das Gute an disruptiven Ereignissen wie der Korruptionsaffäre im Europäischen Parlament sind seine Nachwirkungen. Denn in die Debatte um eine europäische Ethikbehörde kommt jetzt wieder Schwung, schreibt Eric Bonse. Für alle EU-Institutionen müssten nun strenge Regeln eingeführt werden, heißt es aus Brüssel. Doch es sind längst nicht alle Institutionen auf einer Linie. Es wird sich zeigen, wie schnell es nun tatsächlich zu Änderungen kommt.
Meine Kollegin Charlotte Wirth hat mit EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit über Inflation und Armutsrisiko, eine neue Definition der Mittelschicht und einen besseren Schutz für Menschen, die für Online-Plattformen wie Uber arbeiten, gesprochen. Sein Standpunkt: Die EU müsse Flagge zeigen und klar machen, dass neue Geschäftsmodelle auf dem niedrigsten sozialen Niveau nicht akzeptabel sind.
Eigentlich war alles klar. Die Rente stand vor der Tür, Carsten Pillath hatte sich darauf gefreut. Dann rief Bundesfinanzminister Christian Lindner an und fragte ihn, ob er nicht sein Staatssekretär werden wollte. Er wollte und ist seit nun einem knappen Jahr im Finanzministerium zuständig für Europa und Internationales. Mehr über den Mann, der auch bereits an der Rettung der Währungsunion beteiligt war, lesen Sie im Portrait.
Getrieben durch die Korruptionsaffäre im Europaparlament und den drohenden Image-Schaden für die EU, hat sich von der Leyen am 12. Dezember nach langer Pause erstmals wieder öffentlich zu dem Vorhaben bekannt. Der Skandal habe gezeigt, dass die EU “die höchsten Standards” brauche, erklärte von der Leyen. “Meiner Meinung nach wäre es richtig, dass wir ein Ethikgremium einrichten”.
EU-Kommissionsvize Vera Jourova wurde beauftragt, Gespräche mit dem Parlament und den EU-Staaten zu führen. Es gehe darum, strenge Regeln für alle Institutionen einzuführen, heißt es in der Brüsseler Behörde. Von der Leyen hatte bereits im März einen Brief an die wichtigsten EU-Gremien geschickt, um eine gemeinsame Position auszuloten. Im September folgte ein Meeting auf “technischer Ebene” – ohne durchschlagenden Erfolg.
Jedenfalls lassen hochrangige, politische Gespräche auf sich warten. Der Grund: Die angesprochenen Gremien – darunter die Europäische Zentralbank, der Europäische Gerichtshof und der EU-Rechnungshof – sind nicht auf einer Linie. Einige Institutionen pochen auf ihre Unabhängigkeit, sie wollen sich nicht auf ressortübergreifende Regeln einlassen. Andere drücken dagegen aufs Tempo und fordern, zur Not in kleinerem Kreis zu starten.
Dies lehnt jedoch die EU-Kommission ab. Man brauche strikte Regeln für alle Institutionen und wolle keine Ausnahmen dulden, heißt es in der Brüsseler Behörde. Tatsächlich wäre es problematisch, wenn die geplante neue Ethikbehörde nur den “harten Kern” der Brüsseler Institutionen – Kommission, Rat und Parlament – ins Auge fasst und ausgerechnet die europäischen Finanzinstitutionen ausgeklammert würden.
Aus praktischer Sicht ist jedoch Eile geboten. Wenn die Ethikbehörde erst ihre Arbeit aufnimmt, wenn der Skandal vorbei ist, dann kann sie nicht mehr viel zur Aufarbeitung beitragen. Das Europaparlament hat die EU-Kommission daher aufgefordert, ihren Vorschlag für ein Ethikgremium nicht mehr länger hinauszuzögern. “Parliament urges the Commission to finally come forward with a proposal to set up the Independent Ethics Body that Parliament proposed in September 2021″, heißt es in einer Resolution vom 15. Dezember.
Die EU-Kommission halte sich nicht an ihre eigenen Regeln, kritisiert der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund. So habe die interne Ethik-Kontrolle der Kommission ausgerechnet bei “Fight Impunity” und damit bei jener Organisation versagt, die im Mittelpunkt des Korruptionsskandals steht. Dem Ethik-Gremium fiel zwar auf, dass die NGO nicht im EU-Lobbyregister verzeichnet war. Sie habe jedoch dem früheren EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos vertraut, der für “Fight Impunity” eintrat.
“Das Ethik-Gremium der EU-Kommission hatte die Chance, das vermutete Korruptionsnetzwerk frühzeitig aufzudecken, und ließ sie fahrlässig verstreichen”, so Freund. “Der Fall muss Kommissionspräsidentin von der Leyen aufwecken. Von der Leyen muss so schnell wie möglich einen Entwurf für ein EU-Ethik-Gremium vorlegen, das die Schwächen des bisherigen Systems repariert.”
Doch zunächst einmal will die Brüsseler Behörde ihren ehemaligen Kommissar Avramopoulos anhören. Man werde den Griechen schriftlich um Informationen darüber bitten, inwieweit er sich an die Auflagen gehalten habe, sagte ein Kommissionssprecher am Mittwoch. Brüssel ist um Schadensbegrenzung bemüht, immer noch. Der Vorschlag für das Ethikgremium muss daher wohl weiter warten.
Herr Schmit, durch die hohe Inflation und die Energiekrise rutschen viele Menschen in Armut. Die Quote liegt bei rund 20 Prozent. Ihr Ziel war, das Armutsrisiko zu senken, wie gehen Sie damit um?
Wir beobachten momentan nicht nur, dass das Armutsrisiko steigt. Es sind auch Menschen betroffen, die man damit nicht in Verbindung gebracht hätte. Wenn die Bürger einen immer größeren Teil des Einkommens für Energie und Lebensmittel ausgeben müssen, geraten viele in Schwierigkeiten, die eigentlich ein angemessenes Gehalt haben. Die Mitgliedstaaten versuchen gegenzusteuern. Die EU hat verschiedene Vorschläge gemacht, unter anderem für einen Gaspreisdeckel. Auf jeden Fall müssen wir die Energiewende vorantreiben. Und wir überlegen, wie wir europäischen Haushalten punktuell helfen können, etwa mit den ungenutzten Geldern der Kohäsionspolitik.
Muss die Definition für Mittelschicht überdacht werden?
