Table.Briefing: Europe

ETS: Widerstand von Turmes + Daten-Wette der EU + Gaia-X + Vestager + Jan-Peter Kleinhans

  • Interview mit dem luxemburgischen Energieminister Claude Turmes
  • Digitalstrategie der EU: Die Daten-Wette
  • Nach Amazon-Strafe: Schrems fordert strengere Aufsicht
  • Gaia-X-Gesellschaft verzichtet auf US-Werkzeuge
  • Vestager meldet Bedenken gegen Facebook-Deal an
  • Im Portrait: Jan-Peter Kleinhans (Stiftung Neue Verantwortung)
Liebe Leserin, lieber Leser,

los geht’s: Ab sofort werden wir Sie an dieser Stelle über die große Transformation Europas informieren. Ich heiße Sie herzlich willkommen am Europe.Table.

Die beiden in Regulierung gegossenen Megatrends Klimaschutz und Digitalisierung werden nahezu alle Bereiche in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft berühren. Und in vielen Organisationen dabei Spuren hinterlassen. In manchen auch tiefe.

Beispiel “Fit for 55”: Kurz vor der Sommerpause hat die EU-Kommission gleich zwölf Klimagesetze auf einmal vorgelegt. Im Interview mit Charlotte Wirth erklärt Luxemburgs Energieminister Claude Turmes, ein erfahrener Strippenzieher der Brüsseler Politik, welche Elemente er für geboten hält – und welche er unbedingt verhindern will.

Viel diskutiert wird auch über die Brüsseler Pläne, die Digitalriesen zu zähmen. Um selbst erfolgreich zu sein, brauchen die hiesigen Unternehmen aber mehr: einen funktionierenden Markt für Daten, wie Falk Steiner aufzeigt.

Wir werden im August, in der Beta-Phase von Europe.Table, mehrmals wöchentlich über die Regulierungsvorhaben berichten. Ab September, wenn die Brüsseler Sommerpause endet, wird die Redaktion Sie jeden Werktag aktuell und exklusiv aus Brüssel, Berlin und weiteren europäischen Zentren informieren. Dann werden wir auch regelmäßig einen Überblick bieten, welche Legislativvorhaben vor wichtigen Schritten im Gesetzgebungsprozess stehen.

Wenn Ihnen der erste Europe.Table gefällt – empfehlen Sie uns bitte weiter. Und schreiben Sie mir gerne, was wir besser machen können: till.hoppe@table.media

Ihr
Till Hoppe
Bild von Till  Hoppe

Analyse

“Wir werden versuchen, Allianzen dagegen zu schmieden”

Claude Turmes, Energieminister in Luxemburg und ehemaliger EU-Abgeordneter, im Interview zu Fit for 55 und ETS. Claude Turmes trägt Brille und einen Anzug.
Claude Turmes ist Energieminister in Luxemburg und ehemaliger EU-Abgeordneter.

Um die Europäischen Klimaziele zu erreichen arbeitet die EU derzeit an der Novellierung und Einführung zahlreicher Regularien. Darunter ein neues und äußerst umstrittenes Emissionshandelssystems (ETS) für Straßenverkehr und Gebäude, Teil des Klimaschutzpakets “Fit for 55“. Ab 2025 soll es eine CO2-Bepreisung von Kraft- und Brennstoffen geben – Sprit und Heizöl werden nach und nach teurer. Das schüre soziale Ungleichheiten, die auf EU-Ebene kaum kompensiert werden können, warnen Kritiker.

So auch der Luxemburger Energieminister Claude Turmes, der im Interview mit dem Europe-Table bereits Widerstand gegen die Pläne ankündigt. Der frühere Europaparlamentarier kennt das anstehende Verhandlungsspiel bestens – er war in der vergangenen Wahlperiode energiepolitischer Sprecher der Grünen und Berichterstatter des Europaparlaments für die Energieunion. 2018 wechselte er in die Luxemburger Regierung.

Herr Turmes, was stört Sie am neuen Emissionshandelssystem für Gebäude und Verkehr?

Ich habe starke Zweifel an der Umsetzbarkeit. Es gibt dann einen einheitlichen Preis für CO2 in der EU, in der man sehr unterschiedliche Einkommenssituationen hat. Ich werfe also jemanden, der in Bulgarien einen Durchschnittslohn von weit unter 1.000 Euro hat, in einen Topf mit jemandem, der in einem Land wie Luxemburg arbeitet. Das kann man auch nicht einfach durch einen Kompensationsfonds ausgleichen.

Werden ärmere Länder gegenüber reicheren also benachteiligt?

Es wird definitiv eine starke Belastung für wirtschaftsschwächere Länder geben. Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist der CO2-Preis zu niedrig, um eine Wirkung für den Klimaschutz zu haben. Oder er ist zu hoch und führt insbesondere in osteuropäischen Ländern zu enormen gesellschaftlichen Spaltungen. Ich weiß nicht, wie man mit diesem Instrument ein faires Gleichgewicht finden soll.

Kommissionsvize Frans Timmermans will die Belastungen durch einen 70 Milliarden Euro schweren Sozialfonds abfedern. Was stört Sie daran?

Natürlich müssen wir einkommensschwache Haushalte vor den Auswirkungen einer CO2-Besteuerung schützen. In Luxemburg zum Beispiel verteilen wir das Geld aus der CO2-Steuer an die Menschen mit den niedrigsten Einkommen. Das klappt gut. Bei dem Sozialfonds stellt sich allerdings die Frage, ob wir das wirklich auf europäischem Niveau kalibrieren können. Die EU-Kommission sollte dies den Mitgliedsstaaten überlassen. Hinzu kommt der riesige bürokratische Aufwand, den ein solcher europäischer Fonds mit sich bringen würde.

Wer das neue ETS kritisiere, solle mit besseren Alternativen aufwarten, fordert Timmermans. Was ist Ihre?

Das System, das wir jetzt haben, hat gut funktioniert. Es kombiniert nationale Ziele für Gebäude, Transport und Landwirtschaft mit strengen europäischen Normen für neue Autos, Gebäude und Co. Dass die Kommission den Weg des ETS wählt, hat politische Gründe.

Welche?

Der Vorschlag kommt aus Deutschland, wo Anfang des Jahres ein ähnliches System eingeführt wurde. Es ist ein Instrument der CDU. Es ist sicher kein Zufall, dass die Kommissionspräsidentin, die derselben Partei angehört, diese Idee aufgenommen hat. Wir werden versuchen, Allianzen dagegen zu schmieden, sowohl mit anderen Regierungen als auch mit dem Europaparlament. Es ist ein extrem umstrittenes Instrument.

Die Autoindustrie etwa hat den Vorschlag begrüßt.

