Table.Briefing: Climate

Exklusiv: Kosten des Kohleausstiegs in Südafrika + Kohlenstoffmarkt in Indien + UBA-Chef Messner

  • UN-Bericht zu Menschenrechten fordert radikalen Klimaschutz
  • Indien: Regierung legt Gesetz für Kohlenstoffmarkt vor
  • Südafrika: Kohleausstieg kostet jährlich 14 Milliarden Dollar
  • China: Peking finanziert trotz Versprechen weiter Kohle im Ausland
  • Termine
  • Guterres greift “PR-Maschinerie” der Fossilindustrie an
  • Die Ambitions-Lücke beim Klimaschutz bleibt riesig
  • Fotovoltaik-Importe aus China steigen
  • Neues Verfahren misst CO₂-Gehalt von Bäumen
  • Standpunkt: UBA-Präsident Dirk Messner: “Die Doppelmoral des Westens”
  • Presseschau
  • Im Portrait: Der neue UN-Klimachef Simon Stiell 
Liebe Leserin, lieber Leser,

die globale Klimaszene blickt in diesen Tagen nach New York. Bei der 77. UN-Generalversammlung drängt die Erdüberhitzung neben dem Ukrainekrieg auf der Tagesordnung. Niemand leugnet mehr: Die globale Klimakrise ist akut: Hitze und Dürre auf der Nordhalbkugel, Temperaturrekorde in Indien und Pakistan, dann die Flutkatastrophe in Pakistan und der aktuelle Hurrikan “Fiona” in Costa Rica zeigen: Das Thema lässt sich nicht mehr ignorieren.

Deshalb präsentieren wir Ihnen gerade jetzt die erste Ausgabe des neuen Decision Brief Climate.Table. Denn die Auswirkungen der globalen Klimakrise bestimmen Ihre Entscheidungen zunehmend. Ab Mitte Oktober werden wir einmal wöchentlich Nachrichten, Hintergründe, Analysen, Meinungen und Daten zusammentragen, um Sie exklusiv und intensiv mit wichtigen Informationen rund um die globale Klimakrise zu versorgen. Wir bringen nicht nur die schnelle Nachricht, sondern wir analysieren, was sie bedeutet, vor welchem Hintergrund Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Entscheidungen treffen. Und wir helfen, aus der Flut an Informationen, die jeden Tag in Ihrer Mailbox landet, die wirklich relevanten herauszufiltern.

Unser Blick ist wie die Krise: global. Wirtschafts-, Umwelt- und Energiepolitik sind nicht mehr national zu denken. Mit unserem Netz aus Korrespondentinnen und Korrespondenten schauen wir auf Entscheidungen und Entwicklungen in den wichtigen Märkten und den relevanten Ländern.

In dieser ersten Ausgabe von Climate.Table stellen wir den radikalen Bericht des UN-Berichterstatters zu Menschenrechten im Klimawandel vor. Meine Kollegin Urmi Goswami schreibt aus Neu-Delhi über die wichtigen Schritte Indiens hin zu einem CO₂-Markt.

Wir enthüllen, was eine sozial gerechte Energiewende im Kohleland Südafrika kosten soll und bilanzieren kritisch das Versprechen Chinas, keine neuen Kohlekraftwerke im Ausland zu bauen. Und der Präsident des deutschen Umweltbundesamts Dirk Messner debattiert bei uns die Frage, wie dringend nötige internationale Kooperation möglich sein soll in Zeiten von kalten und heißen Kriegen.

Climate.Table – Das könnte für Sie, liebe Leserinnen und Leser, wie eine COP sein, einmal in jeder Woche. Mit all der multinationalen Perspektive, dem Drama und den bedeutungsvollen Entscheidungen dieser großen UN-Konferenzen – aber ohne den Frust, den Schlafmangel und die schlechte Laune, die mit den COPs oft einhergehen.

Wir hoffen, Climate.Table findet Ihr Interesse. Melden Sie sich gern mit Kritik, Vorschlägen und Hinweisen auf Themen. Unsere Adresse dafür lautet climate@briefing.table.media.

Und: Behalten Sie einen langen Atem!