Mittelschicht ist ein nebulöser Begriff. Als Richtwert gilt in erster Linie das Mediangehalt, die Armutsgrenze ist erreicht, wenn das Einkommen weniger als 60 Prozent davon ausmacht. In der EU haben viele Menschen ein Einkommen um diesen Richtwert.
In vielen Mitgliedsländern wächst die Wohnungsnot…
Das Problem macht sich in Europa immer mehr breit. Die Kommission hat hier wenig Kompetenzen, wir können uns nicht in den Wohnungsbau einmischen. Es ist klar, dass deutlich mehr in erschwingliche und nachhaltige Wohnungen investiert werden muss. Der Staat sollte eingreifen und die Sanierung von Wohnungen und Gebäuden gezielt subventionieren, ohne dass die Mieten in die Höhe schießen. Die EU sollte die Mitgliedstaaten dazu ermuntern.
Das Armutsrisiko wächst auch in Deutschland. Wird dem Thema genug Bedeutung beigemessen?
Je höher das Armutsrisiko, desto mehr geht die Schere zwischen Reich und Arm auseinander. Arme können mit dem Lebensstandard, der in einer Gesellschaft als normal angesehen wird, nicht mehr mithalten. Wir bekommen dadurch ein Problem der Ausgrenzung, die Spaltung in der Gesellschaft wird größer, die soziale Kohäsion bröckelt. Wir haben zum Beispiel die Kindergarantie ins Leben gerufen, die helfen soll, Kinderarmut zu bekämpfen, die es auch in reichen Staaten gibt. Auch in Ländern wie Deutschland gibt es aber Kinder, die aus Armut am normalen Leben nicht teilnehmen können und diskriminiert werden. Armut, auch in reichen Gesellschaften, ist ein Thema.
Es fehlen Fachkräfte, um die Energiewende voranzutreiben. 2023 ist das EU-Jahr der Skills/Kompetenzen, wie kriegen wir die Skills nach Europa?
In der EU gibt es etwa acht bis neun Millionen Menschen, die keinen Job haben, keine Ausbildung machen und auch nicht zur Schule gehen. Diese Menschen müssen wir erreichen und ihnen ein Angebot machen. Der Arbeitsmarkt verlangt zunehmend höhere Qualifikationen. Dieser Entwicklung müssen wir Rechnung tragen, indem wir die stille Reserve erschließen. Dazu brauchen wir sozialpolitische Maßnahmen. Wir müssen ihnen ein Angebot machen, um sie auf den Arbeitsmarkt zu bringen.
Es fehlen aber auch die Hochqualifizierten. Brauchen wir mehr Zuwanderung?
Wenn wir unseren Arbeitsmarkt besser auslasten wollen, ist Migration ein Schlüssel. Die Kommission etwa hat eine Talent-Pool-Initiative gestartet, die sich derzeit auf geflüchtete Ukrainer fokussiert, darunter sind viele sehr Qualifizierte. Leider gibt es in vielen Mitgliedstaaten Parteien, die vor allem auf das Thema Migration setzen und mit der Abwehr von Migration auf Stimmenfang gehen. Zuwanderung war in der Vergangenheit nicht immer ein Erfolg, weder für die Migranten noch für die Gesellschaften. Die soziale und kulturelle Integration wurde vernachlässigt. Wir haben nicht genug in die Migration investiert. Das bezahlen wir nun mit einer Ablehnung und politischen Ausnutzung des Themas.
Die Kommission will die Arbeit bei den Plattformen regulieren. Warum ist die Gesetzgebung so zäh?
Die Mitgliedstaaten konnten sich noch nicht auf einen Kompromiss einigen. Der Kompromiss, den die Mitgliedstaaten zuletzt diskutierten, war so schwach, dass die Richtlinie in verschiedenen Ländern gar keine Auswirkung mehr gehabt hätte. Das kann nicht die Lösung sein. Wir wollen, dass Plattformarbeiter das Recht auf sozialen Schutz und faire Bezahlung bekommen. Wenn die Unternehmen Flexibilität wollen, kann das nicht heißen, dass man mit fiktiven Selbstständigen ohne jegliche Rechte arbeitet. Dieses Modell darf nicht Schule für andere Branche machen.
Unternehmen wie Uber und Co. haben mit ihren Geschäftsmodellen Tatsachen geschaffen, kommt die Regulierung zu spät?
Mit der Technologie entwickeln sich neue Modelle. Ohne Internet kein Facebook. Die Regulierung setzt naturgemäß immer mit gewisser Verspätung an. Oft ist zu erkennen, dass die soziale Komponente auf der Strecke bleibt. Menschen, die über physische Arbeit etwa als Fahrradkurier für die Plattformen notwendige Arbeiten erledigen, werden schlecht bezahlt, grundlegende Absicherung wird verwehrt. Hier muss die EU Flagge zeigen und klar machen, dass neue Geschäftsmodelle auf dem niedrigsten sozialen Niveau nicht akzeptabel sind.
Algorithmen bestimmen zusehends unseren Arbeitsablauf. Gibt es Handlungsbedarf?
Nach der Plattform-Arbeit ist die nächste große Baustelle, die Problematik der Algorithmen in der Arbeitswelt zu regulieren. Es wird etwa um Fragen gehen, was ein Algorithmus kontrollieren darf und wie weit er in Arbeitsabläufe eingreifen darf. Die Maschine darf nicht zur Meisterin der Arbeitswelt werden. Die nächste Kommission sollte dieses Thema aufnehmen.
Die Wirtschaft versucht gerade unter Hinweis auf die Krisen, unangenehme EU-Gesetze auszubremsen. So auch das Lieferkettengesetz…
Wir sollten unsere Lieferketten von anderer Perspektive betrachten. Deutschland, ein Land mit der am besten entwickelten chemischen Industrie, fehlt es gerade an Paracetamol für Kinder. Der Grund: Die Moleküle kommen zum Teil aus Indien. Man kann über Details reden, etwa Anforderungen für kleinere Unternehmen und inwieweit das Gesetz in die Lieferketten hineinreichen sollte. Aber man sollte die Frage nach dem Schutz der Menschenrechte und nach den Arbeitsbedingungen nicht aus den Augen lassen. Die nötige Sensibilität für Klimafragen haben wir mittlerweile. Es ist überfällig, dass wir genauso aufmerksam werden, wenn es um Zwangsarbeit und Kinderarbeit geht.
