Sozialen Netzwerke Twitter/X, Facebook, Instagram, Tiktok, Linkedin und Telegram. Der DSA umfasst dabei zugleich wesentlich mehr als der abgeschlossene Katalog des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes: illegale Inhalte, die nach nationalem Recht verboten sind, sofern dieses selbst nicht dem Europarecht widerspricht.
Die neuen Regeln gelten zudem nicht nur für Soziale Netzwerke: Auch Nutzerinhalte auf anderen Plattformen, etwa Bewertungen auf den großen Marktplätzen, müssen vergleichbar behandelt werden. Hier sind insbesondere Amazon und Zalando, aber auch die App Stores oder Rezensionen auf Kartendiensten ab heute in der Pflicht. Auch bei Empfehlungssystemen verlang der DSA deutliche Änderungen. Diese müssen auch in einem vom individuellen Nutzer unabhängigen Profil zur Verfügung stehen.
Dass neue Regulatorik konkrete Änderungen an Produkten zur Folge hat, zeigt ein weiteres Beispiel: “Auf Tiktok, Instagram und Facebook können Nutzende nun algorithmisch bestimmte Feeds abstellen, was eine Vorgabe des DSA ist”, erläutert Julian Jaursch, DSA-Experte bei der Stiftung Neue Verantwortung. “Auch wenn es teilweise solche Maßnahmen schon gab: Dass einige Plattformen Änderungen an ihren Produkten vornehmen, zeigt, dass der DSA Konsequenzen hat.” Speziell Tiktok und Instagram hatten sich bislang geweigert, nicht-algorithmische Darstellungen ihrer Inhalte möglich zu machen, Facebook war ursprünglich ohne eine solche gestartet.
Zum heutigen Stichtag müssen die Betreiber der als VLOPs beziehungswiese VLOSE klassifizierten Angebote Berichte zu sogenannten systemischen Risiken vorlegen. Hierin sollen sie darlegen, welche womöglich problematischen Wirkungen sie durch ihre Plattformen erkennen.
Beispiele hierfür könnten etwa lebensgefährliche Challenges auf Tiktok, Anorexie-Anleitungen auf Instagram, Wahlkampfbeeinflussungsversuche auf Facebook, Datenschutzverstöße oder die Verbreitung rechtswidriger Inhalte sein. Artikel 34 DSA enthält hier nur eine beispielhafte, nicht abschließende Liste. Welche Risiken welche Unternehmen dabei sehen, determiniert auch, welche Schritte diese unternehmen müssen, um die Gefahren einzudämmen. Dies kann etwa durch eine Anpassung von Algorithmen, der AGB oder der Inhaltemoderations-Mechanismen erfolgen.
Doch gerade dieser Bereich wird noch für einige Diskussionen sorgen. Inwiefern ist ein werbefinanziertes, datengetriebenes Geschäftsmodell nicht qua Design eine Gefährdung des Grundrechts auf den Schutz personenbezogener Daten? Inwiefern sind interaktionsbasierte Inhalteranking-Algorithmen tatsächlich als gesellschaftliches Risiko zu erachten? Viele der Fragen sind wissenschaftlich nicht so eindeutig geklärt, dass sie auch juristisch eindeutig wären. Es drohen jahrelange, intensive Auseinandersetzungen.
MEP Alexandra Geese jedenfalls erwartet von der Kommission, dass diese in einem Bereich zu Beginn ganz genau hinschaut: Im Europawahljahr 2024 müsse ein besonderer Fokus auf Soziale Netzwerke gelegt werden. “Die durch Algorithmen und Microtargeting überproportional und zielgenau verbreitete Desinformation sowie Hass und Hetze gefährden unsere Demokratie, da sie extremistischen Parteien enorme Reichweiten bescheren”, sagte Geese zu Table.Media. “Ranking-Kriterien müssen auf den Prüfstand gestellt werden.”
Der letzte der 94 Punkte des Manifests hat es in sich: “Brasilien, Indien, China und Südafrika sprechen Russland ihre volle Unterstützung für seinen Brics-Vorsitz im Jahr 2024 und die Abhaltung des 16. Brics-Gipfels in der russischen Stadt Kasan aus.” Das 26 Seiten umfassende Papier haben die fünf Gründerstaaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika am Donnerstag beschlossen.