Sieht man sich die Entstehungsgeschichte des deutschen Pendants an, sieht man jedenfalls, dass dem ein starkes Lobbying der Automobilindustrie und der extrem gut organisierten Heizölindustrie vorausging. Zumindest in der deutschen Debatte war das Zusammenspiel zwischen CDU-Position und den Lobbyisten sehr offensichtlich.

Welche Schwierigkeiten sehen Sie bei der CO2-Bepreisung der Gebäude?

Bei den Gebäuden ist das soziale Risiko noch größer als beim Sprit: Sie trifft Menschen, die nicht einmal entscheiden können, ob das Gebäude, in dem sie wohnen, saniert wird oder nicht. Ein Fonds kann das nicht ausgleichen. In Luxemburg kompensieren wir solche Mehrkosten durch massive Subventionen, um den Umstieg vom Heizöl auf klimafreundlichere Alternativen voranzutreiben. Das kann man auf europäischem Level nicht so gut regeln.

Die Kommission will erreichen, dass mehr Wohnungen saniert werden, um die Klimaziele zu erreichen. Ist das überhaupt umsetzbar angesichts der angespannten Mietmärkte in vielen Städten?

In den meisten Ländern sind 75 bis 80 Prozent der Gebäude, die 2050 stehen, bereits gebaut. Die Renovierung von Gebäuden ist ein sehr schwieriges Thema. Es geht nicht um Technik, sondern um Logistik und Organisation. Die bestehenden Maßnahmen reichen nicht. Das Handwerk in Europa wird in den nächsten 30 Jahren viel zu tun haben.

Viel Kritik erntet auch der Vorschlag der Kommission, einen Grenzausgleich für CO2 einzuführen. Manche Regierungen befürchten, dass die Berechnung des CO2-Gehalts von Importen im CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism) hohen administrativen Aufwand bedeutet. Sie auch?

Europa ist der Kontinent, der den Klimaschutz politisch vorantreibt. Das bedeutet, dass sich unsere Industrien – ob Stahl, Chemie, Glas oder Raffinerien – umstellen müssen. Wir brauchen das CBAM, um Dumping aus anderen Ländern zu verhindern. Vor 20 Jahren wäre die Umsetzung kaum möglich gewesen. Aber wir leben im Zeitalter der Digitalisierung – wir dürften das hinkriegen.

Viele Staaten außerhalb der EU wird der Grenzausgleich nicht freuen.

Natürlich werden Länder wie China, Russland und die USA nicht unbedingt begeistert sein. Aber wenn wir Fortschritte im Klimaschutz wollen, müssen wir dafür sorgen, dass es in der Industrie keine unfaire Konkurrenz gibt. Bis das Instrument richtig kalibriert ist, wird einige Zeit vergehen. Aber auf lange Sicht ist es ein wichtiger Baustein in einer Welt, in der andere Länder ihren Industrien weniger Auflagen aufbürden.

Der Energiechartavertrag erlaubt es, dass Fossile-Energien-Investoren vor Schiedsgerichten gegen viele EU-Staaten klagen könnten. Sehen Sie darin eine Gefahr?

Ich glaube, die Gefahr ist sehr real. Für das Gelingen der europäischen Klimapolitik ist es wichtig, dass der Vertrag modernisiert wird. Wir können fossile Investments nicht weiter über solche Verträge schützen. Wir müssen jetzt Druck aufbauen und gleichzeitig eine Lösung für die Sunset-Klausel finden, die es erlaubt, dass Staaten sogar noch 20 Jahre nach Vertragsaustritt verklagt werden können. Das macht einen Austritt der EU als Block sehr gefährlich. Die Modernisierung wäre demnach die bessere Lösung.

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Die Daten-Wette der EU

Der Digital Governance Act (DGA) soll es Unternehmen und Forschungsinstitutionen in der EU erleichtern, gemeinsam Daten zu nutzen. Es ist eine Wette auf die Zukunft: Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, so das Kalkül in Kommission, Parlament und Rat, könnte in der EU ein echter Datenmarkt entstehen. In dem Erzeuger und Nachfrager relevanter Daten zusammenfinden und eine datenbasierte Wirtschaft entsteht.

Was kompliziert klingt, meint ganz praktische Anwendungen. In hochmodernen Geräten wie Landwirtschaftsmaschinen, Autos oder Produktionsstraßen verbaute Sensoren produzieren bereits heute Datenhaufen, die von einzelnen Nutzern nicht sinnvoll ausgewertet werden können. Zugleich könnten diese Informationen Dritten neue Erkenntnisse bringen und zur Prozessoptimierung beitragen. Wäre es da nicht schlau, beide Seiten über neue Mechanismen zusammenzubringen?

Ein Schengen für Daten

Ein “Schengen für Daten” nennt Angelika Niebler (CSU/EVP) das Ziel des DGA. Dieser soll Mechanismen herbeiführen, die Erzeuger von Daten und Nachfrager über regulierte Plattformen europaweit zusammenbringen und eine Preisfindung ermöglichen. Die Betreiber müssen sich staatlichen Aufsichtsstellen unterwerfen. Und auch der Staat soll seine Bestände zur Verfügung stellen – theoretisch zumindest. Denn die einzelnen Mitgliedstaaten sollen entscheiden, welche Daten EU-weit verfügbar gemacht werden und ob sie hierfür Gebühren erheben.

Drei Hauptquellen für Daten sieht der DGA insgesamt vor:

  • Daten der öffentlichen Hand
  • Unternehmen, Institutionen und Einzelpersonen über Datentreuhänder
  • Privatpersonen über Datenspenden an “datenaltruistische Organisationen”

Letztere sind dabei ein besonderer Fall: besonders vertrauenswürdigen und gemeinnützigen Intermediären sollen EU-Bürgerinnen und Bürger Daten zur Verfügung stellen können, damit diese eine weitere Verwertung ermöglichen, zum Beispiel für Forschungszwecke. Freiwillige Datenspenden sind in Deutschland im Zuge der Covid-Pandemie bekannter geworden, aber bislang selten.

Damit hier keine eigenwirtschaftlichen Zwecke verfolgt werden sah der Kommissionsentwurf vor, dass datenaltruistische Organisationen rechtlich vollständig unabhängig sein müssten, um die entsprechende Zertifizierung zu erhalten. Kritiker sehen das als zu weitgehend an – jedenfalls bislang ist auch offen, wer diese Rolle überhaupt ausfüllen könnte.

DSGVO bleibt maßgeblich

Für das gesamte Europaparlament sei klar gewesen, dass der DGA keine Parallelgesetzgebung zur DSGVO sein könne, sagt Damian Böselager, MEP für Volt (Grüne/EFA): “Wir haben daher die alleinige Geltung der DSGVO für personenbezogene Daten an allen nötigen Stellen klargestellt”.