Die Mitgliedstaaten wollen die Finanzindustrie beim Lieferkettengesetz ausnehmen. Schaffen wir damit nicht ein Schlupfloch?
Wer in Firmen investiert, legt dafür finanzielle Kriterien an. Rechnet sich das Investment wirtschaftlich? Jetzt sagt die EU-Politik den Unternehmen, dass Investitionen in fossile Unternehmungen auf Dauer unwirtschaftlich sind, sich wegen der Rahmenbedingungen nicht lohnen werden. Die gleichen Kriterien sollten auch für Menschenrechtsverletzungen gelten. Künftig soll sich ein Investment nur lohnen, wenn fundamentale Menschenrechte und Arbeitsrechte gewahrt werden.
Die EU-Kommission hat das 28 Milliarden schwere Förderprogramm für erneuerbare Energien der Bundesregierung genehmigt. Das teilte die Institution am Kommission mit. Damit soll die Wind- und Sonnenenergie rasch ausgebaut werden.
Das Programm ersetzt ein bestehendes Förderprogramm für erneuerbare Energien und hat eine Laufzeit bis 2026. Es soll dazu beitragen, dass Deutschland sein Ziel erreicht, bis 2030 80 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen.
Die Europäische Kommission erklärte, die Regelung sei “notwendig und angemessen”, um erneuerbare Energien zu fördern und den Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern. Ihre positiven Auswirkungen auf die Umwelt würden mögliche Wettbewerbsverzerrungen überwiegen.
“Die Regelung des deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2023 wird zur weiteren Dekarbonisierung der Stromerzeugung beitragen”, sagte Wettbewerbs-Kommissarin Margrethe Vestager in einer Erklärung.
Die Regelung sieht vor, dass Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Energien zusätzlich zum Marktpreis, den sie für den Verkauf ihres Stroms erhalten, eine Prämie erhalten. Kleine Erzeuger können einen Einspeisetarif erhalten, der ihnen einen festen Preis für ihren Strom garantiert.
Die Kommission erklärte, dass Berlins staatliche Unterstützung für erneuerbare Energien auf das “notwendige Minimum” beschränkt sei und Schutzmaßnahmen zur Minimierung von Wettbewerbsverzerrungen enthalte. Die Unternehmen müssen sich im Rahmen staatlicher Ausschreibungen um die Beihilfen bewerben.
Um zu vermeiden, dass Unternehmen doppelt vergütet werden, wird Deutschland außerdem die bestehende Unterstützung für Erzeuger erneuerbarer Energien in Zeiten negativer Strompreise bis 2027 auslaufen lassen. rtr
Deutschland darf von Russlands Krieg gegen die Ukraine betroffenen Unternehmen mit 49 Milliarden Euro unter die Arme greifen. Die EU-Kommission genehmigte am Mittwoch nach eigenen Angaben eine entsprechende deutsche Regelung. Vorausgegangen war eine wettbewerbsrechtliche Prüfung.
Das deutsche Unterstützungspaket zielt auf Unternehmen ab, die Endverbraucher von Strom, von Erdgas beziehungsweise von mit Erdgas oder Strom erzeugter Wärme sind. Die staatliche Förderung soll in Form von Zuschüssen gewährt und über Energieversorger in monatlichen Tranchen durch Rabatte bei Rechnungen bereitgestellt werden. Anschließend erstattet der Staat den Energieversorgern die Kosten.
Dabei gibt es verschiedene Höchstgrenzen für unterschiedliche Unternehmen. Sie liegen zwischen maximal 4 Millionen und – bei besonders betroffenen Unternehmen – 150 Millionen Euro. Die Maßnahme soll bis Ende 2023 laufen.
Als Hüterin eines fairen Wettbewerbs in der EU prüft die Europäische Kommission, ob staatliche Beihilfen verzerrend in den Markt eingreifen. In diesem Fall kam sie aber zu dem Schluss, dass die deutsche Regelung mit EU-Recht im Einklang ist. “Folglich hat die Kommission die Maßnahme nach den EU-Beihilfevorschriften genehmigt”, so die Brüsseler Behörde. Um EU-Unternehmen besser vor Kriegsfolgen wie hohe Energiepreise zu schützen, waren die Regeln für Beihilfen gelockert worden. dpa
Die US-Regierung wird der Ukraine erstmals das Patriot-Flugabwehrsystem liefern. Es sei Teil eines neuen Militärhilfe-Pakts in Höhe von 1,85 Milliarden US-Dollar (rund 1,7 Milliarden Euro) für das von Russland angegriffene Land, teilte das US-Außenministerium am Mittwoch mit. Damit steigt die gesamte US-Militärhilfe für die Ukraine seit Beginn der Amtszeit von Präsident Joe Biden im Januar 2021 auf 21,9 Milliarden US-Dollar.
Das Weiße Haus hatte bereits zuvor mitgeteilt, dass die US-Regierung im Zuge des Besuchs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Washington die Patriot-Lieferung und die zusätzliche Militärhilfe offiziell bekanntgeben werde.
“Wir werden die Ukraine so lange unterstützen, wie es nötig ist, damit Kiew sich weiterhin verteidigen kann und zu gegebener Zeit am Verhandlungstisch eine möglichst starke Position einnimmt”, erklärte nun das Außenministerium.
In dem neuen Paket sind den Angaben nach neben dem Patriot-Flugabwehrsystem weitere Unterstützung für die Luftverteidigung sowie zusätzliche Munition und wichtige Ausrüstung enthalten. Das Luftverteidigungssystem Patriot kann Flugzeuge, Marschflugkörper, Drohnen und Raketen auch in größerer Entfernung abwehren. Es dürfte Russlands Angriffe mit Raketen und Drohnen auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine erschweren. dpa
Der Anruf aus Berlin erreichte den EU-Generaldirektor Carsten Pillath wenige Tage vor dem Ruhestand. Am anderen Ende der Leitung Christian Lindner: “Im Namen der Bundesrepublik Deutschland möchte ich Ihnen ein Angebot machen. Ich möchte, dass Sie mein Staatssekretär werden.”