Zum Brics-Gipfel, der von Dienstag bis gestern in Johannesburg stattfand, konnte Russlands Präsident Putin wegen eines internationalen Haftbefehls nicht anreisen. Im kommenden Jahr soll er dafür der Gastgeber sein. Der Wille der Brics-Staaten, sich der US-Dominanz entgegenzustellen, ist offenbar so groß, dass sie die russische Aggression gegen die Ukraine ausklammern.
Die Brics-Gründungsmitglieder haben sich zudem über die Aufnahme von sechs weiteren Ländern verständigt. Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa verkündete die künftigen Mitglieder:
Die Staaten werden der Gruppe zum 1. Januar 2024 beitreten. “Wir haben einen Konsens über die erste Phase dieses Expansionsprozesses, und weitere Phasen werden folgen”, sagte Ramaphosa.
Einige der Neulinge waren von Beobachtern bereits erwartet worden. Doch es sind auch Überraschungen darunter – vor allem Iran: Die Islamische Republik gilt im Westen als Paria und wird dem Lager um China und Russland zugerechnet. So ist Iran einer der wichtigsten Lieferanten von Militärdrohnen an Russland, die in der Ukraine eingesetzt werden.
Im Vorfeld des Brics-Gipfels hatten Experten einen iranischen Beitritt noch als unwahrscheinlich eingeschätzt. Die Demokratien Brasilien, Indien und Südafrika, die auch an guten Beziehungen zum Westen interessiert sind, könnten kaum ein Interesse daran haben, Brics zur Schmuddelecke werden zu lassen, so die Argumentation.
Doch offenbar wogen für die fünf Brics-Länder andere Überlegungen schwerer. Energie könnte dabei ein wichtiger Faktor gewesen sein. Schließlich umfasst die Gruppe mit Iran, Saudi-Arabien, Russland, den VAE und Brasilien künftig einige der größten Energieproduzenten der Welt. Iran beherbergt die zweitgrößten Gasvorkommen weltweit sowie ein Viertel der Ölvorkommen im Nahen Osten.
Im Manifest kritisieren die Unterzeichner die Iran-Politik des Westens deutlich: “Wir bekräftigen die Notwendigkeit, die iranische Atomfrage mit friedlichen und diplomatischen Mitteln im Einklang mit dem Völkerrecht zu lösen“, heißt es unter Punkt 21.
Der Beitritt Saudi-Arabiens hingegen war bereits von Experten erwartet worden. Im Vorfeld des Gipfels hatten China und auch Brasilien bereits ihre Unterstützung für den Beitritt ausgedrückt. Die Brics-Gruppe zu erweitern, sei wirtschaftlich nur sinnvoll, wenn Saudi-Arabien unter den neuen Mitgliedern sei, sagte der Erfinder des Brics-Akronyms, der Ökonom Jim O’Neill, zu Bloomberg.
Das Königreich ist der größte Ölproduzent der Welt, China der größte Ölkonsument. Da der größte Teil des Weltenergiehandels in Dollar abgewickelt wird, erleichtert die Erweiterung auch die Umstellung des Handels auf alternative Währungen. Als neuer Beitragszahler für die New Development Bank (NDB) der Brics-Länder ist Saudi-Arabien gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten von Bedeutung. Die Emirate sind bereits seit 2021 Mitglied der NDB.
Auch Ägypten ist seit März Anteilseigner der NDB. Das Land ist einer der Hauptempfänger amerikanischer Hilfszahlungen, unterhält aber seit langem enge Beziehungen zu Russland und hat wachsende Handelsbeziehungen zu China. Russland baut das erste ägyptische Atomkraftwerk und China Teile der neuen Hauptstadt. Ägypten leidet unter einer Währungskrise und setzt darauf, innerhalb der Brics-Gruppe ohne den Dollar Handel zu treiben.
Auch Argentinien kämpft mit einer Devisenkrise. Das Land will über die NDB Zugang zu alternativen Finanzierungsmöglichkeiten erlangen. Zu seinen Unterstützern innerhalb der Brics zählen der wichtigste Handelspartner und Nachbar Brasilien, sowie Indien und China.