Ihr
Bernhard Pötter
Bild von Bernhard  Pötter

Analyse

UN-Bericht zu Menschenrechten fordert radikalen Klimaschutz

Das Dokument birgt politischen Sprengstoff für die UN-Generalversammlung und den kommenden Klimagipfel in Sharm el Sheikh. In seinem ersten Report legt Ian Fry, der neue Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Menschenrechte im Kontext des Klimawandels brisante Forderungen vor, die unter den UN-Staaten höchst umstritten sind: unter anderem die Ächtung von fossilen Energien durch die UNO, eine schnelle und drastische Reduktion der CO₂-Emissionen, einen Hilfsfonds für Klimaschäden und Klima-Tribunale gegen Staaten und Unternehmen. Den Bericht hat UN-Generalsekretär António Guterres am 26. Juli an die Generalversammlung der Vereinten Nationen übermittelt.

Fry schließt sich in seinem Bericht unter anderem der Forderung von Umweltgruppen und Entwicklungsländern an, es solle Ausgleichszahlungen für klimabedingte Verluste und Schäden (“Loss and Damage”, L&D) geben. Er benennt die Verantwortung der wohlhabenden Industriestaaten für die Klimakrise und das “enorme Unrecht”, das sie den Menschen in den ärmsten Ländern zufügen. Er erinnert daran, dass die Erderwärmung heute schon das Recht auf Leben von Millionen Menschen gefährdet, und drängt dazu, endlich schnell zu handeln.

Loss-and-Damage-Fonds einrichten, ECT aufheben

Konkret verlangt der Sonderberichterstatter unter anderem, die weltweiten Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu senken. Er hat aber auch klare politische Forderungen: Der Energy Charter Treaty (ECT), der es Investoren ermöglicht, gegen klimapolitische Entscheidungen von Staaten zu klagen, soll nach seinem Willen aufgehoben werden. Das hat einen realen Hintergrund: Erst vor kurzem wurde der italienische Staat in einem Prozess auf Grundlage des ECT dazu verurteilt, dem Ölkonzern Rockhopper eine Entschädigung in Höhe von 190 Millionen Euro plus Zinsen zu zahlen. Die Klimaszene und Klimadiplomaten befürchten, dass der ECT weitere Millionenklagen befördert. Sie würden Geld binden, das dringend für die die globale Transformation zu einer klimafreundlichen Welt gebraucht wird.

Daneben fordert Fry eine UN-Resolution, um die weitere Ausbeutung von Öl-, Kohle- und Gasvorkommen zu ächten. Ein internationales Menschenrechtstribunal solle künftig Regierungen, Unternehmen und Finanzinstitutionen zur Verantwortung ziehen, die weiterhin in fossile Energien investieren und dadurch Menschenrechte verletzen. Ökozid, also die schwerwiegende Beschädigung oder Zerstörung der Natur, soll künftig ein eigener Straftatbestand vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) werden. Obwohl vor dem IStGH bereits einige Anzeigen gegen Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro wegen dieses und anderer Verbrechen vorliegen, ist der Ökozid bislang noch nicht als Vergehen in die Statuten des Gerichtshofs integriert.

Schließlich soll für Fry die UN-Generalversammlung ein zentrales Thema angehen, das in den Klimaverhandlungen zwischen den Delegationen bislang kaum vorankommt: die Einrichtung eines Loss-and-Damage-Fonds, aus dem die Reparaturen von klimabedingten Schäden in besonders betroffenen Ländern bezahlt werden können – mit frischem Geld, finanziert durch die größten Emittenten. Diese Forderung hat Fry während eines Besuchs in Bangladesch Mitte September noch einmal wiederholt. Und besonders durch den Klimawandel gefährdete Gemeinden sollen die Möglichkeit erhalten, auf Entschädigung für die ihnen zugefügten Schäden zu klagen.

Ungewöhnlich harte Forderungen eines UN-Beauftragten

Viele dieser Forderungen wurden auch schon von Repräsentanten der verwundbarsten Länder und Menschenrechtsfachleute erhoben. Neu ist aber, dass nun jemand in einer solch herausgehobenen Position wie Fry sie in einer so klaren Sprache formuliert. Sébastien Duyck, Jurist im Klima- und Energieprogramm des Center for International Environmental Law (CIEL), hofft deshalb auf neue Impulse für die internationalen Klimaverhandlungen, insbesondere über Loss and Damage (L&D): “Der Bericht ist eine Chance auf einen breiteren Dialog. Die Zivilgesellschaft und betroffene Regierungen werden ihn nutzen, um stärker als bisher auf Fortschritte zu drängen.” Duyck hofft, dass durch die Autorität des Sonderberichterstatters im ewigen Streit um “Loss and Damage ” ein “neues Momentum für Lösungen” entsteht.