Doch für das erklärte Ziel funktionierender Datenmärkte bleiben noch Fragen offen: Wie können Datenmittler für Einzelne in deren Auftrag ihre Rechte ausüben? Auch wie Unternehmen und Institutionen, die bereits heute Daten zur Verwendung durch Dritte anbieten, künftig unter dem DGA-Regime behandelt werden sollen, ist nicht abschließend geklärt – bereits in einer Stellungnahme vom März hatte die Bundesregierung zu diesen und weiteren Punkten um Klärung gebeten. Genug Stoff für Diskussionen in Bundesregierung und Ratsarbeitsgruppen, doch die Zeit drängt.

Die deutsche Position ist derzeit noch in der Endabstimmung zwischen BMWi und BMJV. Doch spätestens im Oktober will die slowenische Ratspräsidentschaft die Ratsposition zum DGA festzurren. Der Industrieausschuss des Europäischen Parlaments hat bereits vor der Sommerpause die Änderungswünsche des Parlaments abgestimmt – die Trilogverhandlungen sollten eigentlich spätestens im November beginnen.

Erst Data Governance, dann Data Act

Dann folgt auch das nächste Puzzlestück der EU-Digitalgesetzgebung: der Data Act. Der Kommissionsvorschlag ist derzeit – und damit verspätet – für den 1. Dezember vorgesehen. Dieser soll konkret vorschreiben, wie Unternehmen ihre Daten nutzbar machen sollen – oder sogar müssen.

Denn die im Data Governance Act regulierten Datenbörsen können nur dann funktionieren, wenn ausreichend große Datenhaufen entstehen. Und der politische Wunsch zu Datenteilungspflichten ist in den vergangenen Jahren auch jenseits der Wettbewerbsdiskussionen gewachsen.

  • Data Act
  • Data Governance Act
  • Daten
  • Datenschutz
  • Digitalisierung
  • Digitalpolitik

News

Nach Amazon-Strafe: Schrems fordert strengere Aufsicht

Nachdem am Freitag mit dem Quartalsbericht der Firma bekannt wurde, dass die luxemburgische Datenschutzaufsichtsbehörde CNPD am 16. Juli eine DSGVO-Strafe in Höhe von 746 Millionen Euro gegen den Versandhändler und Web Services-Anbieter Amazon verhängt hatte, fordert der österreichische Datenschutzaktivist Max Schrems von der CNPD nun insgesamt ein aktiveres Vorgehen.

“Bei Luxemburg scheint sich nach langem Schweigen nun doch Einiges zu bewegen“, sagte Schrems Europe.Table. “Allein die Summe wird Eindruck machen. Ich hoffe, dass die Entscheidung dann auch Bestand hat.”

Insbesondere Luxemburg und Irland sieht Schrems als Problemfälle einer funktionierenden europäischen Datenschutzaufsicht. In beiden Ländern hat die Steuergesetzgebung zur Ansiedlung der Europazentralen großer datenverarbeitender Konzerne geführt. Gegen die irische Datenschutzaufsicht ist Schrems mit seiner NGO “None of your Business” (NOYB) wegen Untätigkeit bereits vor Gericht gezogen. Zuletzt legte der österreichische Oberste Gerichtshof Mitte Juli einen Fall der NGO gegen Facebook dem Europäischen Gerichtshof zur Klärung vor.

Was der Datenschutzaktivist plant und wie er die Datenschutzbehörden Europas zu mehr Engagement treiben will, lesen Sie am Donnerstag im ausführlichen Interview mit Europe.Table.

Amazon hat bereits angekündigt, Rechtsmittel gegen die Entscheidung der CNPD einzulegen, die bislang nicht veröffentlicht wurde. Die luxemburgische Behörde mit ihren etwa 50 Mitarbeitern ist trotz Zuständigkeit bislang kaum mit größeren Strafen in Erscheinung getreten. fst

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Gaia-X-Gesellschaft verzichtet auf US-Werkzeuge

Unterwandern Amazon, Google und Microsoft das europäische Cloud-Projekt Gaia-X? Die Beteiligung der US-Hyperscaler an dem Vorzeigevorhaben sorgt für hitzige Diskussionen unter den Mitgliedern. Klar ist inzwischen: In ihren internen Abläufen verzichten sie auf die US-Angebote.

Als Kollaborationsplattform hat die Dachgesellschaft Gaia-X AISBL weder Microsofts 365 noch Googles Workspace ausgewählt. Statt weitverbreiterter Angebote wie “Teams” oder “Google Meet” nutzen die Mitglieder die Werkzeuge des Stuttgarter Mittelständlers Nextcloud. Dessen Open Source-Plattform ermögliche “eine sichere organisationsübergreifende Zusammenarbeit”, sagte Francesco Bonfiglio, CEO der in Belgien ansässigen Gaia-X AISBL, Europe.Table.

Gehostet wird die Kollaborationsplattform von der United-Internet-Tochter Ionos auf einer Vorab-Version von Gaia-X. Mit der Entscheidung für eine in Europa gehostete und dezentrale Infrastruktur habe sich Gaia-X entschlossen, “sich wieder auf die ursprünglichen Ziele und Werte zurückzubesinnen“, sagte Nextcloud-Chef Frank Karlitschek. Laut Ionos-Vorstand Martin Endreß zeigen inzwischen auch große deutsche Konzerne Interesse an den Angeboten. tho

  • Amazon

Vestager meldet Bedenken gegen Facebook-Deal an

Die EU-Kommission hat eine vertiefte Prüfung der Übernahme von Kustomer durch Facebook eingeleitet. Die Akquisitionspläne des US-Konzerns bereiten Wettbewerbskommisssarin Margrethe Vestager aus zwei Gründen Sorge:

  • Der Kauf von Kustomer, einem US-Anbieter von CRM-Software (Customer Relationship Management), könnte andere Anbietern benachteiligen, befürchtet sie. So erhalte Facebook womöglich einen wirtschaftlichen Anreiz, Rivalen die Nutzung der eigenen Messaging-Dienste wie WhatsApp für die Kommunikation mit Kunden zu verwehren.
  • Überdies erhalte der Konzern nach der Übernahme Zugang zu Kustomer-Daten, etwa über die Kaufhistorie der Kunden oder deren virtuelle Wunschlisten. Dank solch wertvoller Informationen könnte Facebook seine in vielen Ländern bereits marktbeherrschende Stellung in der Online-Werbung weiter ausbauen, so die Sorge.