Äthiopien zählt zu den eher unerwarteten Neulingen. Das Land ist zwar die drittgrößte Volkswirtschaft südlich der Sahara und liegt bei der Bevölkerung sogar auf Platz zwei. Äthiopiens BIP ist jedoch gerade einmal halb so groß wie das des kleinsten Brics-Mitglieds Südafrika. Zudem wird das Land zurzeit wieder von bewaffneten Zusammenstößen erschüttert.
Viele Beobachter hatten damit gerechnet, dass auch Indonesien unter den neuen Brics-Mitgliedern sein würde. Das Land habe um einen Aufschub seiner Mitgliedschaft gebeten, um sich mit seinen Partnern innerhalb der ASEAN zu beraten, erklärte Südafrikas Brics-Botschafter Anil Sooklal in einem Interview. Indonesien könne aber in den kommenden ein bis zwei Jahren aufgenommen werden.
Die Debatte um die Erweiterung der Brics-Gruppe war vor allem von China vorangetrieben worden. Die Volksrepublik setzt darauf, Alternativen zur westlich geprägten Weltordnung zu schaffen und will dafür möglichst viele Mitstreiter gewinnen. Russland ist international wegen des Ukrainekriegs isoliert und hofft ebenfalls, mit einer Brics-Erweiterung neue Unterstützer zu finden.
Indien und Brasilien waren zuletzt zögerlicher – auch wenn sie einer Erweiterung prinzipiell immer zugestimmt hatten. Sie befürchten, eine überhastete Erweiterung könnte den Wirtschaftsblock zu einem anti-westlichen Club machen. Beide Länder lehnen eine solche Positionierung ab. Indien ist zudem besorgt über die chinesische Dominanz innerhalb der Brics-Gruppe.
In ihrem Manifest fordern die Brics-Staaten “eine umfassende Reform” der Vereinten Nationen und des Weltsicherheitsrats, in dem die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs USA, Großbritannien und Frankreich, aber auch die beiden Brics-Staaten Russland und China mit Vetorecht ständige Mitglieder sind.
Dies sorgt immer wieder für Diskussionen, aber auch das Auswahlverfahren für jene Staaten, die nicht ständige Mitglieder sind. Der Weltsicherheitsrat, fordern die Brics-Staaten, müsse “demokratischer, repräsentativer, effektiver und effizienter” werden und die Entwicklungsländer stärker repräsentieren. Arne Schütte/Christian von Hiller
Am Donnerstagabend hat niemand geringeres als Russlands Präsident Wladimir Putin in Moskau den Tod des Wagner-Gründers Jewgenij Prigoschin – indirekt – bestätigt. Ohne dessen Namen zu nennen, sprach Putin von einer Tragödie und betonte den bedeutenden Beitrag von Wagner im Krieg gegen die Ukraine. Manche der in Russland prominenten Politologen, wie etwa Waleri Solowej, schließen aber auch eine Täuschung nicht aus.
Doch der Wissenschaftler, der sich lange mit der Wirkung von Propaganda beschäftigt hat, scheint diese These selbst nicht ganz ernst zu nehmen. In einem Gespräch mit dem russischen Journalisten Alexander Plushev am Donnerstag auf Youtube verwies Solowej darauf, dass der Tod Prigoschins den Zweck hat, die Machtübergabe nach Putin zu regeln. “Er (Putin) stirbt. Seine Umgebung weiß das, und der Tod Prigoschins soll die geplante Machtübergabe absichern und Einmischungen verhindern.”
Harte Belege für eine schwere Krankheit und ein baldiges Ableben Putins gibt es bisher nicht. Auch westliche Geheimdienstler, wie etwa CIA-Direktor William Burns, verweisen darauf, dass die mit dem Krieg zugenommenen Gerüchte über Putins Gesundheitszustand eher der Schwächung des politischen Gegners dienen sollen.*
Nach Angaben der russischen Behörden sind die Überreste von zehn Personen am Ort des Flugzeugabsturzes geborgen worden. Widersprüchliche Berichte gab es in russischen Medien und Telegram-Kanälen zur Identifizierung der Leichen, wonach die Körper von Prigoschin und seinem wichtigsten Vertreter, Dmitri Utkin, identifiziert worden sein sollen – oder aber bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren. In den sozialen Medien tauchten Bilder auf, die Einschusslöcher in Rumpfteilen des Jets zeigen sollen. Bereits am Abend des Absturzes wurde die Version eines “versehentlichen” Abschusses verbreitet.
