Table.Briefing: ESG

COP15 dauert wohl länger + ESG unter Druck in den USA + Kopplung von Ausgaben und SDG schwierig

  • USA: Republikaner bekämpfen ESG-Investments
  • Noch viel zu tun bei der Kopplung von Ausgaben und SDG
  • Ulla Gläßer im Interview zu Beschwerdemechanismen
  • Weltnaturkonferenz: Zeichen stehen auf Verlängerung
  • EU-Institutionen einigen sich auf neue Batterieverordnung
  • Öffentliche Konsultation für Bundestariftreuegesetz gestartet
  • Mikrokredite in Kambodscha: Beschwerde gegen Oikocredit
  • Deutsche Firmen exportieren mehr verbotene Pestizide
  • Presseschau
  • Bärbel Kofler: “EU-Lieferkettenrichtlinie muss vor Ort wirken”
  • Tilman Santarius – technischen Fortschritt gestalten
Liebe Leserin, lieber Leser,

wie Lieferkettengesetze wirken, hängt maßgeblich von funktionierenden Beschwerdemechanismen ab. Denn nur, wenn Betroffene auf Risiken oder Missstände für Mensch oder Umwelt entlang der Lieferketten hinweisen, können Unternehmen sie beseitigen. Wir legen in dieser Ausgabe einen Fokus auf dieses Thema.

Lesen Sie im Interview, welche offenen Fragen die Juristin Ulla Gläßer bei den Vorgaben des deutschen Lieferkettengesetzes für einen Beschwerdemechanismus sieht und warum sie die Schaffung lernender Mechanismen für wesentlich hält. Bärbel Kofler, parlamentarische Staatssekretärin im BMZ, präsentiert in ihrem Standpunkt vier Kernforderungen für ein europäisches Lieferkettengesetz. Eine ist, dass Beschwerdemechanismen als Teil der unternehmerischen Sorgfaltspflicht “für alle potenziell betroffenen Rechteinhabenden leicht zugänglich sein” müssten.

Die Vanguard Group, einer der größten Fondsmanager Welt, hat sich aus der Net Zero Asset Managers Initiative zurückgezogen, will also nicht mehr mit deren ESG-Zielen identifiziert werden. Das ist eine Reaktion auf Republikaner, die in 31 Bundesstaaten Anti-ESG-Gesetze auf den Weg gebracht haben. “Die Branche ist verunsichert“, schreibt Carsten Hübner in seiner Analyse.

Finanzminister Christian Lindner will jede Ausgabe im Hinblick auf die Wirkung auf die SDG analysieren. Wie schwierig es ist, die Wirksamkeit staatlicher Ausgabenprogramme zu messen, besonders mit Blick auf Nachhaltigkeitsziele, analysiert Caspar Dohmen.

Porträtiert wird der Forscher Tilman Santarius, der sich fragt, wie sich technischer Fortschritt politisch und gesellschaftlich gestalten lässt. Seine These ist, dass die Digitalisierung in ihrer heutigen Form der Umwelt mehr schadet, als sie nützt.

Weiter lesen Sie im ESG.Table: Die EU-Institutionen haben sich auf eine neue Batterieverordnung geeinigt. Firmen aus Deutschland exportieren mehr verbotene Pestizide. Drei NGO haben eine Beschwerde gegen den ethischen Investor Oikocredit bei der OECD eingelegt – wegen Mikrokrediten in Kambodscha. Die Bundesregierung startete die Konsultationsphase für ein Tariftreuegesetz. Künftig will der Bund öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen vergeben, die Beschäftigte fair bezahlen.

Halbzeit auf der Weltnaturkonferenz in Montreal. Bei entscheidenden Fragen, etwa zur Umsetzung der Ziele nebst Kontrollmechanismen, konnten bislang kaum Fortschritte erzielt werden, weshalb eine Verlängerung als sicher gilt, schreibt Timo Landenberger aus Montreal.

Ihr
Caspar Dohmen
Bild von Caspar  Dohmen

Analyse

USA: Republikaner bekämpfen ESG-Investments

Hauptsitz von BlackRock in New York

Die Ankündigung sorgte in Finanzkreisen für erhebliches Aufsehen: Die Vanguard Group, einer der größten Fondsmanager Welt, zieht sich aus der Net Zero Asset Managers Initiative (NZAM) zurück. Das gab die Firma am 7. Dezember bekannt. Solche Initiativen seien zwar hilfreich, um miteinander in Dialog zu treten. “Manchmal können sie aber auch zur Verwirrung über die Ansichten einer einzelnen Investmentfirma führen”, heißt es in der Erklärung des Unternehmens. Im Klartext: Vanguard möchte nicht länger mit den ESG-Zielen der Initiative identifiziert werden.

Die NZAM ist ein globaler Zusammenschluss von Vermögensverwaltern. Als offizieller Partner der Race-to-Zero-Kampagne der UNO will sie einen Beitrag dazu leisten, die Treibhausgas-Emissionen bis spätestens 2050 auf null zu bringen. Stand Anfang November gehörten der Initiative 291 Unternehmen an, die zusammen 66 Billionen Dollar verwalten.

Republikanische Staaten verabschieden Anti-ESG-Gesetze

Der überraschende Rückzug von Vanguard lässt erahnen, welchem Druck Banken und Fondsgesellschaften in den USA aktuell ausgesetzt sind, die sich zu ESG-Prinzipen bekennen. Schon die Sprache ist martialisch. Von einem Krieg und Kreuzzug gegen ESG ist die Rede. Überall im Land bläst die republikanische Partei zum Sturm auf einen “woke capitalism” und eine linke Agenda, die angeblich mit der Aktionärsmacht großer Fondsgesellschaften wie Vanguard oder Blackrock durchgesetzt werden soll.

Aber es bleibt nicht nur bei erhitzten Debatten. In 31 Bundesstaaten haben Republikaner zwischenzeitlich Anti-ESG-Gesetze auf den Weg gebracht. In elf Staaten sind sie bereits in Kraft. In vier weiteren republikanisch regierten Bundesstaaten haben sie gute Chancen, angenommen zu werden. Ihr Ziel: Banken und Fondsgesellschaften, die sich auf ESG-Kriterien verpflichtet haben, von öffentlichen Aufträgen und Investitionen auszuschließen.

Als weiterer wichtiger Hebel werden die Pensionsfonds der Staatsdiener gesehen. Florida ist hier Vorreiter. Auf Initiative des republikanischen Gouverneurs Ron DeSantis verabschiedete das zuständige Verwaltungsgremium des Bundesstaates im August dieses Jahres eine Resolution, wonach öffentliche Rentengelder allein anhand wirtschaftlicher Kriterien investiert werden dürfen. “Die Förderung sozialer, politischer oder ideologischer Interessen” gehöre nicht dazu, heißt es in der Entscheidung. Sie beinhaltet auch den Auftrag, die bisherige Praxis zu überprüfen.

Laut Zahlen von US SIF, einer in Washington D.C. ansässigen NGO für nachhaltiges Investment, waren im Jahr 2020 rund 3,4 Billionen Dollar an Rentengeldern in Fonds angelegt, bei denen zumindest einzelne ESG-Kriterien berücksichtigt wurden. Bei einem Gesamtvolumen der öffentlichen Pensionsfonds von 4,6 Billionen entspricht dies einem Anteil von 74 Prozent der Investitionssumme.

Texas: Sieben europäische Banken stehen auf schwarzer Liste

Mehrere republikanisch-regierte Bundesstaaten haben bereits damit begonnen, staatliche Mittel umzuschichten. Louisiana zog 794 Millionen Dollar von Blackrock ab. Gleiches steht dem Unternehmen in Florida bevor. Hier gab Jimmy Patronis, der oberste Finanzer des Sunshine States, jüngst bekannt, zum Jahreswechsel die Verwaltung von zwei Milliarden Dollar in andere Hände zu geben.

Texas wiederum führt Blackrock mit neun anderen Finanzinstituten und 348 Fonds verschiedener Gesellschaften als “Financial Companies that Boykott Energy Companies” auf einer offiziellen Divestment-Liste – gemeinsam mit terroristischen Organisationen und Unternehmen, die Verbindungen in den Iran und den Sudan haben oder Israel boykottieren. Neben den britischen Investmentgesellschaften Jupiter Fund Management und Schroders handelt es sich ausschließlich um europäische Großbanken: BNP Paribas, Credit Suisse, Danske Bank, Nordea Bank, Svenska Handelsbanken, Swedbank und UBS.

Unklar, warum Blackrock im Zentrum der Kampagne steht

Bei der Vorstellung der schwarzen Liste Ende August unterstrich Comptroller Glenn Hegar, der höchste Finanzbeamte von Texas, seine generelle Abneigung gegen die ESG-Bewegung, die “ein undurchsichtiges und perverses System” hervorgebracht habe. Dennoch seien von ihm lediglich Unternehmen und Fonds gelistet worden, die den Boykott fossiler Energien propagierten – was die betroffenen Firmen bestreiten. Allen voran Blackrock, das mit einer landesweiten Werbekampagne dagegenhielt. Zentrale Botschaft: Man habe noch immer mehr als 100 Milliarden Dollar in texanische Energieunternehmen investiert, weltweit seien es 310 Milliarden Dollar.

Warum ausgerechnet Blackrock derart ins Visier der Anti-ESG-Kampagne geraten ist, lässt sich nur schwer sagen. Zwar hat CEO Larry Fink schon vor einigen Jahren für ESG geworben, aber das Unternehmen ist bis heute eher ein Symbol denn ein Vorreiter der Bewegung. Mit seinem Ansatz eines Stakeholder-Kapitalismus fühlt sich Fink jedenfalls eher zwischen allen Stühlen und hat wiederholt darauf verwiesen, sowohl von links als auch von rechts in der Kritik zu stehen.

Texanisches Anti-ESG-Gesetz verteuert Anleihen

Was Anti-ESG-Gesetze bewirken können, zeigt eine kürzlich vorgestellte Studie der Wharton School der University of Pennsylvania. Sie hat die Folgen des texanischen Gesetzes in den ersten acht Monaten seit seiner Verabschiedung untersucht. Dies war möglich, weil das Gesetz schon im September 2021 in Kraft trat – obwohl Comptroller Hegar erst im August 2022 die finale Boykott-Liste präsentieren konnte.

Das Gesetz verbietet es den Kommunen, Verträge mit Banken abzuschließen, die ESG-Kriterien folgen. Dies hat laut Studie zum Rückzug von fünf der größten Emissionshäuser für Kommunalanleihen aus dem Bundesstaat geführt. Die Folge: weniger Wettbewerb und höhere Zinsen. Im Ergebnis, schätzen die Autoren, werden kommunale Einrichtungen in Texas zusätzliche Zinsen in Höhe von 303 bis 532 Millionen Dollar für getätigte Anleihen in Höhe von 32 Milliarden Dollar aufbringen müssen.

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Noch viel zu tun bei der Kopplung von Ausgaben und SDG

Christian Lindner will künftig mit jedem Haushaltstitel eine Wirkungsanalyse mit Blick auf die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDG) bzw. die Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung verbinden (ESG.Table berichtete). Eine Arbeitsgruppe beim BMF hat sich damit zwei Jahre beschäftigt. Ihr Bericht werde das Bundeskabinett “zeitnah verabschiedet”, heißt es beim BMF. Das Vorhaben ist Teil des sogenannten Spending-Review-Prozesses, den das Finanzministerium seit 2015 zur Evaluierung von Ausgaben durchführt.

Als das “mutigste und vielleicht auch wichtigste Versprechen des Finanzministers in seiner Amtszeit”, bewertet Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts der Wirtschaft (DIW), das Vorhaben von Lindner. Könne er es umsetzen, würde Deutschland eine wichtige Vorreiterrolle global spielen und “einen wertvollen Beitrag zur Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele leisten”, sagt der DIW-Chef. Von einem “begrüßenswerten” und “eigentlich überfälligen Schritt” spricht Katharina Beck, die finanzpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

Wirkungsanalysen in Deutschland bisher wenig ausgereift

Traditionell schauen Haushälter auf die Einnahmen und die Einhaltung der vereinbarten Ansätze im Haushalt durch die Fachministerien. Aber es gab Phasen, in denen einige Regierungen von Industrieländern stärker darauf schauten, ob sie mit den Ausgaben die gewünschten Politikziele erreichen, zuletzt seit den 1990er Jahren. Vorreiter waren Neuseeland, Australien, Südkorea, Österreich, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien.