Bestätigt die vertiefte Prüfung die Bedenken der Kommission, dürfte sie Facebook etwa zur Weihnachtszeit Auflagen machen. Der Konzern steht ohnehin im Visier der Wettbewerbshüter. Wie sehr zeigt die Tatsache, dass die Kommission den Fall Kustomer an sich zog, obwohl die Übernahme des 2015 gegründeten Unternehmens unterhalb der Aufgreifschwellen bleibt. tho

  • Digitalpolitik
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Presseschau

EU schickt Löschflugzeuge in Waldbrandgebiete in der Türkei EURACTIV
Laschet in Bedrängnis – Anwohner im Hochwassergebiet beklagen Versagen TAGESSPIEGEL
Eine Million Fahrzeuge mit Elektroantrieb in Deutschland ZEIT
England changes COVID-19 app so fewer people need to isolate REUTERS
French president uses social media to counter “false information” about vaccines RFI
Italy’s next bid for victory: The EU and green geopolitics ECFR
Vorwürfe gegen Philipp Amthor: Tiktoks Ringen um Einfluss DEUTSCHLANDFUNK
NRW-Nachbar Niederlande ändert Corona-Regeln – Farbcodes helfen RUHR24
Straßen mit Solarpanels werden konkret: Tests mit PV-Wegen in Holland laufen EFAHRER
COP26: How is Scotland tackling climate change? BBC
Poland’s nuclear high-wire act at East-West crossroads DW

Portrait

Jan-Peter Kleinhans – “Eine Fab ist noch keine Strategie”

Jan-Peter Kleinhans über die Produktion von Chips in der EU. Er trägt ein hellblaues Hemd, Brille und schwarze Hosenträger.
Jan-Peter Kleinhans leitet das Projekt “Technologie und Geopolitik” bei der Stiftung Neue Verantwortung.

Sie sind überall und trotzdem knapp. In seinem Büro, schätzt Jan-Peter Kleinhans, seien 150 bis 200 Chips verbaut – Bildschirm, Handy, Laptop, Ladegerät, Lampen, die Funktastatur. Allein in seinem Smartphone steckten etwa 30 Halbleiter.

Kleinhans leitet das Projekt “Technologie und Geopolitik” bei der Stiftung Neue Verantwortung (SNV), er beschäftigt sich mit der strategischen Bedeutung von Halbleitern und deren Lieferketten. Sein Forschungsgebiet ist derzeit politisch sehr gefragt.

Weil ohne Chips fast nichts mehr geht, will EU-Industriekommissar Thierry Breton massiv investieren. Bis 2030 soll der Anteil Europas an der globalen Chipproduktion von zehn auf 20 Prozent wachsen. Um die Abhängigkeit von Anbietern aus Asien und den USA zu reduzieren. Und um künftig Lieferengpässe wie jene zu vermeiden, die seit Monaten etwa die Autoindustrie ausbremsen.

Kleinhans aber rät dazu, die beiden Argumente nicht zu vermengen. “2020 war ein Ausnahmejahr, weil jeder für Zuhause einen neuen Laptop brauchte, für Videoconferencing brauchte es mehr Cloud-Infrastruktur. Damit hat einfach keiner gerechnet vor Covid.” Ist es Aufgabe der Politik, kurzfristig etwas an der Chipknappheit zu ändern? “Eher nein”.

Kleinhans empfiehlt vielmehr, dass Europa strategisch in sein Chip-Ökosystem investiert. Die größten Fertigungsstandorte sind Taiwan und Südkorea, beim Chipdesign liegen die USA weit vorne. “Europa braucht eine langfristige Strategie, und die muss eben mehr sein als einfach nur zu sagen: Wir bauen eine Fab.” Auch das von Breton ausgegebene Ziel, Chips mit Strukturgrößen von nur noch zwei bis drei Nanometern zu entwickeln, könne “nur ein Puzzleteil in einer größeren Strategie” sein.

“1,2,3 Generationen hinter Cutting Edge”

Viel entscheidender sei das Drumherum, so Kleinhans: “Wie können wir unser Startup-Ökosystem im Bereich Hardware und Halbleiter stärken? Wie können wir die Eintrittsbarrieren für neue Unternehmen senken, sich mit Chipdesign zu beschäftigen? Was sind die interessanten Technologien über zehn Jahre hinaus, bei denen es nicht um die Fertigung, sondern ums Packaging geht?”

Denn: Selbst wenn führende Chiphersteller wie TSMC aus Taiwan Werke in Deutschland eröffneten, “werden wir vermutlich über Fertigungskapazitäten sprechen, die 1,2,3 Generationen hinter Cutting Edge sind”. Eben, weil die industriellen Ökosysteme in Taiwan oder Südkorea besser eingespielt seien.

Kleinhans zählt sich bei dem Berliner Thinktank mit 35 Jahren zu den Älteren. Wenn man will, ist man mit ihm schnell beim Du. Aufgewachsen in Steinau an der Straße bei Hanau, hat er Wirtschaftsinformatik in Darmstadt studiert. Danach hatte er “überhaupt keinen Bock mehr auf das deutsche Universitätssystem und wollte unbedingt weg”.

Schon in der Bachelorzeit interessierte ihn die Schnittmenge zwischen Digitalisierung und Gesellschaft. Aus seinem kommunikationswissenschaftlichen Masterstudiengang in Uppsala hat er viel mitgenommen: “Mein Prof hat mit marxistischer Theorie auf soziale Medien geschaut. 2011, also before it was cool, hat er schon darüber gesprochen, dass du auf Facebook das Produkt bist”.

Die Arbeit für einen Thinktank, das ist viel Theorie, viel lesen, viel schreiben. Deshalb baut Kleinhans am Wochenende gerne Möbel. “Das ist dann auch immer mit knobeln verbunden. In einer kleinen Stadtwohnung ist jeder Quadratmeter heilig, und man muss den so gut ausnutzen, wie es geht.” Bei Chips verhält es sich ganz ähnlich. Gabriel Bub

  • Chips
  • Digitalpolitik
  • Thierry Breton

Apéropa

Es soll der große Aufschlag sein, die Antwort der EU auf die Klimafrage. Und dann dieser Name: “Fit for 55. Er weckt Assoziationen, die eher mit Gymnastik, Nordic Walking und Faszientraining zu tun haben. “Fit for 55” – ein Fitnessprogramm für Menschen mittleren Alters?

Immerhin: Der Name ist kurz und eingängig, keine sperrige Wortkonstruktion, wie man sie durchaus auch in der EU kennt. Die “EU-Asien-Konnektivitätsstrategie” etwa ist so ein Begriff, der recht umständlich daherkommt. Kein Vergleich zum griffigen Titel “Neue Seidenstraße”.