Das Ereignis selbst bewertet die Politologin Jekaterina Schulmann negativ. “Alles, was gerade geschieht, ist sehr schlecht. Es gibt daran nichts Gutes”, sagte sie in der Youtube-Sendung von Plushev. “Das sind Zeichen für einen Failed State. Es ist absurd anzunehmen, dass diese Rache an Prigoschin, über die nun auf den ersten Seiten der Weltpresse zu lesen ist, Putins Position sichert.” Wenn Putin seine Umgebung mit solcher Gewalt in Schach halten müsse, dann stellt sich die Frage, ob nichts anderes sie mehr abschrecke? Schulmann erläuterte kürzlich im Interview mit Table.Media, dass die zunehmende Repression in Russland ein Zeichen für einen Zerfall des Regimes sei und nicht eine Stabilisierung.
Russlandkenner und Leiter des Landesprogramms der Friedich-Ebert-Stiftung, Alexey Yusupov, sagte auf Anfrage von Table.Media: “Prigoschin hatte etwas getan, was eigentlich nur dem Präsidenten vorbehalten war: Er sprach zum Volk. Er sprach zur Öffentlichkeit mit politischem Vorhaben. Er hatte damit ein Tabu gebrochen und das musste wohl richtiggestellt werden.”
Yusupov ergänzte, dass mit dem Angriff auf Prigoschin sich das System nun gegen eigene Leute wende, das habe es bisher in diesem Ausmaß nicht gegeben. “Bis zur Revolte vor zwei Monaten hatte das System die inneren Konflikte selbst geregelt. Damit war es dann mit dem Putschversuch vorbei. Das ist ein wichtiger Punkt.” Und die jetzige Vergeltung deute darauf hin, dass etwas im Gange ist und eine neue Dynamik in den Eliten aufkomme.
Kurzfristige Auswirkungen auf den Krieg in der Ukraine, die am 24. August ihren Unabhängigkeitstag gefeiert hat, wird der mutmaßliche Tod wohl nicht haben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beeilte sich lediglich darin zu versichern, dass die Ukraine ihre Hände nicht im Spiel gehabt habe.
Mehr Auswirkungen sind für Belarus zu erwarten. Dort baut das Wagner-Camp wohl seinen Standort ab. Das unabhängige journalistische Projekt Hajun, das in Belarus das Militär beobachtet, berichtete vom Rückbau des Lagers südöstlich von Minsk.
Auch ukrainische Telegram-Kanäle berichteten von einem Abzug der Wagner-Truppen seit Anfang August. Insgesamt sollen dort 2.000 Mann stationiert gewesen sein. Die Verlegung von Wagner-Einheiten nach Belarus kurz nach dem Putschversuch im Juni hatte unter anderem in Polen und baltischen Staaten die Sorge vor einer steigenden Gefahr ausgelöst.
Noch unklar ist die Situation für Wagner-Truppe in den afrikanischen Staaten Mali, Zentralafrikanische Republik und Burkina Faso. Sein letztes Video für die Öffentlichkeit soll Prigoschin in Mali aufgezeichnet haben, es war Anfang der Woche verbreitet worden. Ob der Tod des Milizenführers etwas an russischer Präsens in den genannten Staaten ändert, bleibt vorerst offen.
Und was wird aus der Wagner-Gruppe selbst? Russische Telegram-Kanäle haben nach den Meldungen über Prigoschins Tod verkündet, dass es einen Plan B gebe. Konkret schrieben etwa der Kreml-kritische Kanal Gulagu.net mit Verweis auf Quellen in Wagner-Strukturen, dass in naher Zeit kompromittierendes Material über die russische Machtspitze veröffentlicht werden soll. Ob und in welcher Form Wagner selbst bestehen bleiben wird, ist aktuell verlässlich nicht zu sagen.
* Diesen Absatz hat die Redaktion nach der Veröffentlichung des Artikels hinzugefügt. Die Aussage des ehemals Kreml-nahen Politologen Waleri Solowej lässt sich nicht überprüfen.