Deutschland wurde erst aktiver, nachdem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit 2014 bemängelt hatte, dass der Bund im internationalen Vergleich wenig auf die Wirkung seiner Ausgaben schaue. Seitdem wurden einige Wirkungsanalysen erstellt, zu Klima und Wohnungswesen (2016/17), der Beschaffung standardisierter Massengüter (2017/18) oder dem Forderungsmanagement (2018/19).

Im jüngsten Review-Prozess ging es 2021/22 um die Verknüpfung von SDG und Haushalt. Die Empfehlungen bezögen sich “ausdrücklich auf alle 17 Nachhaltigkeitsziele der UN und der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie”, heißt es beim BMF. Dazu zählten auch Ziele wie “hochwertige Bildung”, “starke Institutionen” oder “tragfähige Staatsfinanzen”. Nach Ansicht der Grünen Finanzpolitikerin Katharina Beck sollten dazu auch Themen gehören wie “nicht nachhaltige Subventionen, beispielsweise im Klimabereich, ungerechte Steuereffekte oder Beschaffungskriterien”.

Es fehlen passende Zieldefinitionen und Wirkungsindikatoren

Der Bundesrechnungshof hatte bei dem Review-Prozess zu Klima und Wohnungswesen 2017 bemängelt, dass eine Erfolgs- und Wirkungskontrolle bisweilen an der unklaren Definition von Zielen in den Ausgabeprogrammen scheitere. Das BMF spricht von Fortschritten: “Zahlreiche Teilprogramme weisen inzwischen entsprechend überprüfbarer Zielsetzungen auf”. Aber das Haus räumt anhaltende methodische Schwierigkeiten ein. So könne bei manchen Förderungen ein Zusammenhang zwischen Förderung und Zielerreichung “nur sehr schwer quantifiziert werden”.

Wie weit der Weg ist, zeigte ein Sonderbericht des Bundesrechnungshofs zum Klima. Es fehle ein Überblick über die Klimawirkungen der Ausgaben und Einnahmen im Bundeshaushalt, hatte der Präsident Kay Scheller dazu angemerkt. Für die meisten der über hundert Förderprogramme des Bundes für den Klimaschutz war demnach nicht klar, “wie viel sie zur Minderung von Treibhausgasen beitragen”.

Geld fließe auch in für den Klimaschutz wirkungslose und ineffiziente Programme. Und die Bekämpfung der Klimakrise ist nur eines der Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung. Allerdings sagen Fachleute, dass die Politik bei dem Thema der Wirkungsanalyse der Haushalte auch nur wenig Hilfe durch die Wissenschaft erhalte.

Noch viel methodische Arbeit nötig

Eine nachhaltige Finanzpolitik sei viel mehr als man lediglich an der Schuldenquote oder an der Schuldenbremse festmachen könne, sagt DIW-Chef Fratzscher. Die Umsetzung des Vorhabens sei “ambitioniert” und “erfordert eine sehr viel detailliertere Planung jeder einzelnen Maßnahme“. Aus Fachministerien ist zu hören, dass die Wirksamkeitsmessung der Ausgaben gerade mit Blick auf die SDG noch sehr am Anfang stehe. Starten sollen die Ministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie für Umwelt und Verbraucher.

Um die Wirksamkeit von Maßnahmen messen zu können, muss die Politik die notwendigen Grundlagen schaffen. “Das geht nur, wenn die Politik klare Ziele benennt und überprüfbare Indikatoren für die Erfolgskontrolle findet“, sagt Michael Thöne, geschäftsführender Direktor am Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitut der Universität Köln. So hatte beispielsweise die britische Regierung unter Blair erklärt, sie wolle binnen fünf Jahren die Zahl der Unfalltoten um 30 Prozent senken.

Wer messen will, wie sich die Ausgaben des Bundes auf die 17 SDG auswirken, steht vor einer gewaltigen Aufgabe. Ermessen lässt sie sich, wenn man berücksichtigt, dass die Bundesregierung in ihrer offiziellen Nachhaltigkeitsstrategie 75 Indikatoren nutzt, um die 17 SDG zu operationalisieren. Und das Statistische Bundesamt nutzt in seinem Nachhaltigkeitsmonitoring sogar 248 Indikatoren.

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“Beschwerdeverfahren können nicht von Anfang an perfekt entworfen werden”

Ulla Gläßer von der Europa-Universität Viadrina arbeitet an einem juristischen Kommentar zu Beschwerdemechanismen.

Verbessern unternehmensinterne Beschwerdemechanismen die Situation von Menschen, die entlang der Lieferketten deutscher Unternehmen von Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschädigungen betroffen sind?
Beschwerdemechanismen haben großes Potenzial, die Situation von Beschäftigten und Drittbetroffenen entlang von Lieferketten zu verbessern. Gelingt es? Das hängt davon ab, ob die Beschwerdeverfahren gemäß der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte wirksam werden. Dafür braucht es Zugang, ein effektives, transparentes Verfahren und effektive Abhilfe. Da gibt es noch viele Fragezeichen.

Wo hapert es?
Wenn Beschwerden mit einem weichen Kompromiss enden, dessen Umsetzung niemand kontrolliert, ist das Beschwerdeverfahren eine Mogelpackung. Davor warnen wir in unserem Forschungsbericht. Aber wenn Beschwerdemechanismen funktionieren, sind sie für die Beschwerdeführenden ein wichtiger Beitrag zur Herstellung von Selbstwirksamkeit in globalen Produktionsverhältnissen. Zentral ist auch ihre Bedeutung als eine Art Frühwarnsystem für Missstände und Risiken entlang der Lieferkette.

Wann trauen Betroffene einem von privaten Unternehmen eingerichteten Beschwerdemechanismus?
Da gibt es drei Voraussetzungen. Erstens Integrität: Die Vertreter des Beschwerdemechanismus müssen von Betroffenen als neutral wahrgenommen werden. Zweitens: Transparenz des Verfahrens. Und drittens Effektivität im Sinne eines breiten Zugangs, spürbarer Maßnahmen gegen Repression, einer zügigen Verfahrungsabwicklung und eines Ergebnisses, das echte Abhilfe bedeutet und in dem sich die Betroffenen mit ihrem Anliegen wiederfinden.

Wie wirken sich Machtasymmetrien zwischen Betroffenen und Unternehmen aus?
Das ist ein komplexes Thema, weil sich Machtasymmetrien aus ganz unterschiedlichen Quellen speisen können. Gibt es beispielsweise Machtverstärker im Sinne von Betriebsräten? In welchem Ausmaß funktionieren sie? Ist eine lokale Gemeinschaft gespalten oder einig? Schließlich ist es ein gängiges Phänomen, dass Unternehmen oder Dritte, die dafür bezahlt werden, gezielt versuchen, Gruppen oder auch Kommunen zu spalten – zum Beispiel, indem sie die Zustimmung einzelner Bürger durch Geld erkaufen. Das kennen wir übrigens auch in Deutschland bei Projekten wie Windparks.

Kann man Machtungleichgewichte durch das richtige Design von Beschwerdemechanismen ausgleichen?
Machtausgleich klingt so, als ob man alle Asymmetrien vollständig ausgleichen könnte und man hätte dann ein 100-prozentig faires Spiel. Das wird es realistischerweise nicht geben. Man kann immer nur von bestmöglichem Machtausgleich sprechen. Sehr wichtig sind für Betroffene hier Rechtsanwälte, aber die kosten Geld. Wir plädieren dafür, dass es für die Betroffenen eine Art Beschwerdekostenfinanzierung, ähnlich der Prozesskostenfinanzierung, zur Abdeckung der Kosten von Rechtsrat und Unterstützungspersonen geben sollte. Inhaltlich muss das Verfahren rechtebasiert sein, also insbesondere auf Menschenrechte und andere Schutzrechte Bezug nehmen. Auch müssen Betroffene verfahrensleitende Personen ablehnen können, etwa wegen Befangenheit. Dieses Recht ist leider nicht in §8 LkSG enthalten und muss deshalb in den Verfahrensordnungen von BM verankert werden.

Sollten die Beschwerdemechanismen selbst Sachverhalte untersuchen?
Betroffene können nicht die komplette Beweislast tragen. Bei staatlichen Strafverfahren ermittelt auch eine Behörde. Wenn durch Beschwerdemechanismen Lücken im Rechtsschutz ausgeglichen werden sollen, was ja eines der übergreifenden Ziele ist, dann muss auch dieser Aspekt mitberücksichtigt werden.

Wann erfüllt ein Beschwerdemechanismus die Anforderungen des LkSG?
§ 8 LkSG enthält einige Vorgaben zur Bekanntmachung und Zugänglichkeit eines Beschwerdemechanismus, zur Verfahrensweise, zum Schutz der Verfahrensbeteiligten vor Repressionen und zur Wirksamkeitsüberprüfung. Zudem verlangt Abs. 3 die Gewähr für das unparteiische Handeln und der verfahrensverantwortlichen Personen. Aber insgesamt gibt es hier leider noch viele Unklarheiten, Lücken und offene Fragen.

Können Sie Beispiele nennen?
Was soll es etwa genau heißen, “den Sachverhalt mit den Hinweisgebern zu erörtern” (so § 8 Abs. 1 Satz 4)? Heißt das, ich höre mir das an, sage “hm hm, und sie hören in drei Jahren vielleicht wieder von uns”? Oder wann genau sollten verfahrensverantwortliche Personen “ein Verfahren der einvernehmlichen Beilegung anbieten” (so § 8 Abs. 1 Satz 5)? Welche Verfahren sind hier im Einzelnen gemeint – und welche Kriterien sind an die Verfahrenswahl anzulegen? Da sind so viele unscharfe Begriffe.

Sollte der Gesetzgeber nachschärfen?
Unbedingt. Ich hoffe auf eine Konkretisierung durch die EU-Richtlinie. Bislang sind Beschwerdemechanismen in den Entwürfen aber leider auch nur kursorisch geregelt.

Braucht es für gemeinsame Beschwerdemechanismen eine gegenseitige Offenlegung der Lieferanten?
Das ist nicht zwingend notwendig. Gerade bei übergreifenden Mechanismen hat man in der Trägerorganisation des Beschwerdemechanismus ja eine Art Clearinghouse mit getrennt von den einzelnen Unternehmen agierenden Personen. Diese Personen sollten auch keinem beteiligten Unternehmen eng verbunden oder besonders verpflichtet sein. Nur die Trägerstelle des Beschwerdemechanismus muss die Lieferketten kennen. Sie agiert wie ein vertrauliches Depot, muss zuordnen können, ob bestimmte Beschwerden in den Zuständigkeitsbereich fallen.

Lassen sich Fehler bei der Einrichtung von Beschwerdeverfahren vermeiden?
Beschwerdeverfahren können nicht von Anfang an perfekt entworfen und reibungsfrei implementiert werden. Das ist eine Illusion. Es ist immer ein Annäherungsprozess zwischen Konzept und Wirklichkeit, der fortlaufend betreut und nachgebessert werden muss. Die entscheidende Frage ist, wie kann man lernende Systeme schaffen?

Wie gelingt das?
Zwei Ebenen sind wichtig: Zum einen kann der Beschwerdemechanismus selbst lernen. Ein Schlüsselkriterium ist hier die regelmäßige Einholung von Feedback. Dieses Feedback muss auch aufgegriffen und für die Betroffenen spürbar umgesetzt werden. Die zweite Ebene ist das Produktionsverhalten entlang der Lieferkette. Da verlangt das Gesetz ein lernendes Risikomanagement: Wie speist der Beschwerdemechanismus als Radarschirm für Risikolagen Erkenntnisse und Impulse zurück in das größere System des Risikomanagements? Hier setzt das LkSG in §10 auch mit seinen Berichtspflichten an. Der Beschwerdemechanismus muss an die Unternehmen oder andere Trägerorganisationen regelmäßig und differenziert berichten – und dann in anonymisierter, abstrahierter Form auch der Öffentlichkeit. So kann man Hotspots identifizieren und Muster von Problemlagen feststellen.

Wie bei verästelten Lieferketten gewährleistet werden kann, dass der Beschwerdemechanismus allen potenziell Betroffenen bekannt wird, und weitere Antworten gibt Ulla Gläßer im kompletten Interview zu Beschwerdemechanismen.

