Frans Timmermans: „Wir geben Vollgas bis zum Ende“

Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, sagt über sich: „Ich bin ein Politiker, kein Bürokrat.“


Herr Timmermans, Sie ernten viel Kritik für Ihre Vorschläge zur Renaturierung und zur Verringerung des Pestizideinsatzes. Die EVP lehnt sie ab und argumentiert mit der Versorgungssicherheit.

Wir wissen sehr genau, woher die wirkliche Bedrohung für die Ernährungssicherheit kommt: von der Klimakrise, dem übermäßigen Einsatz von Pestiziden und von landwirtschaftlichen Praktiken, die viel Dünger benötigen. Es gibt also einen Angriff auf die Biodiversität, wir riskieren, eine Million Arten zu verlieren, und das muss verhindert werden. Die EVP stellt das, wenn ich es richtig verstehe, gar nicht infrage. Es geht ihr darum, ob wir unsere Praktiken jetzt ändern oder abwarten. Meine Erfahrung mit Klima und Natur ist, dass es umso teurer wird, je länger man wartet.

Die Mehrheit im Europaparlament für den Green Deal bröckelt. Wie wollen Sie sicherstellen, dass Ihre Vorhaben bis zum Ende der Legislatur Priorität haben?

Zunächst einmal müssen wir den Eindruck vermeiden, wir wären schon fertig. Wir haben viel mehr erreicht als viele geglaubt haben. Wir haben uns vorgenommen, den CO₂-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren, und mit den beschlossenen Maßnahmen werden wir das Ziel auch erreichen. Aber wir müssen die Natur in die Lage versetzen, ihre Rolle dabei zu spielen. Ein Boden, der tot ist, nimmt kein CO₂ auf. Wälder, die in schlechtem Zustand sind, geben Kohlendioxid ab, anstatt es aufzunehmen. Deshalb brauchen wir ein Gesetz zur Wiederherstellung der Natur. Wir geben daher Vollgas bis zum Ende. Aber wir sind auch verhandlungsbereit.

Kein Konflikt zwischen Renaturierung und Windrädern

Wie wollen Sie die Europaabgeordneten überzeugen, wenn Sie diese Woche in den Ausschüssen mit ihnen diskutieren?

Ich habe bereits in der vergangenen Plenarsitzung klargestellt: ,Wenn Sie den Renaturierungsvorschlag in den Papierkorb werfen, wird es bis zum Ende der Amtszeit keine weiteren Vorschläge geben.‘ Das war für einige wichtig zu wissen. Zweitens habe ich die Abgeordneten aufgefordert uns zu sagen, was konkret die strittigen Punkte sind, denn wir wissen es nicht. Auf diese Weise haben wir die Möglichkeit, Klarheit zu schaffen oder Kompromisse vorzuschlagen. Drittens werde ich diese Woche die Möglichkeit haben, vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments einige Punkte zu klären, die leichtfertig gesagt werden.

Konkret?

Zum Beispiel, Renaturierung bedeute, dass man dort keine Windräder oder Solaranlagen bauen dürfe. Das ist nicht wahr. Ich habe das auch in meinem eigenen Land gesehen, als der Premierminister sagte: ,Jetzt kann ich keine Offshore-Windkraftanlagen mehr bauen.‘ Nein, ganz im Gegenteil, denn der Bau von Offshore-Windkraftanlagen kann auch eine Meeresschutzzone schaffen. Ich würde sogar sagen, dass Koalitionen möglich sind zwischen jenen, die Natur und biologische Vielfalt wiederherstellen wollen, und jenen, die auf demselben Land Windräder oder Solarparks bauen wollen.

„Ist die EVP noch zu Kompromissen bereit?“

Warum bremst die EVP Ihrer Meinung nach gerade jetzt?

Ich glaube, es gibt eine politische Dynamik, die über den Green Deal hinausgeht. Alles, was wir zuletzt aufgebaut haben, beruht auch auf der Kompromissbereitschaft der Parteien der erweiterten Mitte im Europäischen Parlament – EVP, S&D, Renew und Grüne. Nach den Wahlen in Italien, Schweden und Finnland zeigt sich jedoch, dass die EVP etwas mehr nach rechts schaut. Die Frage lautet daher: Ist die EVP weiter bereit, mit uns und anderen Parteien Kompromisse zu finden? Oder müssen wir uns auf eine neue politische Dynamik vorbereiten, die sich nicht nur auf den Green Deal auswirkt, sondern womöglich auch auf die Zeit nach den Europawahlen?

Werden Sie die noch ausstehenden Gesetzesvorschläge wie geplant vorlegen?

Wir werden tun, was wir können. Aber ich lege Texte nur vor, wenn sie dafür reif sind und wir die Öffentlichkeit konsultiert haben. Ich schließe nicht aus, dass einige der Texte nicht fertig sind.

„Ich weiß, dass ich Mehrheiten brauche“

Mangelt es an Zeit oder an Ehrgeiz?