Damit hatte der heute 66-jährige Pillath nun gar nicht gerechnet. “Ich hatte mich schon auf die Zeit danach eingestellt, und musste erst einmal viele Stunden mit mir ringen. Am Ende überzeugte mich meine Frau. Sie sagte: Hier hast du die Chance, mit allem, was du gelernt hast, den deutschen Finanzminister zu unterstützen. Du hast dich immer als Diener des Staates verstanden.”
Das zog, und Pillath sagte zu. Der neue Finanzstaatssekretär, seit dem 3. Januar 2022 im Hause Lindner für Europa und Internationales zuständig, war immer noch in Brüssel, als er in seiner ersten Amtshandlung per Video ins BMF zugeschaltet wurde. Dort ging es um den deutschen G7-Vorsitz für 2022, wo auf Impuls von Pillath der Kampf gegen die Inflation zum Kernthema wurde. “Ich glaube, die Sitzung hat sehr geholfen, dass der Minister Vertrauen zu mir gefasst hat. Seither läuft es zwischen uns auf der persönlichen Schiene sehr gut.” Carsten und Christian sind heute per Du.
Für den parteiungebundenen Pillath ist die Berufung ins BMF einmal mehr eine Rückkehr an seinen Geburtsort. Pillath, der in sehr einfachen Verhältnissen aufwuchs, wurde am 23. Oktober 1956 in Berlin-Wilmersdorf geboren. Beide Eltern waren im selben Jahr zuvor aus Dresden nach Berlin geflüchtet. “Ich bin ein Kind mit Migrationshintergrund: ein gezeugter Ossi, aber ein geborener Wessi.”
Nach verschiedenen Stationen in Deutschland landete Pillath im Bergischen Land in Overath. Als Ältester und Einziger unter fünf Geschwistern besuchte er die höhere Schule. Nach dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Abitur 1975 und der Bundeswehr begann Pillath in Köln ein Studium der Volkswirtschaftslehre. In dieser Zeit nahm der Sport bereits großen Raum bei ihm ein. “Ich habe viele Jahre Handball gespielt, bis am Ende hoch zur zweiten Bundesliga. Eine Zeitlang habe ich unter Vlado Stenzel trainiert. Mache ich aus dir neuen Hansi Schmidt, war sein Spruch.”
Aber am Ende drang die Erkenntnis durch, dass es dazu und für das Profigeschäft im Handball allgemein nicht reichte. Pillath machte seinen Abschluss zum Diplom-Volkswirt, im Juli 1991 folgte die Promotion zum Dr. rer. pol. Nach diversen Stationen an der Uni, im Bundesfinanzministerium, beim Internationalen Währungsfonds und im Kanzleramt, zum Großteil mit Europa-Bezug, wurde Pillath am 1. September 2008 zum Generaldirektor für “Wirtschaft und Soziales” im Generalsekretariat des Rates in Brüssel berufen.
Auf diesem Posten unterstützte er die Koordination der Institutionen im Gang der EU-Gesetzgebung und spielte vor allem in der Eurokrise als Koordinator eine wichtige Rolle. Bereits mit seinem ersten Informellen Treffen der EU-Finanzminister in Nizza noch im selben Monat musste er auf Krisenmodus schalten. “An dem Wochenende in Nizza brach die US-Investmentbank Lehman Brothers zusammen. Das war der Anfang der Finanzkrise, dann folgte die Eurokrise, die uns über Jahre in Atem hielt.”
Pillath erinnert sich an den Höhepunkt im Juli 2015: “Es lag ein Vorschlag zu Griechenland auf dem Tisch. Dann aber sagte Griechenlands Premier Alexis Tsipras, das könne er nicht akzeptieren, dann sei er raus aus der Währungsunion. Daraufhin nahm sich Kanzlerin Angela Merkel – es war 6 Uhr morgens – das Papier und sagte, sie sei in wenigen Minuten zurück. Aus den Minuten wurden Stunden. Um 9 Uhr war sie wieder da: Wir haben die Lösung, Tsipras ist einverstanden. Keiner wusste zwar so richtig in dem Moment, was das Ergebnis war, aber es war die Erlösung. Alle hingen nur noch absolut erschöpft in ihren Sesseln, aber wir wussten: Die Währungsunion ist gerettet.”
Wenn Pillath heute auf spätere Krisen wie die Corona-Pandemie zurückblickt, dann tut er das sehr gelassen. “Europa ist mittlerweile in den Krisenabläufen sehr erfahren, an die Dramatik von früher reicht das nicht mehr heran”. Außerdem hat sich sein Fokus mit dem Job in Berlin verschoben. Er muss nicht mehr koordinieren und vermitteln, sondern deutsche Interessen vertreten.
Ein Thema, das ihn im Moment stark beschäftigt, ist die Neuausrichtung der europäischen Schuldenregeln. Berlin ist bereit, den Partnerstaaten mehr Zeit für den Schuldenabbau zu geben, will aber auf der anderen Seite sicherstellen, dass Verfehlungen strikter und konsequenter geahndet werden – ein dickes Brett, das es zu bohren gilt.
Mit Blick auf seine politische Überzeugung wehrt sich Pillath, er setze, wie das von außen oft behauptet wird, a priori immer und automatisch auf zwischenstaatliche Lösungen. “Ich sehe das Vorgehen in der EU pragmatisch, für mich war immer der Leitfaden, was durchsetzbar ist. Der gemeinschaftliche Ansatz ist immer der bessere, aber wenn nicht alle mitziehen, muss man andere Wege einschlagen.”
Für den Glücksgriff des Ministers – niemand kennt die Prozesse und Spitzfindigkeiten in der Brüsseler Welt besser als sein Staatssekretär – hatte der Einstand in Berlin auch eine persönliche Überraschung parat. Pillath lebt jetzt mit seinem Sohn, der gerade seinen Doktor in Wirtschaftswissenschaften macht, in einer Männer-WG.
Die beiden verbindet neben der Ökonomie aber noch eine weitere Gemeinsamkeit, die Leidenschaft zur Musik – der Vater, Fan der frühen Genesis, von King Crimson und der Oper, spielt Saxophon und der Sohn Gitarre. “Meine Frau, die noch in Brüssel lebt und im diplomatischen Dienst aktiv ist, ist schon ganz neidisch auf unsere WG.” Der einzige Nachteil ist, dass er mit dem riesigen Arbeitsaufkommen und der Pendelei zwischen Berlin und Brüssel seine Tochter und seine beiden Enkeltöchter so wenig sieht. “Das bedauere ich zutiefst.” Christof Roche
das Gute an disruptiven Ereignissen wie der Korruptionsaffäre im Europäischen Parlament sind seine Nachwirkungen. Denn in die Debatte um eine europäische Ethikbehörde kommt jetzt wieder Schwung, schreibt Eric Bonse. Für alle EU-Institutionen müssten nun strenge Regeln eingeführt werden, heißt es aus Brüssel. Doch es sind längst nicht alle Institutionen auf einer Linie. Es wird sich zeigen, wie schnell es nun tatsächlich zu Änderungen kommt.