  • Beschwerdemechanismus
  • Handel
  • Lieferketten
  • Lieferkettengesetz
  • Menschenrechte

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Zeichen stehen bei COP15 auf Verlängerung

Offiziell noch bis zum 19. Dezember verhandeln die Vertragsstaaten der Convention on Biological Diversity über ein neues globales Abkommen zum Schutz der ökologischen Vielfalt. Dabei geht es um die Sicherung der Lebensgrundlagen. Morgen beginnt das sogenannte High-Level-Segment: Für die Umweltminister:innen der teilnehmenden Staaten gilt es einen Berg an Aufgaben zu lösen.

Zwar kam zuletzt etwas mehr Bewegung in die lange festgefahrenen Verhandlungen. Doch bei entscheidenden Fragen, etwa zur Umsetzung der Ziele nebst Kontrollmechanismen, konnten bislang kaum Fortschritte erzielt werden, weshalb eine Verlängerung als sicher gilt. Umweltschützer beklagen bereits erste Einbußen beim Ambitionsniveau.

Zentraler Punkt der Verhandlungen bleibt die Finanzierung. Dazu gehört sowohl die Mobilisierung und gerechte Verteilung öffentlicher Ressourcen (Ziel 19), als auch die Umverteilung oder Abschaffung umweltschädlicher Subventionen von 500 Milliarden Dollar pro Jahr (Ziel 18) sowie die Ausrichtung der Finanzflüsse (Ziel 14) und der Unternehmenstätigkeiten (Ziel 15) auf “Nature Positive”.

Unternehmen fordern Berichtspflichten für Biodiversität

Unterstützung kommt aus der Privatwirtschaft selbst: “Make it mandatory” heißt die Kampagne der Initiative Business vor Nature, der sich mittlerweile rund 400 Unternehmen und Finanzinstitute angeschlossen haben. Sie fordern Berichtspflichten für Unternehmen zur Offenlegung ihrer Auswirkungen auf die Biodiversität. Nach derzeitigem Verhandlungsstand ist das zumindest “für große Unternehmen” auch vorgesehen. Daneben sollen die negativen Auswirkungen mindestens um die Hälfte reduziert und die positiven gesteigert werden.

“Die Offenlegung verbindlich zu machen ist wichtig, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen”, sagt Maelle Pelisson, Advocacy Director bei Business for Nature. “Etliche Unternehmen messen ihre Auswirkungen bereits auf freiwilliger Basis, aber die sollten dafür nicht bestraft werden und durch die Funktionsweise des Marktes Wettbewerbsnachteile erleiden.”

Auch würden vergleichsbare Berichtspflichten die Kontrolle der eigenen Wertschöpfungskette vereinfachen. Um die Auswirkungen der eigenen Produkte auf die Biodiversität zu messen und zu verbessern müssen schließlich auch die Daten aus der Lieferkette erhoben werden. Das könne ohne Offenlegungspflichten mehrere Jahre dauern oder ganz scheitern. tl

  • Berichtspflichten
  • Biodiversität

EU-Institutionen einigen sich auf neue Batterieverordnung

EU-Kommission, Parlament und Rat haben sich vergangene Woche auf eine neue Batterieverordnung geeinigt. Sie soll die bisherige Richtlinie über Batterien und Akkus aus dem Jahr 2006 ersetzen. Die EU will mit der Reform Standards für ein nachhaltigeres Design von Batterien festlegen, den Stoffkreislauf ankurbeln und die Batterie- und Recyclingindustrie stärken. Zudem sollen Batterien das erste Produkt in der EU sein, für das ein verbindlicher CO₂-Fußabdruck gilt. Rat und Parlament müssen die vorläufige Einigung noch billigen und formell abnehmen.

Im Detail betrifft die neue Verordnung: Geräte-Altbatterien, Elektrofahrzeugbatterien, Industriebatterien, Start-, Blitz- und Zündbatterien (die hauptsächlich für Fahrzeuge und Maschinen verwendet werden) und Batterien für leichte Verkehrsmittel (E-Bikes, E-Scooter). Sie legt unter anderem folgende Vorgaben für Batterien fest (mehr zu den einzelnen Punkten im Europe.Table):

  • Sorgfaltspflichten
  • Batteriepass und Label
  • Sammelziele für Altbatterien
  • Mindestwerte für den Recyclinganteil
  • Vereinfachte Austauschbarkeit von Batterien
  • Rückgewinnungsziele für Lithium, Kobalt, Nickel, Kupfer und Blei
  • strenge Beschränkungen für gefährliche Stoffe wie Quecksilber, Kadmium und Blei
  • Ziele für die Effizienz von Recyclingprozessen
  • Maximaler CO₂-Fußabdruck

Achille Variati (S&D), Berichterstatter im federführenden Umweltausschusses im Parlament, sagt: “Zum ersten Mal haben wir Rechtsvorschriften für die Kreislaufwirtschaft, die den gesamten Lebenszyklus eines Produkts abdecken – dieser Ansatz ist sowohl für die Umwelt als auch für die Wirtschaft gut.”

Die Verordnung ist im Kontext von Digitalisierung, Energie- und Mobilitätswende und der starken Abhängigkeit von Drittstaaten hinsichtlich der benötigten Rohstoffe von strategischer Bedeutung für die EU. Der weltweite Bedarf an Batterien wird laut Prognosen des Weltwirtschaftsforums bis 2030 um das 19-fache des Bedarfs im Jahr 2019 steigen. Der Großteil davon entfällt auf die Automobilindustrie. leo

  • Batterien
  • Recycling
  • Rohstoffstrategie
  • Technologie

Öffentliche Konsultation für Bundestariftreuegesetz gestartet

Öffentliche Aufträge des Bundes sollen künftig nur noch Unternehmen erhalten, die ihre Beschäftigten fair bezahlen. Mit einer Tariftreueregelung will die Bundesregierung erreichen, dass “für tarifgebundene und tarifungebundene Unternehmen bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags vergleichbare Wettbewerbsbedingungen gelten”.

Unternehmen sollen demnach einen repräsentativen Tarifvertrag der jeweiligen Branche einhalten müssen, um Aufträge vom Bund zu erhalten. Damit macht sich die Regierung an die Umsetzung eines Vorhabens aus dem Koalitionsvertrag. Bis zum 23. Dezember läuft eine öffentliche Konsultation. Den Fragebogen zur Stärkung der Tarifbindung stellt das Bundesarbeitsministerium zur Verfügung.

Stefan Körzell, Mitglied im Vorstand des DGB, fordert eine rasche Umsetzung des Vorhabens. “Dabei muss der gesamte [repräsentative] Tarifvertrag anzuwenden sein, auch von etwaigen Subunternehmen“, sagt Körzell. Gleichzeitig müssten ihm zufolge Regelungen zu Arbeitszeiten, Urlaub und Sonderzahlungen berücksichtigt werden. “Klar ist auch, dass es effektive Kontrollen und Sanktionen braucht, um die Wirksamkeit des Gesetzes zu gewährleisten”, ergänzt er.

Iris Plöger, Mitglied der Hauptgeschäftsführung vom BDI, hält Tarifverträge grundsätzlich für wichtig, sagt aber: “Öffentliche Aufträge, über das geltende Arbeits- und Sozialrecht hinaus, pauschal von der Einhaltung von Tarifverträgen abhängig zu machen, ist allerdings grundsätzlich nicht sinnvoll.” Vergleichbare Regelungen auf Länderebene hätten bereits zu Rechtsunsicherheit und Mehraufwand für Firmen geführt. Zudem befürchtet sie, dass kleine und mittlere Unternehmen sich bei Vergaben zurückhalten würden, was zu weniger Wettbewerb und dadurch zu einer kleineren Auswahl an “hochwertigen Unternehmen und Produkten” führen würde. nh

  • Arbeit
  • Arbeitnehmerrechte
  • Bundestariftreuegesetz
  • Industrie
  • Öffentliche Beschaffung
  • Tarifverträge

Mikrokredite in Kambodscha: Beschwerde gegen Oikocredit

Die Menschenrechtsorganisationen LICADHO, Equitable Cambodia und FIAN Deutschland haben Beschwerde gegen Oikocredit bei der Nationalen Kontaktstelle der OECD in den Niederländen eingereicht. Der Vorwurf: Oikocredit habe “trotz der seit mindestens 2017 vorliegenden Belege für die Überschuldungskrise weiter Investitionen an kambodschanische Mikrofinanzinstitute getätigt“, begründen die Organisationen ihr Vorgehen. Oikocredit behaupte, ein sozialer Investor zu sein, aber ihre Investitionen nach Kambodscha hätten Kreditnehmer “irreparabel” geschädigt, sagt Naly Pilorge, Direktorin bei LICADHO.

Mikrokredite führen zu einer Überschuldungskrise in Kambodscha

Kambodscha hat laut den Beschwerdeführern den größten Mikrofinanzsektor der Welt. Im Schnitt betrüge die Kredithöhe mehr als das Dreifache des jährlichen Durchschnittseinkommens. Das führt zu Ernährungsunsicherheit, erzwungenen Landverkäufen und dem Verlust der Lebensgrundlage für Hunderttausende. Das Institut für Entwicklung und Frieden kommt in einer vom BMZ finanzierten Studie zu dem Schluss, dass bis zu 160.000 Mikrokreditnehmer in den vergangenen fünf Jahren Land verkaufen mussten, um Schulden zu begleichen.

Grundsätzliche Probleme seien sogar in einer Studie beschrieben, die Oikocredit selbst 2107 unterstützt habe, heißt es. Seitdem habe Oikocredit die Investitionen in Kambodscha von jährlich 50 auf 67 Millionen Euro erhöht. Der Investor habe sich trotz wiederholter Anfragen und der begründeten Sorge um Repressalien gegenüber NGO in Kambodscha geweigert, “im Rahmen der Sorgfaltsprüfung mit kambodschanischen Organisationen in einem sicheren Umfeld zusammenzuarbeiten”, sagen die Beschwerdeführer.

Oikocredit will mit der Beschwerdestelle kooperieren, aber weiter investieren

Oikocredit, ist einer der ältesten ethischen Investoren und hat kirchliche Wurzeln. Seit Jahrzehnten finanziert er Organisationen, die Menschen, die normalerweise keine Kredite bekommen, trotzdem Kredit anbieten, etwa in Form von Mikrokrediten.

Man wolle “uneingeschränkt mit der Nationalen Kontaktstelle zusammenarbeiten”, teilt Oikocredit International auf Anfrage mit. Mehr als die Hälfte des Kapitals der Genossenschaft stammt von Anlegern aus Deutschland.

Oikocredit kann nach eigenen Angaben im kambodschanischen Mikrofinanzsektor nur über die sorgfältige Auswahl der Partner “Einfluss nehmen und positive Auswirkungen erzielen”. Die Organisation sei “allen Vorwürfen über unethische Praktiken bei unseren Partnern nachgegangen”, teilt sie mit und kündigt an, weiter “in die Mikrofinanzierung in Kambodscha investieren” zu wollen. cd

  • Finanzen
  • Menschenrechte

Deutsche Firmen exportieren mehr verbotene Pestizide

Deutsche Unternehmen haben im Jahr 2021 mehr in der EU verbotene Pflanzenschutzmittel ins Ausland verkauft als im Vorjahr. Das zeigt die Analyse “Export hochgefährlicher Pestizid-Wirkstoffe aus Deutschland”, die gemeinsam von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem INKOTA-Netzwerk, dem Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany) und der Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgelegt wurde.

Demnach stieg der Außenhandel mit verbotenen Pestizid-Wirkstoffen in fertigen Produkten um knapp drei Prozent auf 8.499 Tonnen, der Verkauf von verbotenen Pestiziden als reine Wirkstoffe sogar um fast 85 Prozent auf 37.525 Tonnen.

Peter Clausing vom PAN Germany sagt über die Gefahren, die von diesen Stoffen ausgehen: “Die Wirkstoffe, für die wir ein Exportverbot fordern, sind in der EU nicht deshalb vom Markt verschwunden, weil sie für den Pflanzenschutz untauglich waren, sondern wegen erkannter Gefahren für Mensch und Umwelt.”

Während ein Teil der deutschen Lieferungen in Industriestaaten außerhalb der EU gehen, etwa in die USA, Kanada, die Schweiz oder Großbritannien, sind reine Wirkstoffe wie Cyanamid und Propineb im globalen Süden sehr gefragt. Beide sind fruchtbarkeitsschädigend. Das Herbizid Cyanamid gilt zudem als krebserregend, das Fungizid Propineb als hormonschädigend.