Am 21. Oktober, wenige Tage vor dem Beginn des 27. UN-Klimagipfels COP27 im ägyptischen Sharm el Sheikh, wird Fry seinen Report offiziell vorstellen. Dann dürfte die Aufmerksamkeit für das Thema noch steigen.

Fry, ein australischer Experte für internationales Umweltrecht und -politik, ist in der internationalen Klimaszene kein Unbekannter. Seine dreijährige Amtszeit als Sonderberichterstatter zum Schutz der Menschenrechte im Kontext des Klimawandels hat er im Mai 2022 begonnen. Aus seiner vorherigen Arbeit kennt er die existenzielle Bedrohung genau, die der Klimawandel gerade für besonders gefährdete Regionen wie die pazifischen Inselstaaten bedeutet. Er hält die klimabedingte Vertreibung für eine der größten menschenrechtlichen Bedrohungen der Gegenwart. Bevor er sein Amt antrat, arbeitete Fry zwei Jahrzehnte lang für die Regierung von Tuvalu und war 2015 bis 2019 ihr Botschafter für Klima und Umwelt. Auf den UN-Klimagipfeln, unter anderem 2015 in Paris, verhandelte er für die Pazifikstaaten und koordinierte die Arbeit der Delegationen der sogenannten Least Developed Countries (LDCs). Nebenbei unterrichtet er Umweltpolitik und Internationale Umweltpolitik an der Australian National University.

Rechtlich nicht bindend, aber politisch brisant

Frys Amt als UN-Sonderberichterstatter ist noch jung: Die Position wurde vom UN-Menschenrechtsrat erst am 8. Oktober 2021 geschaffen – dem gleichen Tag, an dem der Rat in einer Resolution das Recht aller Menschen anerkannte, in einer sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt zu leben. Im Juli 2022 erkannte auch die UN-Generalversammlung das Menschenrecht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt an.

Rein rechtlich sind die Resolutionen der Vereinten Nationen für ihre Mitgliedsstaaten nicht bindend. Und bisher haben ähnliche Veröffentlichungen im Rahmen der UN wenig gebracht. So hatte David Boyd, der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Umwelt, gemeinsam mit anderen UN-Menschenrechtsfachleuten die Staaten der Welt schon im Jahr 2019 dazu aufgerufen, sich von fossilen Brennstoffen zu lösen. Zeitgleich verlangten mehrere UN-Menschenrechtsgremien, die Staaten müssten ihre klimaschädlichen Emissionen so radikal wie möglich senken. Passiert ist das nicht.

Dennoch bezeichnet Boyd UN-Resolutionen als “ein Katalysator fürs Handeln”. Nachdem die Generalversammlung im Jahr 2010 zum Beispiel das Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung anerkannt habe, hätten einige Länder es in ihren Gesetzen und Verfassungen verankert. So befähigten UN-Resolutionen “normale Menschen, ihre Regierungen auf eine sehr wirkungsvolle Art zur Verantwortung zu ziehen.”

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Indien: Regierung legt Gesetz für Kohlenstoffmarkt vor

Indien hat die ersten Schritte zur Schaffung von Kohlenstoffmärkten unternommen. In diesem Sommer brachte die Regierung während der Monsun-Sitzung des Parlaments einen Gesetzentwurf zur Änderung des Energy Conservation Act (ECA) von 2001 ein, um eine rechtliche Grundlage für die Schaffung eines Kohlenstoffmarktes in Indien zu schaffen. Wie der Markt reguliert sein wird, ist darin allerdings noch nicht endgültig festgelegt – das Gesetz enthält dazu keine Einzelheiten. Auch ist noch unklar, ob es von Beginn an ein verpflichtender Markt sein soll oder ob die Teilnahme zuerst freiwillig sein soll.