Meine Kollegin Charlotte Wirth hat mit EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit über Inflation und Armutsrisiko, eine neue Definition der Mittelschicht und einen besseren Schutz für Menschen, die für Online-Plattformen wie Uber arbeiten, gesprochen. Sein Standpunkt: Die EU müsse Flagge zeigen und klar machen, dass neue Geschäftsmodelle auf dem niedrigsten sozialen Niveau nicht akzeptabel sind.
Eigentlich war alles klar. Die Rente stand vor der Tür, Carsten Pillath hatte sich darauf gefreut. Dann rief Bundesfinanzminister Christian Lindner an und fragte ihn, ob er nicht sein Staatssekretär werden wollte. Er wollte und ist seit nun einem knappen Jahr im Finanzministerium zuständig für Europa und Internationales. Mehr über den Mann, der auch bereits an der Rettung der Währungsunion beteiligt war, lesen Sie im Portrait.
Getrieben durch die Korruptionsaffäre im Europaparlament und den drohenden Image-Schaden für die EU, hat sich von der Leyen am 12. Dezember nach langer Pause erstmals wieder öffentlich zu dem Vorhaben bekannt. Der Skandal habe gezeigt, dass die EU “die höchsten Standards” brauche, erklärte von der Leyen. “Meiner Meinung nach wäre es richtig, dass wir ein Ethikgremium einrichten”.
EU-Kommissionsvize Vera Jourova wurde beauftragt, Gespräche mit dem Parlament und den EU-Staaten zu führen. Es gehe darum, strenge Regeln für alle Institutionen einzuführen, heißt es in der Brüsseler Behörde. Von der Leyen hatte bereits im März einen Brief an die wichtigsten EU-Gremien geschickt, um eine gemeinsame Position auszuloten. Im September folgte ein Meeting auf “technischer Ebene” – ohne durchschlagenden Erfolg.
Jedenfalls lassen hochrangige, politische Gespräche auf sich warten. Der Grund: Die angesprochenen Gremien – darunter die Europäische Zentralbank, der Europäische Gerichtshof und der EU-Rechnungshof – sind nicht auf einer Linie. Einige Institutionen pochen auf ihre Unabhängigkeit, sie wollen sich nicht auf ressortübergreifende Regeln einlassen. Andere drücken dagegen aufs Tempo und fordern, zur Not in kleinerem Kreis zu starten.
Dies lehnt jedoch die EU-Kommission ab. Man brauche strikte Regeln für alle Institutionen und wolle keine Ausnahmen dulden, heißt es in der Brüsseler Behörde. Tatsächlich wäre es problematisch, wenn die geplante neue Ethikbehörde nur den “harten Kern” der Brüsseler Institutionen – Kommission, Rat und Parlament – ins Auge fasst und ausgerechnet die europäischen Finanzinstitutionen ausgeklammert würden.
Aus praktischer Sicht ist jedoch Eile geboten. Wenn die Ethikbehörde erst ihre Arbeit aufnimmt, wenn der Skandal vorbei ist, dann kann sie nicht mehr viel zur Aufarbeitung beitragen. Das Europaparlament hat die EU-Kommission daher aufgefordert, ihren Vorschlag für ein Ethikgremium nicht mehr länger hinauszuzögern. “Parliament urges the Commission to finally come forward with a proposal to set up the Independent Ethics Body that Parliament proposed in September 2021″, heißt es in einer Resolution vom 15. Dezember.
Die EU-Kommission halte sich nicht an ihre eigenen Regeln, kritisiert der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund. So habe die interne Ethik-Kontrolle der Kommission ausgerechnet bei “Fight Impunity” und damit bei jener Organisation versagt, die im Mittelpunkt des Korruptionsskandals steht. Dem Ethik-Gremium fiel zwar auf, dass die NGO nicht im EU-Lobbyregister verzeichnet war. Sie habe jedoch dem früheren EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos vertraut, der für “Fight Impunity” eintrat.
“Das Ethik-Gremium der EU-Kommission hatte die Chance, das vermutete Korruptionsnetzwerk frühzeitig aufzudecken, und ließ sie fahrlässig verstreichen”, so Freund. “Der Fall muss Kommissionspräsidentin von der Leyen aufwecken. Von der Leyen muss so schnell wie möglich einen Entwurf für ein EU-Ethik-Gremium vorlegen, das die Schwächen des bisherigen Systems repariert.”
Doch zunächst einmal will die Brüsseler Behörde ihren ehemaligen Kommissar Avramopoulos anhören. Man werde den Griechen schriftlich um Informationen darüber bitten, inwieweit er sich an die Auflagen gehalten habe, sagte ein Kommissionssprecher am Mittwoch. Brüssel ist um Schadensbegrenzung bemüht, immer noch. Der Vorschlag für das Ethikgremium muss daher wohl weiter warten.
Herr Schmit, durch die hohe Inflation und die Energiekrise rutschen viele Menschen in Armut. Die Quote liegt bei rund 20 Prozent. Ihr Ziel war, das Armutsrisiko zu senken, wie gehen Sie damit um?
Wir beobachten momentan nicht nur, dass das Armutsrisiko steigt. Es sind auch Menschen betroffen, die man damit nicht in Verbindung gebracht hätte. Wenn die Bürger einen immer größeren Teil des Einkommens für Energie und Lebensmittel ausgeben müssen, geraten viele in Schwierigkeiten, die eigentlich ein angemessenes Gehalt haben. Die Mitgliedstaaten versuchen gegenzusteuern. Die EU hat verschiedene Vorschläge gemacht, unter anderem für einen Gaspreisdeckel. Auf jeden Fall müssen wir die Energiewende vorantreiben. Und wir überlegen, wie wir europäischen Haushalten punktuell helfen können, etwa mit den ungenutzten Geldern der Kohäsionspolitik.
Muss die Definition für Mittelschicht überdacht werden?