“Es müsste wirklich jedem, auch den Managern der Pestizidindustrie, einleuchten, dass die damit verbundenen Risiken im globalen Süden um ein Vielfaches größer sind als in der EU”, sagt Clausing. Das habe mit fehlender Schutzausrüstung, einem gravierenden Mangel an Aufklärung und unsachgemäßer Lagerung zu tun. Hinzu käme eine ungenügende Durchsetzung der ohnehin laschen Schutzvorschriften in vielen Ländern des globalen Südens, auch weil dort einfach die Ressourcen fehlten.

Übrigens: Nach Informationen von Europe.Table kommt es bei der umstrittenen Pestizidverordnung eventuell zu Verzögerungen in der Umsetzung. Demnach könnte der Rat am 19. Dezember die Kommission auffordern, weitere Studien zur Folgenabschätzung der Sustainable Use Regulation (SUR) in Auftrag zu geben. ch

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  • Pestizide

Presseschau

Die Biodiversitätskrise in Zahlen und Grafiken THE GUARDIAN
CEO von Glencore warnt vor einem Kupfer-Defizit HANDELSBLATT
Indien: Wegen ökonomischer Ziele mehr Investitionen in fossile Brennstoffe THE NEW YORK TIMES
Unternehmen zeigen der Politik inzwischen, dass sich der langfristige Blick auszahlt. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Wie wirkt sich der Bau von LNG-Terminal auf das Wattenmeer aus? SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Interview mit Akansksha Khatri vom Weltwirtschaftsforum zu Biodiversität: “Untätigkeit verursacht viel höhere Kosten als entschiedenes Handeln.” DER SPIEGEL
Schutzgebiete nützen der Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Die Zwei-Millionen-Jahre-DNA DIE WELT
Montreal: 1000 Punkte, ein Plan DIE ZEIT
China darf nicht in die Knie gehen FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG
Fünf Signale für die Weltwirtschaft. Gastkommentar von Janet Yellen HANDELSBLATT
Corporate Governance ist alles andere als “Gedöns” BÖRSEN-ZEITUNG
EU sichert sich Zugang zu Rohstoffen aus Chile TABLE MEDIA
Plädoyer für eine Ökonomie des Genug von dem Nachhaltigkeitsvordenker Wolfgang Sachs BLÄTTER FÜR DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK
Warum die Konfrontation zwischen den USA und China fatale Konsequenzen für das Klima und die Gesellschaft hat – und eine technologische Kooperation mit China vorteilhaft wäre für die Welt. MAKRONOM

Standpunkt

EU-Lieferkettenrichtlinie muss vor Ort wirken

Von Bärbel Kofler
Bärbel Kofler ist seit Dezember 2021 Parlamentarische Staatssekretärin im BMZ.

Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt am 01. Januar 2023 in Kraft – ein Meilenstein für die Stärkung und den Schutz von Menschenrechten und Umweltstandards entlang globaler Lieferketten. Gleichzeitig laufen die Verhandlungen für eine EU-weite Lieferkettenregulierung – der Corporate Sustainability Due Diligence Directive – auf Hochtouren. Unternehmerische Sorgfaltspflichten werden damit nun endlich verbindlich – ein schon lange überfälliger Schritt.

In der aktuellen Debatte rund um die gesetzlichen Regelungen stehen jedoch vor allem die möglichen Herausforderungen für deutsche und europäische Unternehmen im Fokus. Oft rückt dabei in den Hintergrund, worum es bei den Entwicklungen wirklich geht: die Lebensbedingungen entlang globaler Lieferketten zu verbessern und die Rechte der Betroffenen zu stärken. Diesem Anspruch müssen wir gerecht werden – sowohl mit dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz als auch im Hinblick auf die geplante EU-Lieferkettenrichtlinie.

Denn die Missstände in den globalen Wertschöpfungsketten mit über 450 Millionen Beschäftigten sind groß. Viele der Produkte und Rohstoffe für den deutschen und europäischen Markt werden unter untragbaren Umwelt- und Arbeitsbedingungen, für Hungerlöhne oder sogar mithilfe ausbeuterischer Kinderarbeit hergestellt oder abgebaut. Laut neuesten Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) leisten weltweit 27,6 Millionen Menschen Zwangsarbeit, davon mehr als 3,3 Millionen Kinder.

Vor allem vulnerable und marginalisierte Gruppen wie Frauen und Mädchen erleben in allen Sektoren oftmals mehrfache Diskriminierung und geschlechtsspezifische Formen der Gewalt – ob als Näherinnen in Textilfabriken, als Bäuerinnen auf dem Feld oder im Dienstleistungssektor. Die Covid-19-Pandemie hat diese geschlechtsbasierte Ungleichbehandlung weiter verschlechtert.

Auch die negativen Auswirkungen auf die Umwelt sind enorm: Bei der Textilproduktion etwa werden pro Jahr 43 Millionen Tonnen Chemikalien eingesetzt. Leiten Fabriken diese direkt über ihr Abwasser in umliegende Gewässer, gefährden sie damit auch die Gesundheit der Menschen in den angrenzenden Gemeinden. Der Textilsektor verursacht zudem mehr als ein Drittel des Mikroplastiks in den Weltmeeren.

Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden finden aber nicht nur weit entfernt, sondern auch in Europa statt, etwa in Form von Ausbeutung der Arbeitsmigrant*innen in deutschen Schlachthöfen.

Alle diese Beispiele verdeutlichen: Gesetze über unternehmerische Sorgfaltspflichten müssen vor allem dort Wirkung entfalten, wo die Verletzungen von Mensch und Umwelt stattfinden. Doch wie erreichen wir diese gewünschte Effektivität – vor allem mit Blick auf die EU-Richtlinie?

  1. Betroffene von Menschenrechtsverletzungen brauchen effektive Klagemöglichkeiten. Eine zivilrechtliche Haftung in der EU-Regulierung ist also essenziell. Davon werden ganz besonders Personen vulnerabler oder marginalisierter Gruppen wie Frauen profitieren, die am meisten unter niedrigen Löhnen und Gewalt am Arbeitsplatz leiden. Entscheidend ist dabei auch die Ausgestaltung der Haftungsnormen: Wir brauchen eine faire Beweislastverteilung: Es kann nicht sein, dass Betroffene nachweisen müssen, dass ein internationales Unternehmen seinen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen ist – das wird in den meisten Fällen überhaupt nicht möglich sein. Außerdem muss, wie auch im deutschen Lieferkettengesetz vorgesehen, sichergestellt werden, dass Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften die Rechte der Betroffenen im Zivilprozess im eigenen Namen durchsetzen können – eine wichtige Regelung, um rechtliche Hürden abzubauen.
  2. Beschwerdemechanismen als Teil der unternehmerischen Sorgfaltspflicht müssen für alle potenziell betroffenen Rechteinhabenden leicht zugänglich sein. Das gilt auch für zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften. Gleichzeitig muss der Schutz der Hinweisgebenden vor Repressalien gegeben sein. Nur so können wirkungsvolle Abhilfe und Wiedergutmachung gelingen.
  3. Der Geltungsbereich des Entwurfs für die EU-Lieferkettenrichtlinie darf im Bereich der mittelbaren Zulieferer nicht auf “etablierte Geschäftsbeziehungen” beschränkt sein. Dieses Konstrukt schafft falsche Anreize. Gerade informelle oder kurzfristige Geschäftsbeziehungen stellen ein höheres Risiko für Menschenrechtsverletzungen dar. Das wird besonders im Textilsektor deutlich, wo schnell wechselnde Vertragsbeziehungen gang und gäbe sowie gleichzeitig Ausbeutung der Näher*innen keine Seltenheit sind. Wir brauchen daher einen risikobasierten Ansatz, wie er international bekannt und anerkannt ist.
  4. Wichtig ist, dass auch der Schutz des Klimas und der Umwelt umfassend in die Sorgfaltspflichten einbezogen werden. Vor allem für die Menschen in Entwicklungsländern, die schon heute am meisten unter den Folgen des Klimawandels leiden, ist das überlebenswichtig. Der Übergang zu einer umwelt- und klimagerechten Wirtschaftsweise kann aber nur gelingen, wenn sich alle an dieser “Just Transition” beteiligen – und vor allem europäische Unternehmen spielen dabei eine zentrale Rolle.

Für das, worum es tatsächlich geht – um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen entlang globaler Wertschöpfungsketten – brauchen wir also staatliches und unternehmerisches Engagement sowie klare und wirkungsvolle gesetzliche Rahmenbedingungen. Das geht aber natürlich nicht ohne die erforderliche Unterstützung. Das BMZ weitet daher derzeit bestehende nationale Angebote für Unternehmen und Zivilgesellschaft auf die EU-Ebene aus. Denn sicher ist: Wirksamkeit werden wir nur erzielen, wenn private und freiwillige Instrumente einerseits sowie staatliche und verbindliche Instrumente anderseits ineinandergreifen – ganz im Sinne der Betroffenen in unseren Wertschöpfungsketten.

Bärbel Kofler ist Bankkauffrau, Diplom-Informatikerin, promovierte Sprachwissenschaftlerin und SPD-Mitglied. Seit 2004 gehört sie als Abgeordnete dem Deutschen Bundestag an. Von 2016 bis 2021 war sie Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt. Seit dem Start der Ampel-Koalition ist sie parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

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Tilman Santarius – Technischen Fortschritt gesellschaftlich verträglich gestalten

Tilman Santarius will Dinge in Bewegung setzen, das kennt er gar nicht anders: Schon mit fünf Jahren nehmen ihn seine Eltern – engagierte Umweltschützer – mit auf Demos. Nach der Schule schreibt er sich dann zwar für Soziologie, Ethnologie und Volkswirtschaftslehre ein, will aber eigentlich in die Entwicklungszusammenarbeit. Doch auch das ist nichts für ihn. Er hält wenig von der “aufoktroyierten Hilfe” dort, weil es ihm mehr darum geht, die globalen Folgen des Wohlstandsmodells hierzulande zu adressieren. Er sucht sich Forschungsinstitute, an denen er sich seinem Lebensthema widmet: der Nachhaltigkeit der Wirtschaft.

These: Aktuell schadet die Digitalisierung der Umwelt

Heute arbeitet der 48-Jährige als Forscher und Professor an der TU Berlin sowie als wissenschaftlicher Autor. “Ich versuche immer Schnittstellen zum Thema Nachhaltigkeit zu finden”, sagt er, zum Beispiel zu den Themen Globalisierung und Gerechtigkeit oder zu Digitalisierung und Transformation. Santarius veröffentlicht regelmäßig Bücher und Artikel und gibt Interviews. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden ist er durch seinen TED-Talk über nachhaltige Digitalisierung vor rund einem Jahr.

Seine These: Die Digitalisierung in ihrer heutigen Form schadet der Umwelt mehr, als sie nützt. Effizienzgewinne würden lediglich genutzt, um noch mehr zu konsumieren – sodass unterm Strich sogar zusätzliche CO₂-Emissionen entstehen. Santarius fordert stattdessen: “Wir müssen technischen Fortschritt politisch und gesellschaftlich gestalten.” Statt also zum Beispiel viel Geld in die Entwicklung selbstfahrender Autos zu stecken, die in der Produktion und im Betrieb massiv Ressourcen und Energie verbrauchen, sollten öffentliche und private Geldgeber lieber sozial- und umweltverträgliche Alternativen zum Auto voranbringen. Warum nicht ein multimodales Verkehrssystems fördern? Sprich: die Kombination von Bussen und Bahnen mit Leihfahrrädern und E-Scootern.

Unternehmerischer Fokus auf ökologische und soziale Ziele

Dieses Denken ist typisch für Santarius: Er will das wirtschaftliche System verändern, plädiert für eine Transformation der gesamten Marktwirtschaft hin zu mehr Resilienz. “Unternehmen sollten sich auf ökologische und soziale Ziele konzentrieren und nicht nur Wachstum anstreben”, sagt er etwa. Sein Feindbild sind Monopolisten aus dem Silicon Valley, die am liebsten komplette Wertschöpfungsketten allein kontrollieren wollen. Und sein Zielbild ist eine Wirtschaft, in der sich die Angebote kleiner Handwerksbetriebe, mittlerer Unternehmen und genossenschaftlicher Initiativen ergänzen, die alle miteinander kooperieren, ohne sich nur auszustechen. “Das”, sagt er, “wäre eine Wirtschaft, die sozial und ökologisch verträglich ist”.