Ich muss auch die politischen Gegebenheiten beachten. Ich bin nicht naiv und weiß, dass ich Mehrheiten brauche. Aber wir arbeiten in der Kommission weiter an den Gesetzestexten. Ich will nicht verhehlen, dass unsere Dienste unter unglaublichem Druck stehen. Aber ich möchte nicht, dass Texte abgelehnt werden, weil wir unsere Arbeit nicht getan haben. Wenn es länger dauert, dann dauert es eben länger. Wenn das bedeutet, dass wir uns dem Ende der Amtszeit nähern, ja, dann ist das eben so, aber die Qualität geht vor.

Die Bundesregierung hat beim Verbrenner-Aus für Autos gebremst, und nun womöglich auch bei den Sanierungsvorgaben für Gebäude. Befürchten Sie, dass es erneut zum Konflikt kommt?

Was die Autos betrifft: Wir werden die Arbeit machen, die wir den Deutschen versprochen haben. Bei vollem Bewusstsein und mit großer Präzision. Aber ich sehe trotzdem, dass die europäische Automobilindustrie in eine bestimmte Richtung geht, die vor allem auf Elektrifizierung und vielleicht auch auf die Nutzung von Wasserstoff ausgerichtet ist. Wenn man sieht, dass in China günstige Elektroautos in hoher Qualität produziert werden, dann haben wir hier keine Zeit zu verlieren.

Unser Vorschlag zur Gebäude-Richtlinie soll die Mitgliedstaaten unterstützen, da die entsprechenden Klimaschutzziele bereits in der Lastenteilungsverordnung festgelegt sind. Wenn der Vorschlag nicht als solcher verstanden wird, muss er erklärt oder geändert werden. Bei Deutschland liegt es nicht an den Zielen, sondern daran, dass es auf nationaler Ebene bereits Bemühungen gibt, die nicht immer genau in die gleiche Richtung gehen. Hier gibt es Koordinierungsbedarf.

Klimaziele für 2040 noch in dieser Amtszeit

Berlin hatte nachträglich die Trilogeinigung zu den Pkw-Flottengrenzwerten infrage gestellt, nun kritisiert Paris das Verhandlungsergebnis zur Erneuerbare-Energien-Richtlinie. Hat die Kommission mit ihrem Zugeständnis an Deutschland einen Präzedenzfall geschaffen?

So funktioniert Europa nun mal: durch Verhandlungen. Der einzige Unterschied ist, dass die Deutschen nach der Abstimmung damit kamen. Allerdings war es ausgerechnet ein Land, das so sehr für seine Regeltreue geschätzt wird. Das hat diese eher negative Dynamik ausgelöst.

Sind Sie der Meinung, dass nach 2024 ein zweiter Green Deal notwendig sein wird? Es wird bereits über Klimaziele für 2040 gesprochen.

Wir werden auf jeden Fall noch vor Ende der Amtszeit einen Vorschlag machen, was wir für notwendig erachten für 2040. Erstens, weil wir eine Verpflichtung haben, dies zu tun. Zweitens, weil ich glaube, dass der Green Deal, die Klimakrise und die Gefahr des Ökozids Gegenstand einer europaweiten Wahlkampagne sein müssen. Denn diese Krisen lassen sich nicht durch fünf Jahre Green Deal beenden. Und ich will, dass jeder Farbe bekennt. Wir hatten gleich zu Beginn der Amtszeit eine Vereinbarung mit der EVP zum Green Deal. Jetzt, wo die Wahlen näher rücken, gehen sie Bündnisse mit der extremen Rechten in Nord- und Südeuropa ein.

„Ich werde mich weiter engagieren“

Wenn Sie selbst in die Zukunft blicken: Werden Sie eine dritte Amtszeit als Kommissar anstreben?

Es gibt einige, die sagen, dass ich in meine Heimat zurückkehre, um in den Niederlanden Politik zu machen. Es gibt einige, die sagen, dass ich auf europäischer Ebene bleibe. Ich weiß nur: Ich werde mich weiter engagieren. Ich möchte zu denjenigen gehören, die das Programm für die Wahlen vorbereiten. Zumindest möchte ich meine Ideen dazu teilen. Und dann werden wir sehen. Zwei Amtszeiten sind schon eine lange Zeit. Und zwei Amtszeiten als erster Vizepräsident der Europäischen Kommission mit vielen schwierigen Aufgaben, das ist schon viel.

Emmanuel Macron hat kürzlich eine Regulierungspause der Kommission gefordert.

Ich stimme mit dem Präsidenten der Republik überein, wenn er sagt: ,Die nächste Kommission wird diese Pläne umsetzen müssen.‘ Und sie wird dabei eine schwere Last zu tragen haben. Aber wir müssen vorsichtig sein: Wir befinden uns in einer Phase, in der Europa viel politischer ist als noch vor fünf Jahren. Ich sage also allen, die den Anspruch haben, die Europäische Kommission zu führen: Sie sollen sich den Wählern stellen. Den europäischen Wählern muss ein politisches Projekt vorgelegt werden. Welche Wähler gehen zur Europawahl, wenn man ihnen sagt, dass wir nur Bürokraten aus Brüssel sind? Ich selbst wurde von den niederländischen Bürgern siebenmal gewählt, sechsmal ins niederländische Parlament, einmal ins Europäische Parlament. Ich bin ein Politiker, kein Bürokrat. 

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