Mittelschicht ist ein nebulöser Begriff. Als Richtwert gilt in erster Linie das Mediangehalt, die Armutsgrenze ist erreicht, wenn das Einkommen weniger als 60 Prozent davon ausmacht. In der EU haben viele Menschen ein Einkommen um diesen Richtwert.
In vielen Mitgliedsländern wächst die Wohnungsnot…
Das Problem macht sich in Europa immer mehr breit. Die Kommission hat hier wenig Kompetenzen, wir können uns nicht in den Wohnungsbau einmischen. Es ist klar, dass deutlich mehr in erschwingliche und nachhaltige Wohnungen investiert werden muss. Der Staat sollte eingreifen und die Sanierung von Wohnungen und Gebäuden gezielt subventionieren, ohne dass die Mieten in die Höhe schießen. Die EU sollte die Mitgliedstaaten dazu ermuntern.
Das Armutsrisiko wächst auch in Deutschland. Wird dem Thema genug Bedeutung beigemessen?
Je höher das Armutsrisiko, desto mehr geht die Schere zwischen Reich und Arm auseinander. Arme können mit dem Lebensstandard, der in einer Gesellschaft als normal angesehen wird, nicht mehr mithalten. Wir bekommen dadurch ein Problem der Ausgrenzung, die Spaltung in der Gesellschaft wird größer, die soziale Kohäsion bröckelt. Wir haben zum Beispiel die Kindergarantie ins Leben gerufen, die helfen soll, Kinderarmut zu bekämpfen, die es auch in reichen Staaten gibt. Auch in Ländern wie Deutschland gibt es aber Kinder, die aus Armut am normalen Leben nicht teilnehmen können und diskriminiert werden. Armut, auch in reichen Gesellschaften, ist ein Thema.
Es fehlen Fachkräfte, um die Energiewende voranzutreiben. 2023 ist das EU-Jahr der Skills/Kompetenzen, wie kriegen wir die Skills nach Europa?
In der EU gibt es etwa acht bis neun Millionen Menschen, die keinen Job haben, keine Ausbildung machen und auch nicht zur Schule gehen. Diese Menschen müssen wir erreichen und ihnen ein Angebot machen. Der Arbeitsmarkt verlangt zunehmend höhere Qualifikationen. Dieser Entwicklung müssen wir Rechnung tragen, indem wir die stille Reserve erschließen. Dazu brauchen wir sozialpolitische Maßnahmen. Wir müssen ihnen ein Angebot machen, um sie auf den Arbeitsmarkt zu bringen.
Es fehlen aber auch die Hochqualifizierten. Brauchen wir mehr Zuwanderung?
Wenn wir unseren Arbeitsmarkt besser auslasten wollen, ist Migration ein Schlüssel. Die Kommission etwa hat eine Talent-Pool-Initiative gestartet, die sich derzeit auf geflüchtete Ukrainer fokussiert, darunter sind viele sehr Qualifizierte. Leider gibt es in vielen Mitgliedstaaten Parteien, die vor allem auf das Thema Migration setzen und mit der Abwehr von Migration auf Stimmenfang gehen. Zuwanderung war in der Vergangenheit nicht immer ein Erfolg, weder für die Migranten noch für die Gesellschaften. Die soziale und kulturelle Integration wurde vernachlässigt. Wir haben nicht genug in die Migration investiert. Das bezahlen wir nun mit einer Ablehnung und politischen Ausnutzung des Themas.
Die Kommission will die Arbeit bei den Plattformen regulieren. Warum ist die Gesetzgebung so zäh?
Die Mitgliedstaaten konnten sich noch nicht auf einen Kompromiss einigen. Der Kompromiss, den die Mitgliedstaaten zuletzt diskutierten, war so schwach, dass die Richtlinie in verschiedenen Ländern gar keine Auswirkung mehr gehabt hätte. Das kann nicht die Lösung sein. Wir wollen, dass Plattformarbeiter das Recht auf sozialen Schutz und faire Bezahlung bekommen. Wenn die Unternehmen Flexibilität wollen, kann das nicht heißen, dass man mit fiktiven Selbstständigen ohne jegliche Rechte arbeitet. Dieses Modell darf nicht Schule für andere Branche machen.
Unternehmen wie Uber und Co. haben mit ihren Geschäftsmodellen Tatsachen geschaffen, kommt die Regulierung zu spät?
Mit der Technologie entwickeln sich neue Modelle. Ohne Internet kein Facebook. Die Regulierung setzt naturgemäß immer mit gewisser Verspätung an. Oft ist zu erkennen, dass die soziale Komponente auf der Strecke bleibt. Menschen, die über physische Arbeit etwa als Fahrradkurier für die Plattformen notwendige Arbeiten erledigen, werden schlecht bezahlt, grundlegende Absicherung wird verwehrt. Hier muss die EU Flagge zeigen und klar machen, dass neue Geschäftsmodelle auf dem niedrigsten sozialen Niveau nicht akzeptabel sind.
Algorithmen bestimmen zusehends unseren Arbeitsablauf. Gibt es Handlungsbedarf?
Nach der Plattform-Arbeit ist die nächste große Baustelle, die Problematik der Algorithmen in der Arbeitswelt zu regulieren. Es wird etwa um Fragen gehen, was ein Algorithmus kontrollieren darf und wie weit er in Arbeitsabläufe eingreifen darf. Die Maschine darf nicht zur Meisterin der Arbeitswelt werden. Die nächste Kommission sollte dieses Thema aufnehmen.
Die Wirtschaft versucht gerade unter Hinweis auf die Krisen, unangenehme EU-Gesetze auszubremsen. So auch das Lieferkettengesetz…
Wir sollten unsere Lieferketten von anderer Perspektive betrachten. Deutschland, ein Land mit der am besten entwickelten chemischen Industrie, fehlt es gerade an Paracetamol für Kinder. Der Grund: Die Moleküle kommen zum Teil aus Indien. Man kann über Details reden, etwa Anforderungen für kleinere Unternehmen und inwieweit das Gesetz in die Lieferketten hineinreichen sollte. Aber man sollte die Frage nach dem Schutz der Menschenrechte und nach den Arbeitsbedingungen nicht aus den Augen lassen. Die nötige Sensibilität für Klimafragen haben wir mittlerweile. Es ist überfällig, dass wir genauso aufmerksam werden, wenn es um Zwangsarbeit und Kinderarbeit geht.