Sein aktuelles Buch: “Digital Reset. Redirecting Technologies for the Deep Sustainability Transformation.” Lilian Fiala

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ESG.Table Redaktion

Licenses:
    • USA: Republikaner bekämpfen ESG-Investments
    • Noch viel zu tun bei der Kopplung von Ausgaben und SDG
    • Ulla Gläßer im Interview zu Beschwerdemechanismen
    • Weltnaturkonferenz: Zeichen stehen auf Verlängerung
    • EU-Institutionen einigen sich auf neue Batterieverordnung
    • Öffentliche Konsultation für Bundestariftreuegesetz gestartet
    • Mikrokredite in Kambodscha: Beschwerde gegen Oikocredit
    • Deutsche Firmen exportieren mehr verbotene Pestizide
    • Presseschau
    • Bärbel Kofler: “EU-Lieferkettenrichtlinie muss vor Ort wirken”
    • Tilman Santarius – technischen Fortschritt gestalten
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    wie Lieferkettengesetze wirken, hängt maßgeblich von funktionierenden Beschwerdemechanismen ab. Denn nur, wenn Betroffene auf Risiken oder Missstände für Mensch oder Umwelt entlang der Lieferketten hinweisen, können Unternehmen sie beseitigen. Wir legen in dieser Ausgabe einen Fokus auf dieses Thema.

    Lesen Sie im Interview, welche offenen Fragen die Juristin Ulla Gläßer bei den Vorgaben des deutschen Lieferkettengesetzes für einen Beschwerdemechanismus sieht und warum sie die Schaffung lernender Mechanismen für wesentlich hält. Bärbel Kofler, parlamentarische Staatssekretärin im BMZ, präsentiert in ihrem Standpunkt vier Kernforderungen für ein europäisches Lieferkettengesetz. Eine ist, dass Beschwerdemechanismen als Teil der unternehmerischen Sorgfaltspflicht “für alle potenziell betroffenen Rechteinhabenden leicht zugänglich sein” müssten.

    Die Vanguard Group, einer der größten Fondsmanager Welt, hat sich aus der Net Zero Asset Managers Initiative zurückgezogen, will also nicht mehr mit deren ESG-Zielen identifiziert werden. Das ist eine Reaktion auf Republikaner, die in 31 Bundesstaaten Anti-ESG-Gesetze auf den Weg gebracht haben. “Die Branche ist verunsichert“, schreibt Carsten Hübner in seiner Analyse.

    Finanzminister Christian Lindner will jede Ausgabe im Hinblick auf die Wirkung auf die SDG analysieren. Wie schwierig es ist, die Wirksamkeit staatlicher Ausgabenprogramme zu messen, besonders mit Blick auf Nachhaltigkeitsziele, analysiert Caspar Dohmen.

    Porträtiert wird der Forscher Tilman Santarius, der sich fragt, wie sich technischer Fortschritt politisch und gesellschaftlich gestalten lässt. Seine These ist, dass die Digitalisierung in ihrer heutigen Form der Umwelt mehr schadet, als sie nützt.

    Weiter lesen Sie im ESG.Table: Die EU-Institutionen haben sich auf eine neue Batterieverordnung geeinigt. Firmen aus Deutschland exportieren mehr verbotene Pestizide. Drei NGO haben eine Beschwerde gegen den ethischen Investor Oikocredit bei der OECD eingelegt – wegen Mikrokrediten in Kambodscha. Die Bundesregierung startete die Konsultationsphase für ein Tariftreuegesetz. Künftig will der Bund öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen vergeben, die Beschäftigte fair bezahlen.

    Halbzeit auf der Weltnaturkonferenz in Montreal. Bei entscheidenden Fragen, etwa zur Umsetzung der Ziele nebst Kontrollmechanismen, konnten bislang kaum Fortschritte erzielt werden, weshalb eine Verlängerung als sicher gilt, schreibt Timo Landenberger aus Montreal.

    Ihr
    Caspar Dohmen
    Bild von Caspar  Dohmen

    Analyse

    USA: Republikaner bekämpfen ESG-Investments

    Hauptsitz von BlackRock in New York

    Die Ankündigung sorgte in Finanzkreisen für erhebliches Aufsehen: Die Vanguard Group, einer der größten Fondsmanager Welt, zieht sich aus der Net Zero Asset Managers Initiative (NZAM) zurück. Das gab die Firma am 7. Dezember bekannt. Solche Initiativen seien zwar hilfreich, um miteinander in Dialog zu treten. “Manchmal können sie aber auch zur Verwirrung über die Ansichten einer einzelnen Investmentfirma führen”, heißt es in der Erklärung des Unternehmens. Im Klartext: Vanguard möchte nicht länger mit den ESG-Zielen der Initiative identifiziert werden.

    Die NZAM ist ein globaler Zusammenschluss von Vermögensverwaltern. Als offizieller Partner der Race-to-Zero-Kampagne der UNO will sie einen Beitrag dazu leisten, die Treibhausgas-Emissionen bis spätestens 2050 auf null zu bringen. Stand Anfang November gehörten der Initiative 291 Unternehmen an, die zusammen 66 Billionen Dollar verwalten.

    Republikanische Staaten verabschieden Anti-ESG-Gesetze

    Der überraschende Rückzug von Vanguard lässt erahnen, welchem Druck Banken und Fondsgesellschaften in den USA aktuell ausgesetzt sind, die sich zu ESG-Prinzipen bekennen. Schon die Sprache ist martialisch. Von einem Krieg und Kreuzzug gegen ESG ist die Rede. Überall im Land bläst die republikanische Partei zum Sturm auf einen “woke capitalism” und eine linke Agenda, die angeblich mit der Aktionärsmacht großer Fondsgesellschaften wie Vanguard oder Blackrock durchgesetzt werden soll.

    Aber es bleibt nicht nur bei erhitzten Debatten. In 31 Bundesstaaten haben Republikaner zwischenzeitlich Anti-ESG-Gesetze auf den Weg gebracht. In elf Staaten sind sie bereits in Kraft. In vier weiteren republikanisch regierten Bundesstaaten haben sie gute Chancen, angenommen zu werden. Ihr Ziel: Banken und Fondsgesellschaften, die sich auf ESG-Kriterien verpflichtet haben, von öffentlichen Aufträgen und Investitionen auszuschließen.

    Als weiterer wichtiger Hebel werden die Pensionsfonds der Staatsdiener gesehen. Florida ist hier Vorreiter. Auf Initiative des republikanischen Gouverneurs Ron DeSantis verabschiedete das zuständige Verwaltungsgremium des Bundesstaates im August dieses Jahres eine Resolution, wonach öffentliche Rentengelder allein anhand wirtschaftlicher Kriterien investiert werden dürfen. “Die Förderung sozialer, politischer oder ideologischer Interessen” gehöre nicht dazu, heißt es in der Entscheidung. Sie beinhaltet auch den Auftrag, die bisherige Praxis zu überprüfen.

    Laut Zahlen von US SIF, einer in Washington D.C. ansässigen NGO für nachhaltiges Investment, waren im Jahr 2020 rund 3,4 Billionen Dollar an Rentengeldern in Fonds angelegt, bei denen zumindest einzelne ESG-Kriterien berücksichtigt wurden. Bei einem Gesamtvolumen der öffentlichen Pensionsfonds von 4,6 Billionen entspricht dies einem Anteil von 74 Prozent der Investitionssumme.

    Texas: Sieben europäische Banken stehen auf schwarzer Liste

    Mehrere republikanisch-regierte Bundesstaaten haben bereits damit begonnen, staatliche Mittel umzuschichten. Louisiana zog 794 Millionen Dollar von Blackrock ab. Gleiches steht dem Unternehmen in Florida bevor. Hier gab Jimmy Patronis, der oberste Finanzer des Sunshine States, jüngst bekannt, zum Jahreswechsel die Verwaltung von zwei Milliarden Dollar in andere Hände zu geben.

    Texas wiederum führt Blackrock mit neun anderen Finanzinstituten und 348 Fonds verschiedener Gesellschaften als “Financial Companies that Boykott Energy Companies” auf einer offiziellen Divestment-Liste – gemeinsam mit terroristischen Organisationen und Unternehmen, die Verbindungen in den Iran und den Sudan haben oder Israel boykottieren. Neben den britischen Investmentgesellschaften Jupiter Fund Management und Schroders handelt es sich ausschließlich um europäische Großbanken: BNP Paribas, Credit Suisse, Danske Bank, Nordea Bank, Svenska Handelsbanken, Swedbank und UBS.

    Unklar, warum Blackrock im Zentrum der Kampagne steht

    Bei der Vorstellung der schwarzen Liste Ende August unterstrich Comptroller Glenn Hegar, der höchste Finanzbeamte von Texas, seine generelle Abneigung gegen die ESG-Bewegung, die “ein undurchsichtiges und perverses System” hervorgebracht habe. Dennoch seien von ihm lediglich Unternehmen und Fonds gelistet worden, die den Boykott fossiler Energien propagierten – was die betroffenen Firmen bestreiten. Allen voran Blackrock, das mit einer landesweiten Werbekampagne dagegenhielt. Zentrale Botschaft: Man habe noch immer mehr als 100 Milliarden Dollar in texanische Energieunternehmen investiert, weltweit seien es 310 Milliarden Dollar.

    Warum ausgerechnet Blackrock derart ins Visier der Anti-ESG-Kampagne geraten ist, lässt sich nur schwer sagen. Zwar hat CEO Larry Fink schon vor einigen Jahren für ESG geworben, aber das Unternehmen ist bis heute eher ein Symbol denn ein Vorreiter der Bewegung. Mit seinem Ansatz eines Stakeholder-Kapitalismus fühlt sich Fink jedenfalls eher zwischen allen Stühlen und hat wiederholt darauf verwiesen, sowohl von links als auch von rechts in der Kritik zu stehen.

    Texanisches Anti-ESG-Gesetz verteuert Anleihen

    Was Anti-ESG-Gesetze bewirken können, zeigt eine kürzlich vorgestellte Studie der Wharton School der University of Pennsylvania. Sie hat die Folgen des texanischen Gesetzes in den ersten acht Monaten seit seiner Verabschiedung untersucht. Dies war möglich, weil das Gesetz schon im September 2021 in Kraft trat – obwohl Comptroller Hegar erst im August 2022 die finale Boykott-Liste präsentieren konnte.

    Das Gesetz verbietet es den Kommunen, Verträge mit Banken abzuschließen, die ESG-Kriterien folgen. Dies hat laut Studie zum Rückzug von fünf der größten Emissionshäuser für Kommunalanleihen aus dem Bundesstaat geführt. Die Folge: weniger Wettbewerb und höhere Zinsen. Im Ergebnis, schätzen die Autoren, werden kommunale Einrichtungen in Texas zusätzliche Zinsen in Höhe von 303 bis 532 Millionen Dollar für getätigte Anleihen in Höhe von 32 Milliarden Dollar aufbringen müssen.

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    Noch viel zu tun bei der Kopplung von Ausgaben und SDG

    Christian Lindner will künftig mit jedem Haushaltstitel eine Wirkungsanalyse mit Blick auf die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDG) bzw. die Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung verbinden (ESG.Table berichtete). Eine Arbeitsgruppe beim BMF hat sich damit zwei Jahre beschäftigt. Ihr Bericht werde das Bundeskabinett “zeitnah verabschiedet”, heißt es beim BMF. Das Vorhaben ist Teil des sogenannten Spending-Review-Prozesses, den das Finanzministerium seit 2015 zur Evaluierung von Ausgaben durchführt.

    Als das “mutigste und vielleicht auch wichtigste Versprechen des Finanzministers in seiner Amtszeit”, bewertet Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts der Wirtschaft (DIW), das Vorhaben von Lindner. Könne er es umsetzen, würde Deutschland eine wichtige Vorreiterrolle global spielen und “einen wertvollen Beitrag zur Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele leisten”, sagt der DIW-Chef. Von einem “begrüßenswerten” und “eigentlich überfälligen Schritt” spricht Katharina Beck, die finanzpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

    Wirkungsanalysen in Deutschland bisher wenig ausgereift

    Traditionell schauen Haushälter auf die Einnahmen und die Einhaltung der vereinbarten Ansätze im Haushalt durch die Fachministerien. Aber es gab Phasen, in denen einige Regierungen von Industrieländern stärker darauf schauten, ob sie mit den Ausgaben die gewünschten Politikziele erreichen, zuletzt seit den 1990er Jahren. Vorreiter waren Neuseeland, Australien, Südkorea, Österreich, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien.