Wenn die EU sich nun daran macht, Chinas Megaprojekt eine eigene Initiative entgegenzusetzen, dürfte die Namensfindung interessant werden. In jedem Fall nimmt man den Marketing-Aspekt ernst: Das “Narrativ” brauche einen Markennamen und ein Logo, heißt es in einem Papier des Rates. “Fit for Connectivity”? Hoffentlich nicht. Sarah Schaefer

  • Fit for 55
  • Green Deal
  • Neue Seidenstraße

BETA Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Interview mit dem luxemburgischen Energieminister Claude Turmes
    • Digitalstrategie der EU: Die Daten-Wette
    • Nach Amazon-Strafe: Schrems fordert strengere Aufsicht
    • Gaia-X-Gesellschaft verzichtet auf US-Werkzeuge
    • Vestager meldet Bedenken gegen Facebook-Deal an
    • Im Portrait: Jan-Peter Kleinhans (Stiftung Neue Verantwortung)
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    los geht’s: Ab sofort werden wir Sie an dieser Stelle über die große Transformation Europas informieren. Ich heiße Sie herzlich willkommen am Europe.Table.

    Die beiden in Regulierung gegossenen Megatrends Klimaschutz und Digitalisierung werden nahezu alle Bereiche in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft berühren. Und in vielen Organisationen dabei Spuren hinterlassen. In manchen auch tiefe.

    Beispiel “Fit for 55”: Kurz vor der Sommerpause hat die EU-Kommission gleich zwölf Klimagesetze auf einmal vorgelegt. Im Interview mit Charlotte Wirth erklärt Luxemburgs Energieminister Claude Turmes, ein erfahrener Strippenzieher der Brüsseler Politik, welche Elemente er für geboten hält – und welche er unbedingt verhindern will.

    Viel diskutiert wird auch über die Brüsseler Pläne, die Digitalriesen zu zähmen. Um selbst erfolgreich zu sein, brauchen die hiesigen Unternehmen aber mehr: einen funktionierenden Markt für Daten, wie Falk Steiner aufzeigt.

    Wir werden im August, in der Beta-Phase von Europe.Table, mehrmals wöchentlich über die Regulierungsvorhaben berichten. Ab September, wenn die Brüsseler Sommerpause endet, wird die Redaktion Sie jeden Werktag aktuell und exklusiv aus Brüssel, Berlin und weiteren europäischen Zentren informieren. Dann werden wir auch regelmäßig einen Überblick bieten, welche Legislativvorhaben vor wichtigen Schritten im Gesetzgebungsprozess stehen.

    Wenn Ihnen der erste Europe.Table gefällt – empfehlen Sie uns bitte weiter. Und schreiben Sie mir gerne, was wir besser machen können: till.hoppe@table.media

    Ihr
    Till Hoppe
    Bild von Till  Hoppe

    Analyse

    “Wir werden versuchen, Allianzen dagegen zu schmieden”

    Claude Turmes, Energieminister in Luxemburg und ehemaliger EU-Abgeordneter, im Interview zu Fit for 55 und ETS. Claude Turmes trägt Brille und einen Anzug.
    Claude Turmes ist Energieminister in Luxemburg und ehemaliger EU-Abgeordneter.

    Um die Europäischen Klimaziele zu erreichen arbeitet die EU derzeit an der Novellierung und Einführung zahlreicher Regularien. Darunter ein neues und äußerst umstrittenes Emissionshandelssystems (ETS) für Straßenverkehr und Gebäude, Teil des Klimaschutzpakets “Fit for 55“. Ab 2025 soll es eine CO2-Bepreisung von Kraft- und Brennstoffen geben – Sprit und Heizöl werden nach und nach teurer. Das schüre soziale Ungleichheiten, die auf EU-Ebene kaum kompensiert werden können, warnen Kritiker.

    So auch der Luxemburger Energieminister Claude Turmes, der im Interview mit dem Europe-Table bereits Widerstand gegen die Pläne ankündigt. Der frühere Europaparlamentarier kennt das anstehende Verhandlungsspiel bestens – er war in der vergangenen Wahlperiode energiepolitischer Sprecher der Grünen und Berichterstatter des Europaparlaments für die Energieunion. 2018 wechselte er in die Luxemburger Regierung.

    Herr Turmes, was stört Sie am neuen Emissionshandelssystem für Gebäude und Verkehr?

    Ich habe starke Zweifel an der Umsetzbarkeit. Es gibt dann einen einheitlichen Preis für CO2 in der EU, in der man sehr unterschiedliche Einkommenssituationen hat. Ich werfe also jemanden, der in Bulgarien einen Durchschnittslohn von weit unter 1.000 Euro hat, in einen Topf mit jemandem, der in einem Land wie Luxemburg arbeitet. Das kann man auch nicht einfach durch einen Kompensationsfonds ausgleichen.

    Werden ärmere Länder gegenüber reicheren also benachteiligt?

    Es wird definitiv eine starke Belastung für wirtschaftsschwächere Länder geben. Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist der CO2-Preis zu niedrig, um eine Wirkung für den Klimaschutz zu haben. Oder er ist zu hoch und führt insbesondere in osteuropäischen Ländern zu enormen gesellschaftlichen Spaltungen. Ich weiß nicht, wie man mit diesem Instrument ein faires Gleichgewicht finden soll.

    Kommissionsvize Frans Timmermans will die Belastungen durch einen 70 Milliarden Euro schweren Sozialfonds abfedern. Was stört Sie daran?

    Natürlich müssen wir einkommensschwache Haushalte vor den Auswirkungen einer CO2-Besteuerung schützen. In Luxemburg zum Beispiel verteilen wir das Geld aus der CO2-Steuer an die Menschen mit den niedrigsten Einkommen. Das klappt gut. Bei dem Sozialfonds stellt sich allerdings die Frage, ob wir das wirklich auf europäischem Niveau kalibrieren können. Die EU-Kommission sollte dies den Mitgliedsstaaten überlassen. Hinzu kommt der riesige bürokratische Aufwand, den ein solcher europäischer Fonds mit sich bringen würde.

    Wer das neue ETS kritisiere, solle mit besseren Alternativen aufwarten, fordert Timmermans. Was ist Ihre?

    Das System, das wir jetzt haben, hat gut funktioniert. Es kombiniert nationale Ziele für Gebäude, Transport und Landwirtschaft mit strengen europäischen Normen für neue Autos, Gebäude und Co. Dass die Kommission den Weg des ETS wählt, hat politische Gründe.

    Welche?

    Der Vorschlag kommt aus Deutschland, wo Anfang des Jahres ein ähnliches System eingeführt wurde. Es ist ein Instrument der CDU. Es ist sicher kein Zufall, dass die Kommissionspräsidentin, die derselben Partei angehört, diese Idee aufgenommen hat. Wir werden versuchen, Allianzen dagegen zu schmieden, sowohl mit anderen Regierungen als auch mit dem Europaparlament. Es ist ein extrem umstrittenes Instrument.

    Die Autoindustrie etwa hat den Vorschlag begrüßt.

    Sieht man sich die Entstehungsgeschichte des deutschen Pendants an, sieht man jedenfalls, dass dem ein starkes Lobbying der Automobilindustrie und der extrem gut organisierten Heizölindustrie vorausging. Zumindest in der deutschen Debatte war das Zusammenspiel zwischen CDU-Position und den Lobbyisten sehr offensichtlich.