Die Mitgliedstaaten wollen die Finanzindustrie beim Lieferkettengesetz ausnehmen. Schaffen wir damit nicht ein Schlupfloch?
Wer in Firmen investiert, legt dafür finanzielle Kriterien an. Rechnet sich das Investment wirtschaftlich? Jetzt sagt die EU-Politik den Unternehmen, dass Investitionen in fossile Unternehmungen auf Dauer unwirtschaftlich sind, sich wegen der Rahmenbedingungen nicht lohnen werden. Die gleichen Kriterien sollten auch für Menschenrechtsverletzungen gelten. Künftig soll sich ein Investment nur lohnen, wenn fundamentale Menschenrechte und Arbeitsrechte gewahrt werden.
Die EU-Kommission hat das 28 Milliarden schwere Förderprogramm für erneuerbare Energien der Bundesregierung genehmigt. Das teilte die Institution am Kommission mit. Damit soll die Wind- und Sonnenenergie rasch ausgebaut werden.
Das Programm ersetzt ein bestehendes Förderprogramm für erneuerbare Energien und hat eine Laufzeit bis 2026. Es soll dazu beitragen, dass Deutschland sein Ziel erreicht, bis 2030 80 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen.
Die Europäische Kommission erklärte, die Regelung sei “notwendig und angemessen”, um erneuerbare Energien zu fördern und den Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern. Ihre positiven Auswirkungen auf die Umwelt würden mögliche Wettbewerbsverzerrungen überwiegen.
“Die Regelung des deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2023 wird zur weiteren Dekarbonisierung der Stromerzeugung beitragen”, sagte Wettbewerbs-Kommissarin Margrethe Vestager in einer Erklärung.
Die Regelung sieht vor, dass Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Energien zusätzlich zum Marktpreis, den sie für den Verkauf ihres Stroms erhalten, eine Prämie erhalten. Kleine Erzeuger können einen Einspeisetarif erhalten, der ihnen einen festen Preis für ihren Strom garantiert.
Die Kommission erklärte, dass Berlins staatliche Unterstützung für erneuerbare Energien auf das “notwendige Minimum” beschränkt sei und Schutzmaßnahmen zur Minimierung von Wettbewerbsverzerrungen enthalte. Die Unternehmen müssen sich im Rahmen staatlicher Ausschreibungen um die Beihilfen bewerben.
Um zu vermeiden, dass Unternehmen doppelt vergütet werden, wird Deutschland außerdem die bestehende Unterstützung für Erzeuger erneuerbarer Energien in Zeiten negativer Strompreise bis 2027 auslaufen lassen. rtr
Deutschland darf von Russlands Krieg gegen die Ukraine betroffenen Unternehmen mit 49 Milliarden Euro unter die Arme greifen. Die EU-Kommission genehmigte am Mittwoch nach eigenen Angaben eine entsprechende deutsche Regelung. Vorausgegangen war eine wettbewerbsrechtliche Prüfung.
Das deutsche Unterstützungspaket zielt auf Unternehmen ab, die Endverbraucher von Strom, von Erdgas beziehungsweise von mit Erdgas oder Strom erzeugter Wärme sind. Die staatliche Förderung soll in Form von Zuschüssen gewährt und über Energieversorger in monatlichen Tranchen durch Rabatte bei Rechnungen bereitgestellt werden. Anschließend erstattet der Staat den Energieversorgern die Kosten.
Dabei gibt es verschiedene Höchstgrenzen für unterschiedliche Unternehmen. Sie liegen zwischen maximal 4 Millionen und – bei besonders betroffenen Unternehmen – 150 Millionen Euro. Die Maßnahme soll bis Ende 2023 laufen.
Als Hüterin eines fairen Wettbewerbs in der EU prüft die Europäische Kommission, ob staatliche Beihilfen verzerrend in den Markt eingreifen. In diesem Fall kam sie aber zu dem Schluss, dass die deutsche Regelung mit EU-Recht im Einklang ist. “Folglich hat die Kommission die Maßnahme nach den EU-Beihilfevorschriften genehmigt”, so die Brüsseler Behörde. Um EU-Unternehmen besser vor Kriegsfolgen wie hohe Energiepreise zu schützen, waren die Regeln für Beihilfen gelockert worden. dpa
Die US-Regierung wird der Ukraine erstmals das Patriot-Flugabwehrsystem liefern. Es sei Teil eines neuen Militärhilfe-Pakts in Höhe von 1,85 Milliarden US-Dollar (rund 1,7 Milliarden Euro) für das von Russland angegriffene Land, teilte das US-Außenministerium am Mittwoch mit. Damit steigt die gesamte US-Militärhilfe für die Ukraine seit Beginn der Amtszeit von Präsident Joe Biden im Januar 2021 auf 21,9 Milliarden US-Dollar.
Das Weiße Haus hatte bereits zuvor mitgeteilt, dass die US-Regierung im Zuge des Besuchs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Washington die Patriot-Lieferung und die zusätzliche Militärhilfe offiziell bekanntgeben werde.
“Wir werden die Ukraine so lange unterstützen, wie es nötig ist, damit Kiew sich weiterhin verteidigen kann und zu gegebener Zeit am Verhandlungstisch eine möglichst starke Position einnimmt”, erklärte nun das Außenministerium.
In dem neuen Paket sind den Angaben nach neben dem Patriot-Flugabwehrsystem weitere Unterstützung für die Luftverteidigung sowie zusätzliche Munition und wichtige Ausrüstung enthalten. Das Luftverteidigungssystem Patriot kann Flugzeuge, Marschflugkörper, Drohnen und Raketen auch in größerer Entfernung abwehren. Es dürfte Russlands Angriffe mit Raketen und Drohnen auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine erschweren. dpa
Der Anruf aus Berlin erreichte den EU-Generaldirektor Carsten Pillath wenige Tage vor dem Ruhestand. Am anderen Ende der Leitung Christian Lindner: “Im Namen der Bundesrepublik Deutschland möchte ich Ihnen ein Angebot machen. Ich möchte, dass Sie mein Staatssekretär werden.”