    Deutschland wurde erst aktiver, nachdem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit 2014 bemängelt hatte, dass der Bund im internationalen Vergleich wenig auf die Wirkung seiner Ausgaben schaue. Seitdem wurden einige Wirkungsanalysen erstellt, zu Klima und Wohnungswesen (2016/17), der Beschaffung standardisierter Massengüter (2017/18) oder dem Forderungsmanagement (2018/19).

    Im jüngsten Review-Prozess ging es 2021/22 um die Verknüpfung von SDG und Haushalt. Die Empfehlungen bezögen sich “ausdrücklich auf alle 17 Nachhaltigkeitsziele der UN und der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie”, heißt es beim BMF. Dazu zählten auch Ziele wie “hochwertige Bildung”, “starke Institutionen” oder “tragfähige Staatsfinanzen”. Nach Ansicht der Grünen Finanzpolitikerin Katharina Beck sollten dazu auch Themen gehören wie “nicht nachhaltige Subventionen, beispielsweise im Klimabereich, ungerechte Steuereffekte oder Beschaffungskriterien”.

    Es fehlen passende Zieldefinitionen und Wirkungsindikatoren

    Der Bundesrechnungshof hatte bei dem Review-Prozess zu Klima und Wohnungswesen 2017 bemängelt, dass eine Erfolgs- und Wirkungskontrolle bisweilen an der unklaren Definition von Zielen in den Ausgabeprogrammen scheitere. Das BMF spricht von Fortschritten: “Zahlreiche Teilprogramme weisen inzwischen entsprechend überprüfbarer Zielsetzungen auf”. Aber das Haus räumt anhaltende methodische Schwierigkeiten ein. So könne bei manchen Förderungen ein Zusammenhang zwischen Förderung und Zielerreichung “nur sehr schwer quantifiziert werden”.

    Wie weit der Weg ist, zeigte ein Sonderbericht des Bundesrechnungshofs zum Klima. Es fehle ein Überblick über die Klimawirkungen der Ausgaben und Einnahmen im Bundeshaushalt, hatte der Präsident Kay Scheller dazu angemerkt. Für die meisten der über hundert Förderprogramme des Bundes für den Klimaschutz war demnach nicht klar, “wie viel sie zur Minderung von Treibhausgasen beitragen”.

    Geld fließe auch in für den Klimaschutz wirkungslose und ineffiziente Programme. Und die Bekämpfung der Klimakrise ist nur eines der Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung. Allerdings sagen Fachleute, dass die Politik bei dem Thema der Wirkungsanalyse der Haushalte auch nur wenig Hilfe durch die Wissenschaft erhalte.

    Noch viel methodische Arbeit nötig

    Eine nachhaltige Finanzpolitik sei viel mehr als man lediglich an der Schuldenquote oder an der Schuldenbremse festmachen könne, sagt DIW-Chef Fratzscher. Die Umsetzung des Vorhabens sei “ambitioniert” und “erfordert eine sehr viel detailliertere Planung jeder einzelnen Maßnahme“. Aus Fachministerien ist zu hören, dass die Wirksamkeitsmessung der Ausgaben gerade mit Blick auf die SDG noch sehr am Anfang stehe. Starten sollen die Ministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie für Umwelt und Verbraucher.

    Um die Wirksamkeit von Maßnahmen messen zu können, muss die Politik die notwendigen Grundlagen schaffen. “Das geht nur, wenn die Politik klare Ziele benennt und überprüfbare Indikatoren für die Erfolgskontrolle findet“, sagt Michael Thöne, geschäftsführender Direktor am Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitut der Universität Köln. So hatte beispielsweise die britische Regierung unter Blair erklärt, sie wolle binnen fünf Jahren die Zahl der Unfalltoten um 30 Prozent senken.

    Wer messen will, wie sich die Ausgaben des Bundes auf die 17 SDG auswirken, steht vor einer gewaltigen Aufgabe. Ermessen lässt sie sich, wenn man berücksichtigt, dass die Bundesregierung in ihrer offiziellen Nachhaltigkeitsstrategie 75 Indikatoren nutzt, um die 17 SDG zu operationalisieren. Und das Statistische Bundesamt nutzt in seinem Nachhaltigkeitsmonitoring sogar 248 Indikatoren.

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    “Beschwerdeverfahren können nicht von Anfang an perfekt entworfen werden”

    Ulla Gläßer von der Europa-Universität Viadrina arbeitet an einem juristischen Kommentar zu Beschwerdemechanismen.

    Verbessern unternehmensinterne Beschwerdemechanismen die Situation von Menschen, die entlang der Lieferketten deutscher Unternehmen von Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschädigungen betroffen sind?
    Beschwerdemechanismen haben großes Potenzial, die Situation von Beschäftigten und Drittbetroffenen entlang von Lieferketten zu verbessern. Gelingt es? Das hängt davon ab, ob die Beschwerdeverfahren gemäß der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte wirksam werden. Dafür braucht es Zugang, ein effektives, transparentes Verfahren und effektive Abhilfe. Da gibt es noch viele Fragezeichen.

    Wo hapert es?
    Wenn Beschwerden mit einem weichen Kompromiss enden, dessen Umsetzung niemand kontrolliert, ist das Beschwerdeverfahren eine Mogelpackung. Davor warnen wir in unserem Forschungsbericht. Aber wenn Beschwerdemechanismen funktionieren, sind sie für die Beschwerdeführenden ein wichtiger Beitrag zur Herstellung von Selbstwirksamkeit in globalen Produktionsverhältnissen. Zentral ist auch ihre Bedeutung als eine Art Frühwarnsystem für Missstände und Risiken entlang der Lieferkette.

    Wann trauen Betroffene einem von privaten Unternehmen eingerichteten Beschwerdemechanismus?
    Da gibt es drei Voraussetzungen. Erstens Integrität: Die Vertreter des Beschwerdemechanismus müssen von Betroffenen als neutral wahrgenommen werden. Zweitens: Transparenz des Verfahrens. Und drittens Effektivität im Sinne eines breiten Zugangs, spürbarer Maßnahmen gegen Repression, einer zügigen Verfahrungsabwicklung und eines Ergebnisses, das echte Abhilfe bedeutet und in dem sich die Betroffenen mit ihrem Anliegen wiederfinden.

    Wie wirken sich Machtasymmetrien zwischen Betroffenen und Unternehmen aus?
    Das ist ein komplexes Thema, weil sich Machtasymmetrien aus ganz unterschiedlichen Quellen speisen können. Gibt es beispielsweise Machtverstärker im Sinne von Betriebsräten? In welchem Ausmaß funktionieren sie? Ist eine lokale Gemeinschaft gespalten oder einig? Schließlich ist es ein gängiges Phänomen, dass Unternehmen oder Dritte, die dafür bezahlt werden, gezielt versuchen, Gruppen oder auch Kommunen zu spalten – zum Beispiel, indem sie die Zustimmung einzelner Bürger durch Geld erkaufen. Das kennen wir übrigens auch in Deutschland bei Projekten wie Windparks.

    Kann man Machtungleichgewichte durch das richtige Design von Beschwerdemechanismen ausgleichen?
    Machtausgleich klingt so, als ob man alle Asymmetrien vollständig ausgleichen könnte und man hätte dann ein 100-prozentig faires Spiel. Das wird es realistischerweise nicht geben. Man kann immer nur von bestmöglichem Machtausgleich sprechen. Sehr wichtig sind für Betroffene hier Rechtsanwälte, aber die kosten Geld. Wir plädieren dafür, dass es für die Betroffenen eine Art Beschwerdekostenfinanzierung, ähnlich der Prozesskostenfinanzierung, zur Abdeckung der Kosten von Rechtsrat und Unterstützungspersonen geben sollte. Inhaltlich muss das Verfahren rechtebasiert sein, also insbesondere auf Menschenrechte und andere Schutzrechte Bezug nehmen. Auch müssen Betroffene verfahrensleitende Personen ablehnen können, etwa wegen Befangenheit. Dieses Recht ist leider nicht in §8 LkSG enthalten und muss deshalb in den Verfahrensordnungen von BM verankert werden.

    Sollten die Beschwerdemechanismen selbst Sachverhalte untersuchen?
    Betroffene können nicht die komplette Beweislast tragen. Bei staatlichen Strafverfahren ermittelt auch eine Behörde. Wenn durch Beschwerdemechanismen Lücken im Rechtsschutz ausgeglichen werden sollen, was ja eines der übergreifenden Ziele ist, dann muss auch dieser Aspekt mitberücksichtigt werden.

    Wann erfüllt ein Beschwerdemechanismus die Anforderungen des LkSG?
    § 8 LkSG enthält einige Vorgaben zur Bekanntmachung und Zugänglichkeit eines Beschwerdemechanismus, zur Verfahrensweise, zum Schutz der Verfahrensbeteiligten vor Repressionen und zur Wirksamkeitsüberprüfung. Zudem verlangt Abs. 3 die Gewähr für das unparteiische Handeln und der verfahrensverantwortlichen Personen. Aber insgesamt gibt es hier leider noch viele Unklarheiten, Lücken und offene Fragen.

    Können Sie Beispiele nennen?
    Was soll es etwa genau heißen, “den Sachverhalt mit den Hinweisgebern zu erörtern” (so § 8 Abs. 1 Satz 4)? Heißt das, ich höre mir das an, sage “hm hm, und sie hören in drei Jahren vielleicht wieder von uns”? Oder wann genau sollten verfahrensverantwortliche Personen “ein Verfahren der einvernehmlichen Beilegung anbieten” (so § 8 Abs. 1 Satz 5)? Welche Verfahren sind hier im Einzelnen gemeint – und welche Kriterien sind an die Verfahrenswahl anzulegen? Da sind so viele unscharfe Begriffe.

    Sollte der Gesetzgeber nachschärfen?
    Unbedingt. Ich hoffe auf eine Konkretisierung durch die EU-Richtlinie. Bislang sind Beschwerdemechanismen in den Entwürfen aber leider auch nur kursorisch geregelt.

    Braucht es für gemeinsame Beschwerdemechanismen eine gegenseitige Offenlegung der Lieferanten?
    Das ist nicht zwingend notwendig. Gerade bei übergreifenden Mechanismen hat man in der Trägerorganisation des Beschwerdemechanismus ja eine Art Clearinghouse mit getrennt von den einzelnen Unternehmen agierenden Personen. Diese Personen sollten auch keinem beteiligten Unternehmen eng verbunden oder besonders verpflichtet sein. Nur die Trägerstelle des Beschwerdemechanismus muss die Lieferketten kennen. Sie agiert wie ein vertrauliches Depot, muss zuordnen können, ob bestimmte Beschwerden in den Zuständigkeitsbereich fallen.

    Lassen sich Fehler bei der Einrichtung von Beschwerdeverfahren vermeiden?
    Beschwerdeverfahren können nicht von Anfang an perfekt entworfen und reibungsfrei implementiert werden. Das ist eine Illusion. Es ist immer ein Annäherungsprozess zwischen Konzept und Wirklichkeit, der fortlaufend betreut und nachgebessert werden muss. Die entscheidende Frage ist, wie kann man lernende Systeme schaffen?

    Wie gelingt das?
    Zwei Ebenen sind wichtig: Zum einen kann der Beschwerdemechanismus selbst lernen. Ein Schlüsselkriterium ist hier die regelmäßige Einholung von Feedback. Dieses Feedback muss auch aufgegriffen und für die Betroffenen spürbar umgesetzt werden. Die zweite Ebene ist das Produktionsverhalten entlang der Lieferkette. Da verlangt das Gesetz ein lernendes Risikomanagement: Wie speist der Beschwerdemechanismus als Radarschirm für Risikolagen Erkenntnisse und Impulse zurück in das größere System des Risikomanagements? Hier setzt das LkSG in §10 auch mit seinen Berichtspflichten an. Der Beschwerdemechanismus muss an die Unternehmen oder andere Trägerorganisationen regelmäßig und differenziert berichten – und dann in anonymisierter, abstrahierter Form auch der Öffentlichkeit. So kann man Hotspots identifizieren und Muster von Problemlagen feststellen.

    Wie bei verästelten Lieferketten gewährleistet werden kann, dass der Beschwerdemechanismus allen potenziell Betroffenen bekannt wird, und weitere Antworten gibt Ulla Gläßer im kompletten Interview zu Beschwerdemechanismen.