29.08.-30.08.2023
Informelle Ministertagung Verteidigung
Themen: Die Verteidigungsminister kommen zu Beratungen zusammen. Infos
29.08.2023 – 11:30-12:30 Uhr
Sitzung des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI)
Themen: Bericht über die laufenden interinstitutionellen Verhandlungen, Berichterstattung über Umweltdaten von Industrieanlagen und Einrichtung eines Industrieemissionsportals, Entwurf einer Stellungnahme zum Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2024. Vorläufige Tagesordnung
30.08.-31.08.2023
Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten (AFET)
Themen: Entwurf des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2024, Gedankenaustausch über die Lage in Niger, Berichtsentwurf zur Einrichtung der Fazilität für die Ukraine, Berichtsentwurf zur Umsetzung des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit. Vorläufige Tagesordnung
30.08.-31.08.2023
Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft und Währung (ECON)
Themen: Entwurf einer Stellungnahme zum Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2024, Entwurf einer Stellungnahme zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts, Berichtsentwurf zur Verordnung zur Stärkung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Vereinfachung des Zugangs zu Kapital für kleine und mittlere Unternehmen. Draft Agenda
30.08.2023
Informelle Ministertagung Auswärtige Angelegenheiten
Themen: Die Außenminister kommen zu Beratungen zusammen. Infos
30.08.2023 – 09:00-12:30 Uhr
Sitzung des Ausschusses für Entwicklung (DEVE)
Themen: Entwurf einer Stellungnahme zum Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2024, Berichtsentwurf zur Rolle der Entwicklungspolitik der Europäischen Union bei der Umgestaltung der Rohstoffwirtschaft für eine nachhaltige Entwicklung in den Entwicklungsländern, Berichtsentwurf zur Umsetzung des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit. Vorläufige Tagesordnung
30.08.2023 – 11:15-12:30 Uhr
Gemeinsame Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten (AFET) und des Haushaltsausschusses (BUDG)
Themen: Berichtsentwurf zur Einrichtung der Fazilität für die Ukraine. Vorläufige Tagesordnung
30.08.2023 – 14:30-15:30 Uhr
Gemeinsame Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten (AFET) und des Ausschusses für Entwicklung (DEVE)
Themen: Berichtsentwurf zur Umsetzung des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit. Vorläufige Tagesordnung
30.08.2023 – 15:10-16:00 Uhr
Gemeinsame Sitzung des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) und des Ausschusses für Rechte der Frauen und Gleichstellung der Geschlechter (FEMM)
Themen: Berichtsentwurf zur Standards für Gleichstellungsstellen im Bereich der Gleichbehandlung und Chancengleichheit von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen. Vorläufige Tagesordnung
03.09.-05.09.2023
Informelle Ministertagung Landwirtschaft
Themen: Die Landwirtschaftsminister kommen zu Beratungen zusammen. Infos
Wenige Wochen vor der bayerischen Landtagswahl haben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) am Donnerstag gemeinsam ein Projekt zur Gewinnung geothermischer Energie eingeweiht. Scholz versprach, Erdwärme solle eine bedeutendere Rolle für die Energiewende spielen als bisher.
Der Bund wolle bis 2030 “soviel Erdwärme wie möglich” erschließen, um “zehn Mal soviel Erdwärme ins Netz einzuspeisen wie heute”. Söder kündigte an, bis 2050 “einen Großteil des bayrischen Energiebedarfs aus Geothermie” gewinnen zu wollen.
Auch Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) wollte da nicht fehlen und lobte die Energiequelle. Er sagte Table.Media, im Gegensatz zur Windenergie sei Geothermie grundlastfähig, werde unterirdisch gewonnen und sei dadurch für die Bevölkerung nicht sichtbar.
Zwischen 200 und 350 Millionen Euro fließen in das Projekt in Geretsried. Knapp 92 Millionen werden aus dem Innovationsfonds der EU beigesteuert. Mehr dazu lesen Sie in dieser Analyse. luk
Die niederländische Regierung will am Freitag Außenminister Wopke Hoekstra als EU-Kommissar nominieren. Hoekstra würde Frans Timmermans als niederländischer Kommissar nachfolgen, der sein Amt aufgab, um bei den Parlamentswahlen in seinem Land zu kandidieren.