Damit hatte der heute 66-jährige Pillath nun gar nicht gerechnet. “Ich hatte mich schon auf die Zeit danach eingestellt, und musste erst einmal viele Stunden mit mir ringen. Am Ende überzeugte mich meine Frau. Sie sagte: Hier hast du die Chance, mit allem, was du gelernt hast, den deutschen Finanzminister zu unterstützen. Du hast dich immer als Diener des Staates verstanden.”
Das zog, und Pillath sagte zu. Der neue Finanzstaatssekretär, seit dem 3. Januar 2022 im Hause Lindner für Europa und Internationales zuständig, war immer noch in Brüssel, als er in seiner ersten Amtshandlung per Video ins BMF zugeschaltet wurde. Dort ging es um den deutschen G7-Vorsitz für 2022, wo auf Impuls von Pillath der Kampf gegen die Inflation zum Kernthema wurde. “Ich glaube, die Sitzung hat sehr geholfen, dass der Minister Vertrauen zu mir gefasst hat. Seither läuft es zwischen uns auf der persönlichen Schiene sehr gut.” Carsten und Christian sind heute per Du.
Für den parteiungebundenen Pillath ist die Berufung ins BMF einmal mehr eine Rückkehr an seinen Geburtsort. Pillath, der in sehr einfachen Verhältnissen aufwuchs, wurde am 23. Oktober 1956 in Berlin-Wilmersdorf geboren. Beide Eltern waren im selben Jahr zuvor aus Dresden nach Berlin geflüchtet. “Ich bin ein Kind mit Migrationshintergrund: ein gezeugter Ossi, aber ein geborener Wessi.”
Nach verschiedenen Stationen in Deutschland landete Pillath im Bergischen Land in Overath. Als Ältester und Einziger unter fünf Geschwistern besuchte er die höhere Schule. Nach dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Abitur 1975 und der Bundeswehr begann Pillath in Köln ein Studium der Volkswirtschaftslehre. In dieser Zeit nahm der Sport bereits großen Raum bei ihm ein. “Ich habe viele Jahre Handball gespielt, bis am Ende hoch zur zweiten Bundesliga. Eine Zeitlang habe ich unter Vlado Stenzel trainiert. Mache ich aus dir neuen Hansi Schmidt, war sein Spruch.”
Aber am Ende drang die Erkenntnis durch, dass es dazu und für das Profigeschäft im Handball allgemein nicht reichte. Pillath machte seinen Abschluss zum Diplom-Volkswirt, im Juli 1991 folgte die Promotion zum Dr. rer. pol. Nach diversen Stationen an der Uni, im Bundesfinanzministerium, beim Internationalen Währungsfonds und im Kanzleramt, zum Großteil mit Europa-Bezug, wurde Pillath am 1. September 2008 zum Generaldirektor für “Wirtschaft und Soziales” im Generalsekretariat des Rates in Brüssel berufen.
Auf diesem Posten unterstützte er die Koordination der Institutionen im Gang der EU-Gesetzgebung und spielte vor allem in der Eurokrise als Koordinator eine wichtige Rolle. Bereits mit seinem ersten Informellen Treffen der EU-Finanzminister in Nizza noch im selben Monat musste er auf Krisenmodus schalten. “An dem Wochenende in Nizza brach die US-Investmentbank Lehman Brothers zusammen. Das war der Anfang der Finanzkrise, dann folgte die Eurokrise, die uns über Jahre in Atem hielt.”
Pillath erinnert sich an den Höhepunkt im Juli 2015: “Es lag ein Vorschlag zu Griechenland auf dem Tisch. Dann aber sagte Griechenlands Premier Alexis Tsipras, das könne er nicht akzeptieren, dann sei er raus aus der Währungsunion. Daraufhin nahm sich Kanzlerin Angela Merkel – es war 6 Uhr morgens – das Papier und sagte, sie sei in wenigen Minuten zurück. Aus den Minuten wurden Stunden. Um 9 Uhr war sie wieder da: Wir haben die Lösung, Tsipras ist einverstanden. Keiner wusste zwar so richtig in dem Moment, was das Ergebnis war, aber es war die Erlösung. Alle hingen nur noch absolut erschöpft in ihren Sesseln, aber wir wussten: Die Währungsunion ist gerettet.”
Wenn Pillath heute auf spätere Krisen wie die Corona-Pandemie zurückblickt, dann tut er das sehr gelassen. “Europa ist mittlerweile in den Krisenabläufen sehr erfahren, an die Dramatik von früher reicht das nicht mehr heran”. Außerdem hat sich sein Fokus mit dem Job in Berlin verschoben. Er muss nicht mehr koordinieren und vermitteln, sondern deutsche Interessen vertreten.
Ein Thema, das ihn im Moment stark beschäftigt, ist die Neuausrichtung der europäischen Schuldenregeln. Berlin ist bereit, den Partnerstaaten mehr Zeit für den Schuldenabbau zu geben, will aber auf der anderen Seite sicherstellen, dass Verfehlungen strikter und konsequenter geahndet werden – ein dickes Brett, das es zu bohren gilt.
Mit Blick auf seine politische Überzeugung wehrt sich Pillath, er setze, wie das von außen oft behauptet wird, a priori immer und automatisch auf zwischenstaatliche Lösungen. “Ich sehe das Vorgehen in der EU pragmatisch, für mich war immer der Leitfaden, was durchsetzbar ist. Der gemeinschaftliche Ansatz ist immer der bessere, aber wenn nicht alle mitziehen, muss man andere Wege einschlagen.”
Für den Glücksgriff des Ministers – niemand kennt die Prozesse und Spitzfindigkeiten in der Brüsseler Welt besser als sein Staatssekretär – hatte der Einstand in Berlin auch eine persönliche Überraschung parat. Pillath lebt jetzt mit seinem Sohn, der gerade seinen Doktor in Wirtschaftswissenschaften macht, in einer Männer-WG.
Die beiden verbindet neben der Ökonomie aber noch eine weitere Gemeinsamkeit, die Leidenschaft zur Musik – der Vater, Fan der frühen Genesis, von King Crimson und der Oper, spielt Saxophon und der Sohn Gitarre. “Meine Frau, die noch in Brüssel lebt und im diplomatischen Dienst aktiv ist, ist schon ganz neidisch auf unsere WG.” Der einzige Nachteil ist, dass er mit dem riesigen Arbeitsaufkommen und der Pendelei zwischen Berlin und Brüssel seine Tochter und seine beiden Enkeltöchter so wenig sieht. “Das bedauere ich zutiefst.” Christof Roche