    Welche Schwierigkeiten sehen Sie bei der CO2-Bepreisung der Gebäude?

    Bei den Gebäuden ist das soziale Risiko noch größer als beim Sprit: Sie trifft Menschen, die nicht einmal entscheiden können, ob das Gebäude, in dem sie wohnen, saniert wird oder nicht. Ein Fonds kann das nicht ausgleichen. In Luxemburg kompensieren wir solche Mehrkosten durch massive Subventionen, um den Umstieg vom Heizöl auf klimafreundlichere Alternativen voranzutreiben. Das kann man auf europäischem Level nicht so gut regeln.

    Die Kommission will erreichen, dass mehr Wohnungen saniert werden, um die Klimaziele zu erreichen. Ist das überhaupt umsetzbar angesichts der angespannten Mietmärkte in vielen Städten?

    In den meisten Ländern sind 75 bis 80 Prozent der Gebäude, die 2050 stehen, bereits gebaut. Die Renovierung von Gebäuden ist ein sehr schwieriges Thema. Es geht nicht um Technik, sondern um Logistik und Organisation. Die bestehenden Maßnahmen reichen nicht. Das Handwerk in Europa wird in den nächsten 30 Jahren viel zu tun haben.

    Viel Kritik erntet auch der Vorschlag der Kommission, einen Grenzausgleich für CO2 einzuführen. Manche Regierungen befürchten, dass die Berechnung des CO2-Gehalts von Importen im CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism) hohen administrativen Aufwand bedeutet. Sie auch?

    Europa ist der Kontinent, der den Klimaschutz politisch vorantreibt. Das bedeutet, dass sich unsere Industrien – ob Stahl, Chemie, Glas oder Raffinerien – umstellen müssen. Wir brauchen das CBAM, um Dumping aus anderen Ländern zu verhindern. Vor 20 Jahren wäre die Umsetzung kaum möglich gewesen. Aber wir leben im Zeitalter der Digitalisierung – wir dürften das hinkriegen.

    Viele Staaten außerhalb der EU wird der Grenzausgleich nicht freuen.

    Natürlich werden Länder wie China, Russland und die USA nicht unbedingt begeistert sein. Aber wenn wir Fortschritte im Klimaschutz wollen, müssen wir dafür sorgen, dass es in der Industrie keine unfaire Konkurrenz gibt. Bis das Instrument richtig kalibriert ist, wird einige Zeit vergehen. Aber auf lange Sicht ist es ein wichtiger Baustein in einer Welt, in der andere Länder ihren Industrien weniger Auflagen aufbürden.

    Der Energiechartavertrag erlaubt es, dass Fossile-Energien-Investoren vor Schiedsgerichten gegen viele EU-Staaten klagen könnten. Sehen Sie darin eine Gefahr?

    Ich glaube, die Gefahr ist sehr real. Für das Gelingen der europäischen Klimapolitik ist es wichtig, dass der Vertrag modernisiert wird. Wir können fossile Investments nicht weiter über solche Verträge schützen. Wir müssen jetzt Druck aufbauen und gleichzeitig eine Lösung für die Sunset-Klausel finden, die es erlaubt, dass Staaten sogar noch 20 Jahre nach Vertragsaustritt verklagt werden können. Das macht einen Austritt der EU als Block sehr gefährlich. Die Modernisierung wäre demnach die bessere Lösung.

    • CBAM
    • Emissionen
    • Emissionshandel
    • Fit for 55
    • Klima & Umwelt
    • Mobilität

    Die Daten-Wette der EU

    Der Digital Governance Act (DGA) soll es Unternehmen und Forschungsinstitutionen in der EU erleichtern, gemeinsam Daten zu nutzen. Es ist eine Wette auf die Zukunft: Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, so das Kalkül in Kommission, Parlament und Rat, könnte in der EU ein echter Datenmarkt entstehen. In dem Erzeuger und Nachfrager relevanter Daten zusammenfinden und eine datenbasierte Wirtschaft entsteht.

    Was kompliziert klingt, meint ganz praktische Anwendungen. In hochmodernen Geräten wie Landwirtschaftsmaschinen, Autos oder Produktionsstraßen verbaute Sensoren produzieren bereits heute Datenhaufen, die von einzelnen Nutzern nicht sinnvoll ausgewertet werden können. Zugleich könnten diese Informationen Dritten neue Erkenntnisse bringen und zur Prozessoptimierung beitragen. Wäre es da nicht schlau, beide Seiten über neue Mechanismen zusammenzubringen?

    Ein Schengen für Daten

    Ein “Schengen für Daten” nennt Angelika Niebler (CSU/EVP) das Ziel des DGA. Dieser soll Mechanismen herbeiführen, die Erzeuger von Daten und Nachfrager über regulierte Plattformen europaweit zusammenbringen und eine Preisfindung ermöglichen. Die Betreiber müssen sich staatlichen Aufsichtsstellen unterwerfen. Und auch der Staat soll seine Bestände zur Verfügung stellen – theoretisch zumindest. Denn die einzelnen Mitgliedstaaten sollen entscheiden, welche Daten EU-weit verfügbar gemacht werden und ob sie hierfür Gebühren erheben.

    Drei Hauptquellen für Daten sieht der DGA insgesamt vor:

    • Daten der öffentlichen Hand
    • Unternehmen, Institutionen und Einzelpersonen über Datentreuhänder
    • Privatpersonen über Datenspenden an “datenaltruistische Organisationen”

    Letztere sind dabei ein besonderer Fall: besonders vertrauenswürdigen und gemeinnützigen Intermediären sollen EU-Bürgerinnen und Bürger Daten zur Verfügung stellen können, damit diese eine weitere Verwertung ermöglichen, zum Beispiel für Forschungszwecke. Freiwillige Datenspenden sind in Deutschland im Zuge der Covid-Pandemie bekannter geworden, aber bislang selten.

    Damit hier keine eigenwirtschaftlichen Zwecke verfolgt werden sah der Kommissionsentwurf vor, dass datenaltruistische Organisationen rechtlich vollständig unabhängig sein müssten, um die entsprechende Zertifizierung zu erhalten. Kritiker sehen das als zu weitgehend an – jedenfalls bislang ist auch offen, wer diese Rolle überhaupt ausfüllen könnte.

    DSGVO bleibt maßgeblich

    Für das gesamte Europaparlament sei klar gewesen, dass der DGA keine Parallelgesetzgebung zur DSGVO sein könne, sagt Damian Böselager, MEP für Volt (Grüne/EFA): “Wir haben daher die alleinige Geltung der DSGVO für personenbezogene Daten an allen nötigen Stellen klargestellt”.