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    Zeichen stehen bei COP15 auf Verlängerung

    Offiziell noch bis zum 19. Dezember verhandeln die Vertragsstaaten der Convention on Biological Diversity über ein neues globales Abkommen zum Schutz der ökologischen Vielfalt. Dabei geht es um die Sicherung der Lebensgrundlagen. Morgen beginnt das sogenannte High-Level-Segment: Für die Umweltminister:innen der teilnehmenden Staaten gilt es einen Berg an Aufgaben zu lösen.

    Zwar kam zuletzt etwas mehr Bewegung in die lange festgefahrenen Verhandlungen. Doch bei entscheidenden Fragen, etwa zur Umsetzung der Ziele nebst Kontrollmechanismen, konnten bislang kaum Fortschritte erzielt werden, weshalb eine Verlängerung als sicher gilt. Umweltschützer beklagen bereits erste Einbußen beim Ambitionsniveau.

    Zentraler Punkt der Verhandlungen bleibt die Finanzierung. Dazu gehört sowohl die Mobilisierung und gerechte Verteilung öffentlicher Ressourcen (Ziel 19), als auch die Umverteilung oder Abschaffung umweltschädlicher Subventionen von 500 Milliarden Dollar pro Jahr (Ziel 18) sowie die Ausrichtung der Finanzflüsse (Ziel 14) und der Unternehmenstätigkeiten (Ziel 15) auf “Nature Positive”.

    Unternehmen fordern Berichtspflichten für Biodiversität

    Unterstützung kommt aus der Privatwirtschaft selbst: “Make it mandatory” heißt die Kampagne der Initiative Business vor Nature, der sich mittlerweile rund 400 Unternehmen und Finanzinstitute angeschlossen haben. Sie fordern Berichtspflichten für Unternehmen zur Offenlegung ihrer Auswirkungen auf die Biodiversität. Nach derzeitigem Verhandlungsstand ist das zumindest “für große Unternehmen” auch vorgesehen. Daneben sollen die negativen Auswirkungen mindestens um die Hälfte reduziert und die positiven gesteigert werden.

    “Die Offenlegung verbindlich zu machen ist wichtig, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen”, sagt Maelle Pelisson, Advocacy Director bei Business for Nature. “Etliche Unternehmen messen ihre Auswirkungen bereits auf freiwilliger Basis, aber die sollten dafür nicht bestraft werden und durch die Funktionsweise des Marktes Wettbewerbsnachteile erleiden.”

    Auch würden vergleichsbare Berichtspflichten die Kontrolle der eigenen Wertschöpfungskette vereinfachen. Um die Auswirkungen der eigenen Produkte auf die Biodiversität zu messen und zu verbessern müssen schließlich auch die Daten aus der Lieferkette erhoben werden. Das könne ohne Offenlegungspflichten mehrere Jahre dauern oder ganz scheitern. tl

    • Berichtspflichten
    • Biodiversität

    EU-Institutionen einigen sich auf neue Batterieverordnung

    EU-Kommission, Parlament und Rat haben sich vergangene Woche auf eine neue Batterieverordnung geeinigt. Sie soll die bisherige Richtlinie über Batterien und Akkus aus dem Jahr 2006 ersetzen. Die EU will mit der Reform Standards für ein nachhaltigeres Design von Batterien festlegen, den Stoffkreislauf ankurbeln und die Batterie- und Recyclingindustrie stärken. Zudem sollen Batterien das erste Produkt in der EU sein, für das ein verbindlicher CO₂-Fußabdruck gilt. Rat und Parlament müssen die vorläufige Einigung noch billigen und formell abnehmen.

    Im Detail betrifft die neue Verordnung: Geräte-Altbatterien, Elektrofahrzeugbatterien, Industriebatterien, Start-, Blitz- und Zündbatterien (die hauptsächlich für Fahrzeuge und Maschinen verwendet werden) und Batterien für leichte Verkehrsmittel (E-Bikes, E-Scooter). Sie legt unter anderem folgende Vorgaben für Batterien fest (mehr zu den einzelnen Punkten im Europe.Table):

    • Sorgfaltspflichten
    • Batteriepass und Label
    • Sammelziele für Altbatterien
    • Mindestwerte für den Recyclinganteil
    • Vereinfachte Austauschbarkeit von Batterien
    • Rückgewinnungsziele für Lithium, Kobalt, Nickel, Kupfer und Blei
    • strenge Beschränkungen für gefährliche Stoffe wie Quecksilber, Kadmium und Blei
    • Ziele für die Effizienz von Recyclingprozessen
    • Maximaler CO₂-Fußabdruck

    Achille Variati (S&D), Berichterstatter im federführenden Umweltausschusses im Parlament, sagt: “Zum ersten Mal haben wir Rechtsvorschriften für die Kreislaufwirtschaft, die den gesamten Lebenszyklus eines Produkts abdecken – dieser Ansatz ist sowohl für die Umwelt als auch für die Wirtschaft gut.”

    Die Verordnung ist im Kontext von Digitalisierung, Energie- und Mobilitätswende und der starken Abhängigkeit von Drittstaaten hinsichtlich der benötigten Rohstoffe von strategischer Bedeutung für die EU. Der weltweite Bedarf an Batterien wird laut Prognosen des Weltwirtschaftsforums bis 2030 um das 19-fache des Bedarfs im Jahr 2019 steigen. Der Großteil davon entfällt auf die Automobilindustrie. leo

    • Batterien
    • Recycling
    • Rohstoffstrategie
    • Technologie

    Öffentliche Konsultation für Bundestariftreuegesetz gestartet

    Öffentliche Aufträge des Bundes sollen künftig nur noch Unternehmen erhalten, die ihre Beschäftigten fair bezahlen. Mit einer Tariftreueregelung will die Bundesregierung erreichen, dass “für tarifgebundene und tarifungebundene Unternehmen bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags vergleichbare Wettbewerbsbedingungen gelten”.

    Unternehmen sollen demnach einen repräsentativen Tarifvertrag der jeweiligen Branche einhalten müssen, um Aufträge vom Bund zu erhalten. Damit macht sich die Regierung an die Umsetzung eines Vorhabens aus dem Koalitionsvertrag. Bis zum 23. Dezember läuft eine öffentliche Konsultation. Den Fragebogen zur Stärkung der Tarifbindung stellt das Bundesarbeitsministerium zur Verfügung.

    Stefan Körzell, Mitglied im Vorstand des DGB, fordert eine rasche Umsetzung des Vorhabens. “Dabei muss der gesamte [repräsentative] Tarifvertrag anzuwenden sein, auch von etwaigen Subunternehmen“, sagt Körzell. Gleichzeitig müssten ihm zufolge Regelungen zu Arbeitszeiten, Urlaub und Sonderzahlungen berücksichtigt werden. “Klar ist auch, dass es effektive Kontrollen und Sanktionen braucht, um die Wirksamkeit des Gesetzes zu gewährleisten”, ergänzt er.

    Iris Plöger, Mitglied der Hauptgeschäftsführung vom BDI, hält Tarifverträge grundsätzlich für wichtig, sagt aber: “Öffentliche Aufträge, über das geltende Arbeits- und Sozialrecht hinaus, pauschal von der Einhaltung von Tarifverträgen abhängig zu machen, ist allerdings grundsätzlich nicht sinnvoll.” Vergleichbare Regelungen auf Länderebene hätten bereits zu Rechtsunsicherheit und Mehraufwand für Firmen geführt. Zudem befürchtet sie, dass kleine und mittlere Unternehmen sich bei Vergaben zurückhalten würden, was zu weniger Wettbewerb und dadurch zu einer kleineren Auswahl an “hochwertigen Unternehmen und Produkten” führen würde. nh

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    Mikrokredite in Kambodscha: Beschwerde gegen Oikocredit

    Die Menschenrechtsorganisationen LICADHO, Equitable Cambodia und FIAN Deutschland haben Beschwerde gegen Oikocredit bei der Nationalen Kontaktstelle der OECD in den Niederländen eingereicht. Der Vorwurf: Oikocredit habe “trotz der seit mindestens 2017 vorliegenden Belege für die Überschuldungskrise weiter Investitionen an kambodschanische Mikrofinanzinstitute getätigt“, begründen die Organisationen ihr Vorgehen. Oikocredit behaupte, ein sozialer Investor zu sein, aber ihre Investitionen nach Kambodscha hätten Kreditnehmer “irreparabel” geschädigt, sagt Naly Pilorge, Direktorin bei LICADHO.

    Mikrokredite führen zu einer Überschuldungskrise in Kambodscha

    Kambodscha hat laut den Beschwerdeführern den größten Mikrofinanzsektor der Welt. Im Schnitt betrüge die Kredithöhe mehr als das Dreifache des jährlichen Durchschnittseinkommens. Das führt zu Ernährungsunsicherheit, erzwungenen Landverkäufen und dem Verlust der Lebensgrundlage für Hunderttausende. Das Institut für Entwicklung und Frieden kommt in einer vom BMZ finanzierten Studie zu dem Schluss, dass bis zu 160.000 Mikrokreditnehmer in den vergangenen fünf Jahren Land verkaufen mussten, um Schulden zu begleichen.

    Grundsätzliche Probleme seien sogar in einer Studie beschrieben, die Oikocredit selbst 2107 unterstützt habe, heißt es. Seitdem habe Oikocredit die Investitionen in Kambodscha von jährlich 50 auf 67 Millionen Euro erhöht. Der Investor habe sich trotz wiederholter Anfragen und der begründeten Sorge um Repressalien gegenüber NGO in Kambodscha geweigert, “im Rahmen der Sorgfaltsprüfung mit kambodschanischen Organisationen in einem sicheren Umfeld zusammenzuarbeiten”, sagen die Beschwerdeführer.

    Oikocredit will mit der Beschwerdestelle kooperieren, aber weiter investieren

    Oikocredit, ist einer der ältesten ethischen Investoren und hat kirchliche Wurzeln. Seit Jahrzehnten finanziert er Organisationen, die Menschen, die normalerweise keine Kredite bekommen, trotzdem Kredit anbieten, etwa in Form von Mikrokrediten.

    Man wolle “uneingeschränkt mit der Nationalen Kontaktstelle zusammenarbeiten”, teilt Oikocredit International auf Anfrage mit. Mehr als die Hälfte des Kapitals der Genossenschaft stammt von Anlegern aus Deutschland.

    Oikocredit kann nach eigenen Angaben im kambodschanischen Mikrofinanzsektor nur über die sorgfältige Auswahl der Partner “Einfluss nehmen und positive Auswirkungen erzielen”. Die Organisation sei “allen Vorwürfen über unethische Praktiken bei unseren Partnern nachgegangen”, teilt sie mit und kündigt an, weiter “in die Mikrofinanzierung in Kambodscha investieren” zu wollen. cd

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    Deutsche Firmen exportieren mehr verbotene Pestizide

    Deutsche Unternehmen haben im Jahr 2021 mehr in der EU verbotene Pflanzenschutzmittel ins Ausland verkauft als im Vorjahr. Das zeigt die Analyse “Export hochgefährlicher Pestizid-Wirkstoffe aus Deutschland”, die gemeinsam von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem INKOTA-Netzwerk, dem Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany) und der Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgelegt wurde.

    Demnach stieg der Außenhandel mit verbotenen Pestizid-Wirkstoffen in fertigen Produkten um knapp drei Prozent auf 8.499 Tonnen, der Verkauf von verbotenen Pestiziden als reine Wirkstoffe sogar um fast 85 Prozent auf 37.525 Tonnen.

    Peter Clausing vom PAN Germany sagt über die Gefahren, die von diesen Stoffen ausgehen: “Die Wirkstoffe, für die wir ein Exportverbot fordern, sind in der EU nicht deshalb vom Markt verschwunden, weil sie für den Pflanzenschutz untauglich waren, sondern wegen erkannter Gefahren für Mensch und Umwelt.”

    Während ein Teil der deutschen Lieferungen in Industriestaaten außerhalb der EU gehen, etwa in die USA, Kanada, die Schweiz oder Großbritannien, sind reine Wirkstoffe wie Cyanamid und Propineb im globalen Süden sehr gefragt. Beide sind fruchtbarkeitsschädigend. Das Herbizid Cyanamid gilt zudem als krebserregend, das Fungizid Propineb als hormonschädigend.