Timmermans tritt an, um nach der Wahl am 22. November Ministerpräsident und Nachfolger des vorzeitig abgetretenen Regierungschefs Mark Rutte von den Liberalen zu werden. In der EU-Kommission war Timmermans verantwortlich für den Green Deal. Diese Verantwortung übernimmt jetzt der slowakische Kommissionsvize Maroš Šefčovič.
Hoekstra war von 2017 bis 2022 niederländischer Finanzminister. Das niederländische Außenministerium lehnte eine Stellungnahme ab. Ein Vertreter der ständigen Vertretung der Niederlande bei der Europäischen Union sagte, man könne den Bericht nicht bestätigen. tho/rtr
Lettlands Staatspräsident Edgars Rinkevics hat Evika Siliņa mit der Regierungsbildung in dem baltischen EU- und Nato-Land beauftragt. Eine Woche nach dem Rücktritt von Regierungschef Krisjanis Karins und Gesprächen mit allen sieben im Parlament vertretenen Parteien nominierte der Staatschef am Donnerstag die 48 Jahre alte bisherige Wohlfahrtsministerin.
“Ich bin davon überzeugt, dass Frau Siliņa die Aufgabe in ausreichend kurzer Zeit erfüllen kann. Ihre Erfahrung und Wissen sind ein guter Anfang für die Schaffung eines funktionierenden Ministerkabinetts”, sagte Rinkevics auf einer Pressekonferenz in Riga. Der lettische Präsident, der sich für eine möglichst breite Koalition ausgesprochen hatte, äußerte die Hoffnung, dass die Regierungsbildung bis Mitte September abgeschlossen sein wird.
Auch Siliņa nannte diesen Termin als Ziel und erklärte, am Freitag mit vier Parteien Koalitionsverhandlungen aufnehmen zu wollen. Die Politikerin der liberalkonservativen Regierungspartei Jauna Vienotiba war die einzige Kandidatin, die von den Parteien offiziell für das Amt des Ministerpräsidenten in dem Ostseestaat nominiert wurde. dpa
Die Deutsche Bank stellt sich in der Kommunikation mit der Politik neu auf und siedelt ihren neuen Leiter für politische Angelegenheiten weltweit in Brüssel und London an. Der künftige Global Head of Political Affairs, Stephen Fisher übernimmt sein Amt zum 1. Oktober und berichtet direkt an Ben Alka, Global Head of Corporate Affairs & Strategy.
Fisher kommt vom US-Vermögensverwalter Blackrock, wo er Co-Head Global Public Policy Group EMEA war. Zuvor arbeitete er unter anderem für den niederländischen und den europäischen Bankenverband sowie die britische Finanzaufsicht. “Ich freue mich sehr, dass wir mit Stephen Fisher einen versierten, gut vernetzen Kenner der politischen Landschaft und der Finanzbranche gewinnen”, erklärte Alka in einer Pressemeldung der Bank.
Fisher habe umfangreiche Erfahrung im Austausch mit politischen Entscheidern und bei Regulierungsthemen, ergänzte Alka. Er werde die Bank dabei unterstützen, ihre Beziehungen zur Politik in Europa und anderen wichtigen Märkten weltweit weiter auszubauen.
Fisher folgt auf Sven Afhüppe. Die Deutsche Bank hatte den früheren Chefredakteur des Handelsblatts zu sich geholt, um die teils belasteten Beziehungen vor allem zur Politik in Berlin zu verbessern, was laut Alka auch gelungen sei. Die Bank legt den Fokus nun wohl mehr auf Europa und die Welt. vis
Am 9. Juni 2024 werden die Franzosen zur Wahl ihrer 79 Europaparlamentarier aufgerufen. Historisch gesehen ist dies die Wahl, die in Frankreich nur wenige Menschen mobilisiert: Kaum die Hälfte der französischen Wähler zeigt besonderes Interesse an dieser Abstimmung. Dennoch sind die politischen Herausforderungen nicht unbedeutend: Diese Wahl könnte die rechtsextreme Rassemblement National (RN) und die Regierungspartei Renaissance als die Hauptkräfte im Land festigen. Sie könnte jedoch auch zu einem Aufstieg der linken Parteien führen. Unter einer Voraussetzung: dass sie ihre tiefe Spaltung überwinden können.