    Doch für das erklärte Ziel funktionierender Datenmärkte bleiben noch Fragen offen: Wie können Datenmittler für Einzelne in deren Auftrag ihre Rechte ausüben? Auch wie Unternehmen und Institutionen, die bereits heute Daten zur Verwendung durch Dritte anbieten, künftig unter dem DGA-Regime behandelt werden sollen, ist nicht abschließend geklärt – bereits in einer Stellungnahme vom März hatte die Bundesregierung zu diesen und weiteren Punkten um Klärung gebeten. Genug Stoff für Diskussionen in Bundesregierung und Ratsarbeitsgruppen, doch die Zeit drängt.

    Die deutsche Position ist derzeit noch in der Endabstimmung zwischen BMWi und BMJV. Doch spätestens im Oktober will die slowenische Ratspräsidentschaft die Ratsposition zum DGA festzurren. Der Industrieausschuss des Europäischen Parlaments hat bereits vor der Sommerpause die Änderungswünsche des Parlaments abgestimmt – die Trilogverhandlungen sollten eigentlich spätestens im November beginnen.

    Erst Data Governance, dann Data Act

    Dann folgt auch das nächste Puzzlestück der EU-Digitalgesetzgebung: der Data Act. Der Kommissionsvorschlag ist derzeit – und damit verspätet – für den 1. Dezember vorgesehen. Dieser soll konkret vorschreiben, wie Unternehmen ihre Daten nutzbar machen sollen – oder sogar müssen.

    Denn die im Data Governance Act regulierten Datenbörsen können nur dann funktionieren, wenn ausreichend große Datenhaufen entstehen. Und der politische Wunsch zu Datenteilungspflichten ist in den vergangenen Jahren auch jenseits der Wettbewerbsdiskussionen gewachsen.

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    News

    Nach Amazon-Strafe: Schrems fordert strengere Aufsicht

    Nachdem am Freitag mit dem Quartalsbericht der Firma bekannt wurde, dass die luxemburgische Datenschutzaufsichtsbehörde CNPD am 16. Juli eine DSGVO-Strafe in Höhe von 746 Millionen Euro gegen den Versandhändler und Web Services-Anbieter Amazon verhängt hatte, fordert der österreichische Datenschutzaktivist Max Schrems von der CNPD nun insgesamt ein aktiveres Vorgehen.

    “Bei Luxemburg scheint sich nach langem Schweigen nun doch Einiges zu bewegen“, sagte Schrems Europe.Table. “Allein die Summe wird Eindruck machen. Ich hoffe, dass die Entscheidung dann auch Bestand hat.”

    Insbesondere Luxemburg und Irland sieht Schrems als Problemfälle einer funktionierenden europäischen Datenschutzaufsicht. In beiden Ländern hat die Steuergesetzgebung zur Ansiedlung der Europazentralen großer datenverarbeitender Konzerne geführt. Gegen die irische Datenschutzaufsicht ist Schrems mit seiner NGO “None of your Business” (NOYB) wegen Untätigkeit bereits vor Gericht gezogen. Zuletzt legte der österreichische Oberste Gerichtshof Mitte Juli einen Fall der NGO gegen Facebook dem Europäischen Gerichtshof zur Klärung vor.

    Was der Datenschutzaktivist plant und wie er die Datenschutzbehörden Europas zu mehr Engagement treiben will, lesen Sie am Donnerstag im ausführlichen Interview mit Europe.Table.

    Amazon hat bereits angekündigt, Rechtsmittel gegen die Entscheidung der CNPD einzulegen, die bislang nicht veröffentlicht wurde. Die luxemburgische Behörde mit ihren etwa 50 Mitarbeitern ist trotz Zuständigkeit bislang kaum mit größeren Strafen in Erscheinung getreten. fst

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    Gaia-X-Gesellschaft verzichtet auf US-Werkzeuge

    Unterwandern Amazon, Google und Microsoft das europäische Cloud-Projekt Gaia-X? Die Beteiligung der US-Hyperscaler an dem Vorzeigevorhaben sorgt für hitzige Diskussionen unter den Mitgliedern. Klar ist inzwischen: In ihren internen Abläufen verzichten sie auf die US-Angebote.

    Als Kollaborationsplattform hat die Dachgesellschaft Gaia-X AISBL weder Microsofts 365 noch Googles Workspace ausgewählt. Statt weitverbreiterter Angebote wie “Teams” oder “Google Meet” nutzen die Mitglieder die Werkzeuge des Stuttgarter Mittelständlers Nextcloud. Dessen Open Source-Plattform ermögliche “eine sichere organisationsübergreifende Zusammenarbeit”, sagte Francesco Bonfiglio, CEO der in Belgien ansässigen Gaia-X AISBL, Europe.Table.

    Gehostet wird die Kollaborationsplattform von der United-Internet-Tochter Ionos auf einer Vorab-Version von Gaia-X. Mit der Entscheidung für eine in Europa gehostete und dezentrale Infrastruktur habe sich Gaia-X entschlossen, “sich wieder auf die ursprünglichen Ziele und Werte zurückzubesinnen“, sagte Nextcloud-Chef Frank Karlitschek. Laut Ionos-Vorstand Martin Endreß zeigen inzwischen auch große deutsche Konzerne Interesse an den Angeboten. tho

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    Vestager meldet Bedenken gegen Facebook-Deal an

    Die EU-Kommission hat eine vertiefte Prüfung der Übernahme von Kustomer durch Facebook eingeleitet. Die Akquisitionspläne des US-Konzerns bereiten Wettbewerbskommisssarin Margrethe Vestager aus zwei Gründen Sorge:

    • Der Kauf von Kustomer, einem US-Anbieter von CRM-Software (Customer Relationship Management), könnte andere Anbietern benachteiligen, befürchtet sie. So erhalte Facebook womöglich einen wirtschaftlichen Anreiz, Rivalen die Nutzung der eigenen Messaging-Dienste wie WhatsApp für die Kommunikation mit Kunden zu verwehren.
    • Überdies erhalte der Konzern nach der Übernahme Zugang zu Kustomer-Daten, etwa über die Kaufhistorie der Kunden oder deren virtuelle Wunschlisten. Dank solch wertvoller Informationen könnte Facebook seine in vielen Ländern bereits marktbeherrschende Stellung in der Online-Werbung weiter ausbauen, so die Sorge.