    “Es müsste wirklich jedem, auch den Managern der Pestizidindustrie, einleuchten, dass die damit verbundenen Risiken im globalen Süden um ein Vielfaches größer sind als in der EU”, sagt Clausing. Das habe mit fehlender Schutzausrüstung, einem gravierenden Mangel an Aufklärung und unsachgemäßer Lagerung zu tun. Hinzu käme eine ungenügende Durchsetzung der ohnehin laschen Schutzvorschriften in vielen Ländern des globalen Südens, auch weil dort einfach die Ressourcen fehlten.

    Übrigens: Nach Informationen von Europe.Table kommt es bei der umstrittenen Pestizidverordnung eventuell zu Verzögerungen in der Umsetzung. Demnach könnte der Rat am 19. Dezember die Kommission auffordern, weitere Studien zur Folgenabschätzung der Sustainable Use Regulation (SUR) in Auftrag zu geben. ch

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    Presseschau

    Die Biodiversitätskrise in Zahlen und Grafiken THE GUARDIAN
    CEO von Glencore warnt vor einem Kupfer-Defizit HANDELSBLATT
    Indien: Wegen ökonomischer Ziele mehr Investitionen in fossile Brennstoffe THE NEW YORK TIMES
    Unternehmen zeigen der Politik inzwischen, dass sich der langfristige Blick auszahlt. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
    Wie wirkt sich der Bau von LNG-Terminal auf das Wattenmeer aus? SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
    Interview mit Akansksha Khatri vom Weltwirtschaftsforum zu Biodiversität: “Untätigkeit verursacht viel höhere Kosten als entschiedenes Handeln.” DER SPIEGEL
    Schutzgebiete nützen der Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
    Die Zwei-Millionen-Jahre-DNA DIE WELT
    Montreal: 1000 Punkte, ein Plan DIE ZEIT
    China darf nicht in die Knie gehen FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG
    Fünf Signale für die Weltwirtschaft. Gastkommentar von Janet Yellen HANDELSBLATT
    Corporate Governance ist alles andere als “Gedöns” BÖRSEN-ZEITUNG
    EU sichert sich Zugang zu Rohstoffen aus Chile TABLE MEDIA
    Plädoyer für eine Ökonomie des Genug von dem Nachhaltigkeitsvordenker Wolfgang Sachs BLÄTTER FÜR DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK
    Warum die Konfrontation zwischen den USA und China fatale Konsequenzen für das Klima und die Gesellschaft hat – und eine technologische Kooperation mit China vorteilhaft wäre für die Welt. MAKRONOM

    Standpunkt

    EU-Lieferkettenrichtlinie muss vor Ort wirken

    Von Bärbel Kofler
    Bärbel Kofler ist seit Dezember 2021 Parlamentarische Staatssekretärin im BMZ.

    Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt am 01. Januar 2023 in Kraft – ein Meilenstein für die Stärkung und den Schutz von Menschenrechten und Umweltstandards entlang globaler Lieferketten. Gleichzeitig laufen die Verhandlungen für eine EU-weite Lieferkettenregulierung – der Corporate Sustainability Due Diligence Directive – auf Hochtouren. Unternehmerische Sorgfaltspflichten werden damit nun endlich verbindlich – ein schon lange überfälliger Schritt.

    In der aktuellen Debatte rund um die gesetzlichen Regelungen stehen jedoch vor allem die möglichen Herausforderungen für deutsche und europäische Unternehmen im Fokus. Oft rückt dabei in den Hintergrund, worum es bei den Entwicklungen wirklich geht: die Lebensbedingungen entlang globaler Lieferketten zu verbessern und die Rechte der Betroffenen zu stärken. Diesem Anspruch müssen wir gerecht werden – sowohl mit dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz als auch im Hinblick auf die geplante EU-Lieferkettenrichtlinie.

    Denn die Missstände in den globalen Wertschöpfungsketten mit über 450 Millionen Beschäftigten sind groß. Viele der Produkte und Rohstoffe für den deutschen und europäischen Markt werden unter untragbaren Umwelt- und Arbeitsbedingungen, für Hungerlöhne oder sogar mithilfe ausbeuterischer Kinderarbeit hergestellt oder abgebaut. Laut neuesten Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) leisten weltweit 27,6 Millionen Menschen Zwangsarbeit, davon mehr als 3,3 Millionen Kinder.

    Vor allem vulnerable und marginalisierte Gruppen wie Frauen und Mädchen erleben in allen Sektoren oftmals mehrfache Diskriminierung und geschlechtsspezifische Formen der Gewalt – ob als Näherinnen in Textilfabriken, als Bäuerinnen auf dem Feld oder im Dienstleistungssektor. Die Covid-19-Pandemie hat diese geschlechtsbasierte Ungleichbehandlung weiter verschlechtert.

    Auch die negativen Auswirkungen auf die Umwelt sind enorm: Bei der Textilproduktion etwa werden pro Jahr 43 Millionen Tonnen Chemikalien eingesetzt. Leiten Fabriken diese direkt über ihr Abwasser in umliegende Gewässer, gefährden sie damit auch die Gesundheit der Menschen in den angrenzenden Gemeinden. Der Textilsektor verursacht zudem mehr als ein Drittel des Mikroplastiks in den Weltmeeren.

    Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden finden aber nicht nur weit entfernt, sondern auch in Europa statt, etwa in Form von Ausbeutung der Arbeitsmigrant*innen in deutschen Schlachthöfen.

    Alle diese Beispiele verdeutlichen: Gesetze über unternehmerische Sorgfaltspflichten müssen vor allem dort Wirkung entfalten, wo die Verletzungen von Mensch und Umwelt stattfinden. Doch wie erreichen wir diese gewünschte Effektivität – vor allem mit Blick auf die EU-Richtlinie?

    1. Betroffene von Menschenrechtsverletzungen brauchen effektive Klagemöglichkeiten. Eine zivilrechtliche Haftung in der EU-Regulierung ist also essenziell. Davon werden ganz besonders Personen vulnerabler oder marginalisierter Gruppen wie Frauen profitieren, die am meisten unter niedrigen Löhnen und Gewalt am Arbeitsplatz leiden. Entscheidend ist dabei auch die Ausgestaltung der Haftungsnormen: Wir brauchen eine faire Beweislastverteilung: Es kann nicht sein, dass Betroffene nachweisen müssen, dass ein internationales Unternehmen seinen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen ist – das wird in den meisten Fällen überhaupt nicht möglich sein. Außerdem muss, wie auch im deutschen Lieferkettengesetz vorgesehen, sichergestellt werden, dass Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften die Rechte der Betroffenen im Zivilprozess im eigenen Namen durchsetzen können – eine wichtige Regelung, um rechtliche Hürden abzubauen.
    2. Beschwerdemechanismen als Teil der unternehmerischen Sorgfaltspflicht müssen für alle potenziell betroffenen Rechteinhabenden leicht zugänglich sein. Das gilt auch für zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften. Gleichzeitig muss der Schutz der Hinweisgebenden vor Repressalien gegeben sein. Nur so können wirkungsvolle Abhilfe und Wiedergutmachung gelingen.
    3. Der Geltungsbereich des Entwurfs für die EU-Lieferkettenrichtlinie darf im Bereich der mittelbaren Zulieferer nicht auf “etablierte Geschäftsbeziehungen” beschränkt sein. Dieses Konstrukt schafft falsche Anreize. Gerade informelle oder kurzfristige Geschäftsbeziehungen stellen ein höheres Risiko für Menschenrechtsverletzungen dar. Das wird besonders im Textilsektor deutlich, wo schnell wechselnde Vertragsbeziehungen gang und gäbe sowie gleichzeitig Ausbeutung der Näher*innen keine Seltenheit sind. Wir brauchen daher einen risikobasierten Ansatz, wie er international bekannt und anerkannt ist.
    4. Wichtig ist, dass auch der Schutz des Klimas und der Umwelt umfassend in die Sorgfaltspflichten einbezogen werden. Vor allem für die Menschen in Entwicklungsländern, die schon heute am meisten unter den Folgen des Klimawandels leiden, ist das überlebenswichtig. Der Übergang zu einer umwelt- und klimagerechten Wirtschaftsweise kann aber nur gelingen, wenn sich alle an dieser “Just Transition” beteiligen – und vor allem europäische Unternehmen spielen dabei eine zentrale Rolle.

    Für das, worum es tatsächlich geht – um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen entlang globaler Wertschöpfungsketten – brauchen wir also staatliches und unternehmerisches Engagement sowie klare und wirkungsvolle gesetzliche Rahmenbedingungen. Das geht aber natürlich nicht ohne die erforderliche Unterstützung. Das BMZ weitet daher derzeit bestehende nationale Angebote für Unternehmen und Zivilgesellschaft auf die EU-Ebene aus. Denn sicher ist: Wirksamkeit werden wir nur erzielen, wenn private und freiwillige Instrumente einerseits sowie staatliche und verbindliche Instrumente anderseits ineinandergreifen – ganz im Sinne der Betroffenen in unseren Wertschöpfungsketten.

    Bärbel Kofler ist Bankkauffrau, Diplom-Informatikerin, promovierte Sprachwissenschaftlerin und SPD-Mitglied. Seit 2004 gehört sie als Abgeordnete dem Deutschen Bundestag an. Von 2016 bis 2021 war sie Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt. Seit dem Start der Ampel-Koalition ist sie parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

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    Tilman Santarius – Technischen Fortschritt gesellschaftlich verträglich gestalten

    Tilman Santarius will Dinge in Bewegung setzen, das kennt er gar nicht anders: Schon mit fünf Jahren nehmen ihn seine Eltern – engagierte Umweltschützer – mit auf Demos. Nach der Schule schreibt er sich dann zwar für Soziologie, Ethnologie und Volkswirtschaftslehre ein, will aber eigentlich in die Entwicklungszusammenarbeit. Doch auch das ist nichts für ihn. Er hält wenig von der “aufoktroyierten Hilfe” dort, weil es ihm mehr darum geht, die globalen Folgen des Wohlstandsmodells hierzulande zu adressieren. Er sucht sich Forschungsinstitute, an denen er sich seinem Lebensthema widmet: der Nachhaltigkeit der Wirtschaft.

    These: Aktuell schadet die Digitalisierung der Umwelt

    Heute arbeitet der 48-Jährige als Forscher und Professor an der TU Berlin sowie als wissenschaftlicher Autor. “Ich versuche immer Schnittstellen zum Thema Nachhaltigkeit zu finden”, sagt er, zum Beispiel zu den Themen Globalisierung und Gerechtigkeit oder zu Digitalisierung und Transformation. Santarius veröffentlicht regelmäßig Bücher und Artikel und gibt Interviews. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden ist er durch seinen TED-Talk über nachhaltige Digitalisierung vor rund einem Jahr.

    Seine These: Die Digitalisierung in ihrer heutigen Form schadet der Umwelt mehr, als sie nützt. Effizienzgewinne würden lediglich genutzt, um noch mehr zu konsumieren – sodass unterm Strich sogar zusätzliche CO₂-Emissionen entstehen. Santarius fordert stattdessen: “Wir müssen technischen Fortschritt politisch und gesellschaftlich gestalten.” Statt also zum Beispiel viel Geld in die Entwicklung selbstfahrender Autos zu stecken, die in der Produktion und im Betrieb massiv Ressourcen und Energie verbrauchen, sollten öffentliche und private Geldgeber lieber sozial- und umweltverträgliche Alternativen zum Auto voranbringen. Warum nicht ein multimodales Verkehrssystems fördern? Sprich: die Kombination von Bussen und Bahnen mit Leihfahrrädern und E-Scootern.

    Unternehmerischer Fokus auf ökologische und soziale Ziele

    Dieses Denken ist typisch für Santarius: Er will das wirtschaftliche System verändern, plädiert für eine Transformation der gesamten Marktwirtschaft hin zu mehr Resilienz. “Unternehmen sollten sich auf ökologische und soziale Ziele konzentrieren und nicht nur Wachstum anstreben”, sagt er etwa. Sein Feindbild sind Monopolisten aus dem Silicon Valley, die am liebsten komplette Wertschöpfungsketten allein kontrollieren wollen. Und sein Zielbild ist eine Wirtschaft, in der sich die Angebote kleiner Handwerksbetriebe, mittlerer Unternehmen und genossenschaftlicher Initiativen ergänzen, die alle miteinander kooperieren, ohne sich nur auszustechen. “Das”, sagt er, “wäre eine Wirtschaft, die sozial und ökologisch verträglich ist”.

    Sein aktuelles Buch: “Digital Reset. Redirecting Technologies for the Deep Sustainability Transformation.” Lilian Fiala

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    ESG.Table Redaktion

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