Es geht dabei um die vier linken Parteien – La France Insoumise (LFI), Parti Socialiste (PS), Parti Communiste (PC) und Europe Écologie/Les Verts (EELV) -, die seit den Parlamentswahlen im Juni 2022 unter dem Banner der Nouvelle Union populaire écologique et sociale (Nupes) vereint sind.
Seit Monaten drängt La France Insoumise auf die Bildung einer einzigen Liste der Nupes für die kommenden Europawahlen. Doch im vergangenen Juli haben die französischen Grünen (EELV) ihre Strategie für eine eigenständige Liste mit 86 Prozent Zustimmung gebilligt. Die Ökologen wollen bei den nächsten Europawahlen allein antreten und haben sogar bereits ihre Spitzenkandidatin benannt: die Europaabgeordnete Marie Toussaint. Die “Ecolos” haben sich dabei sicherlich daran erinnert, dass die Grünen 2019 dreizehn Europaabgeordnete gewählt haben können, während die “Insoumis” und die Sozialisten jeweils nur sechs Sitze erreichten.
Eine im letzten Mai veröffentlichte Umfrage von Cluster17 für Le Point hat dennoch einige Diskussionen hervorgerufen: Eine gemeinsame Liste der Nupes würde bei der Wahl mit 27 Prozent der Stimmen vorn liegen, gefolgt vom Rassemblement National (25,5 Prozent) und der Regierungspartei (23 Prozent).
Im Falle getrennter linker Listen wäre die Summe der Stimmen der Linken – LFI (11 Prozent), EELV (11 Prozent), PS (9 Prozent) und PCF (4 Prozent), zusammen 35 Prozent – höher als das Ergebnis einer gemeinsamen Liste. Dann würde der Rassemblement National (24 Prozent) an erster Stelle stehen, gefolgt von der Regierungspartei, die dann ein geringeres Ergebnis erzielen würde (19,5 Prozent).
Dies könnte erklären, warum La France Insoumise und vor allem ihr Anführer Jean-Luc Mélenchon, der für seine nicht gerade freundlichen Ansichten gegenüber Deutschland bekannt ist, in den vergangenen Monaten den Druck auf die Grünen erhöht haben. Die “Insoumis” wiederholen fast jede Woche gegenüber der Vorsitzenden der Grünen, Marine Tondelier, die Notwendigkeit einer einzigen Liste. Tondelier reagierte mit einer klaren Botschaft: “Die Grünen werden ihre Meinung nicht ändern, nur weil ein Kerl fünfmal dasselbe immer lauter sagt.” – Ambiance.
Hinter diesem Machtkampf zeichnet sich in Frankreich ein politischer Kampf ab, bei dem die anderen linken Parteien, und eben insbesondere die Grünen, eine Nupes ausgleichen wollen, die seit ihrer Gründung von LFI dominiert wird. LFI ihrerseits erkennt die Bedeutung des linken Zusammenschlusses im Jahr 2024 für das Überleben von Nupes und prophezeit andernfalls deren Zerfall.
Diese Spannungen könnten nun auf Marie Toussaint lasten, die deutlich positiver zur Nupes steht und deren Ernennung von LFI als “Signal” aufgenommen wurde. Zwar ist sie in der breiten Öffentlichkeit unbekannt, aber sie hat sich mit der “Affaire du siècle” in der Aktivistenwelt einen Namen gemacht: 2019 verklagte sie mit ihrer Umweltrechts-NGO Notre affaire à tous gemeinsam mit drei anderen Organisationen (Greenpeace, Fondation pour la nature et l’homme und Oxfam) den französischen Staat und forderte ihn auf, seine Klimaschutzverpflichtungen einzuhalten.
Mehr als zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger unterzeichneten die parallel gestartete Petition. 2021 wurde Frankreich vom Staatsrat wegen Untätigkeit im Klimaschutz verurteilt. “Meine Hauptwaffe ist das Recht”, sagte die Absolventin im Bereich des internationalen Umweltrechts. Von nun an wird sie jedoch die juristische Sprache zugunsten einer deutlich politischeren Sprache zurücklassen müssen.