    Bestätigt die vertiefte Prüfung die Bedenken der Kommission, dürfte sie Facebook etwa zur Weihnachtszeit Auflagen machen. Der Konzern steht ohnehin im Visier der Wettbewerbshüter. Wie sehr zeigt die Tatsache, dass die Kommission den Fall Kustomer an sich zog, obwohl die Übernahme des 2015 gegründeten Unternehmens unterhalb der Aufgreifschwellen bleibt. tho

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    • Margrethe Vestager

    Presseschau

    EU schickt Löschflugzeuge in Waldbrandgebiete in der Türkei EURACTIV
    Laschet in Bedrängnis – Anwohner im Hochwassergebiet beklagen Versagen TAGESSPIEGEL
    Eine Million Fahrzeuge mit Elektroantrieb in Deutschland ZEIT
    England changes COVID-19 app so fewer people need to isolate REUTERS
    French president uses social media to counter “false information” about vaccines RFI
    Italy’s next bid for victory: The EU and green geopolitics ECFR
    Vorwürfe gegen Philipp Amthor: Tiktoks Ringen um Einfluss DEUTSCHLANDFUNK
    NRW-Nachbar Niederlande ändert Corona-Regeln – Farbcodes helfen RUHR24
    Straßen mit Solarpanels werden konkret: Tests mit PV-Wegen in Holland laufen EFAHRER
    COP26: How is Scotland tackling climate change? BBC
    Poland’s nuclear high-wire act at East-West crossroads DW

    Portrait

    Jan-Peter Kleinhans – “Eine Fab ist noch keine Strategie”

    Jan-Peter Kleinhans über die Produktion von Chips in der EU. Er trägt ein hellblaues Hemd, Brille und schwarze Hosenträger.
    Jan-Peter Kleinhans leitet das Projekt “Technologie und Geopolitik” bei der Stiftung Neue Verantwortung.

    Sie sind überall und trotzdem knapp. In seinem Büro, schätzt Jan-Peter Kleinhans, seien 150 bis 200 Chips verbaut – Bildschirm, Handy, Laptop, Ladegerät, Lampen, die Funktastatur. Allein in seinem Smartphone steckten etwa 30 Halbleiter.

    Kleinhans leitet das Projekt “Technologie und Geopolitik” bei der Stiftung Neue Verantwortung (SNV), er beschäftigt sich mit der strategischen Bedeutung von Halbleitern und deren Lieferketten. Sein Forschungsgebiet ist derzeit politisch sehr gefragt.

    Weil ohne Chips fast nichts mehr geht, will EU-Industriekommissar Thierry Breton massiv investieren. Bis 2030 soll der Anteil Europas an der globalen Chipproduktion von zehn auf 20 Prozent wachsen. Um die Abhängigkeit von Anbietern aus Asien und den USA zu reduzieren. Und um künftig Lieferengpässe wie jene zu vermeiden, die seit Monaten etwa die Autoindustrie ausbremsen.

    Kleinhans aber rät dazu, die beiden Argumente nicht zu vermengen. “2020 war ein Ausnahmejahr, weil jeder für Zuhause einen neuen Laptop brauchte, für Videoconferencing brauchte es mehr Cloud-Infrastruktur. Damit hat einfach keiner gerechnet vor Covid.” Ist es Aufgabe der Politik, kurzfristig etwas an der Chipknappheit zu ändern? “Eher nein”.

    Kleinhans empfiehlt vielmehr, dass Europa strategisch in sein Chip-Ökosystem investiert. Die größten Fertigungsstandorte sind Taiwan und Südkorea, beim Chipdesign liegen die USA weit vorne. “Europa braucht eine langfristige Strategie, und die muss eben mehr sein als einfach nur zu sagen: Wir bauen eine Fab.” Auch das von Breton ausgegebene Ziel, Chips mit Strukturgrößen von nur noch zwei bis drei Nanometern zu entwickeln, könne “nur ein Puzzleteil in einer größeren Strategie” sein.

    “1,2,3 Generationen hinter Cutting Edge”

    Viel entscheidender sei das Drumherum, so Kleinhans: “Wie können wir unser Startup-Ökosystem im Bereich Hardware und Halbleiter stärken? Wie können wir die Eintrittsbarrieren für neue Unternehmen senken, sich mit Chipdesign zu beschäftigen? Was sind die interessanten Technologien über zehn Jahre hinaus, bei denen es nicht um die Fertigung, sondern ums Packaging geht?”

    Denn: Selbst wenn führende Chiphersteller wie TSMC aus Taiwan Werke in Deutschland eröffneten, “werden wir vermutlich über Fertigungskapazitäten sprechen, die 1,2,3 Generationen hinter Cutting Edge sind”. Eben, weil die industriellen Ökosysteme in Taiwan oder Südkorea besser eingespielt seien.

    Kleinhans zählt sich bei dem Berliner Thinktank mit 35 Jahren zu den Älteren. Wenn man will, ist man mit ihm schnell beim Du. Aufgewachsen in Steinau an der Straße bei Hanau, hat er Wirtschaftsinformatik in Darmstadt studiert. Danach hatte er “überhaupt keinen Bock mehr auf das deutsche Universitätssystem und wollte unbedingt weg”.

    Schon in der Bachelorzeit interessierte ihn die Schnittmenge zwischen Digitalisierung und Gesellschaft. Aus seinem kommunikationswissenschaftlichen Masterstudiengang in Uppsala hat er viel mitgenommen: “Mein Prof hat mit marxistischer Theorie auf soziale Medien geschaut. 2011, also before it was cool, hat er schon darüber gesprochen, dass du auf Facebook das Produkt bist”.

    Die Arbeit für einen Thinktank, das ist viel Theorie, viel lesen, viel schreiben. Deshalb baut Kleinhans am Wochenende gerne Möbel. “Das ist dann auch immer mit knobeln verbunden. In einer kleinen Stadtwohnung ist jeder Quadratmeter heilig, und man muss den so gut ausnutzen, wie es geht.” Bei Chips verhält es sich ganz ähnlich. Gabriel Bub

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    Apéropa

    Es soll der große Aufschlag sein, die Antwort der EU auf die Klimafrage. Und dann dieser Name: “Fit for 55. Er weckt Assoziationen, die eher mit Gymnastik, Nordic Walking und Faszientraining zu tun haben. “Fit for 55” – ein Fitnessprogramm für Menschen mittleren Alters?

    Immerhin: Der Name ist kurz und eingängig, keine sperrige Wortkonstruktion, wie man sie durchaus auch in der EU kennt. Die “EU-Asien-Konnektivitätsstrategie” etwa ist so ein Begriff, der recht umständlich daherkommt. Kein Vergleich zum griffigen Titel “Neue Seidenstraße”.

    Wenn die EU sich nun daran macht, Chinas Megaprojekt eine eigene Initiative entgegenzusetzen, dürfte die Namensfindung interessant werden. In jedem Fall nimmt man den Marketing-Aspekt ernst: Das “Narrativ” brauche einen Markennamen und ein Logo, heißt es in einem Papier des Rates. “Fit for Connectivity”? Hoffentlich nicht. Sarah Schaefer

    • Fit for 55
    • Green Deal
    • Neue Seidenstraße

    BETA Europe.Table Redaktion

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