Im August stimmte das indische Unterhaus für die Verabschiedung des Energy Conservation (Amendment) Bill, 2022, die die Rechtsgrundlage für die Schaffung eines Kohlenstoffmarktes bildet. Das Gesetz muss noch vom Oberhaus verabschiedet werden, bevor es vom Präsidenten unterzeichnet werden kann. Das wird für November/Dezember in der Wintersitzung des Parlaments erwartet. Ein indischer Markt für CO2-Emissionen könnte somit frühestens Mitte 2023 funktionsfähig sein.

Bekenntnis der Regierung zu Marktmechanismen

Damit erkennt die indische Regierung – bei allen offenen Detailfragen – grundsätzlich an, dass Kohlenstoffhandel und die Märkte eine entscheidende Rolle bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft spielen können und werden. “Die Absicht Indiens ist lobenswert und signalisiert der Welt, dass wir effiziente Marktinstrumente einsetzen wollen”, sagt Karthik Ganesan vom Think-Tank Council on Energy, Environment and Water. Es gäbe in Indien bereits eine Kohlenstoffsteuer auf fossile Brennstoffe. Doch die habe wenig dazu beigetragen, grüne Alternativen voranzubringen.

Die politischen Entscheidungsträger sind sich bewusst, dass Mechanismen wie der Emissionshandel und Quoten für nicht-fossile Brennstoffe zu einer schnelleren Dekarbonisierung der Wirtschaft führen werden und dazu beitragen, die Ziele für nachhaltige Entwicklung, Klima- und Umweltschutz zu erreichen. Dies wird in der “Erklärung und dem Zweck des Gesetzentwurfs” deutlich, mit der die Regierung ihren Gesetzentwurf begründet: “Es wird auch die Notwendigkeit gesehen, einen rechtlichen Rahmen für einen Kohlenstoffmarkt zu schaffen, um Anreize für Maßnahmen zur Emissionsreduzierung zu schaffen, die zu verstärkten Investitionen des Privatsektors in saubere Energie und Energieeffizienz führen”, heißt es.

Noch ist allerdings unklar, welche Bestimmungen genau geplant sind. Auch wird noch diskutiert, welche Sektoren der indischen Wirtschaft betroffen sein werden – also ob etwa nur Bereiche wie Industrie und Stromerzeugung der Regelung unterliegen sollen, wie anfangs beim europäischen Emissionshandelssystem.

Das System soll auf zwei bestehenden Regeln aufbauen

Der vorgeschlagene Kohlenstoffmarkt wird sich auf zwei Markt-Mechanismen stützen, die es bereits gibt: Einerseits das PAT-System (Perform, Achieve, and Trade) für Energieeffizienz, das auf Energieeinsparungszertifikaten (ESCerts) basiert. Und andererseits auf den Zertifikaten für erneuerbare Energien (REC) zur Förderung erneuerbarer Energien und Abnahmeverpflichtungen für Öko-Energien. “Wir haben bereits einige Arten von Kohlenstoffmärkten”, sagte der Minister für Strom und erneuerbare Energien, Raj Kumar Singh, vor dem Parlament mit Bezug auf PAT und ESCerts. Der neue Mechanismus für den CO₂-Markt werde “all diese in einem einzigen System vereinen“.

Wie genau das aussehen soll, darauf enthält der Gesetzentwurf allerdings keine Hinweise. Das soll in einem Entwurf für ein politisches Dokument geklärt werden, das derzeit ausgearbeitet wird. Einige erste Ideen für den vorgeschlagenen Markt können dem Entwurf des Nationalen Kohlenstoffmarktes entnommen werden, den das Büro für Energieeffizienz (BEE) im Oktober 2021 erstellt hat und zu dem die Interessengruppen Stellung nehmen und Beiträge liefern können.

Der BEE-Entwurf schlägt die Entwicklung eines Kohlenstoffmarktes in drei Phasen vor: Phase 1 konzentriert sich auf die Steigerung der Nachfrage und die Verknüpfung der bisherigen Zertifikate mit dem freiwilligen Kohlenstoffmarkt. Phase 2 wird sich auf die Registrierung und Überprüfung von Projekten konzentrieren. In Phase 3 soll zu einem Cap-and-Trade-System übergegangen werden, bei dem Sektoren und Unternehmen bestimmte Emissionsquoten zugeteilt werden und der Handel damit ermöglicht wird.

Offiziellen Quellen zufolge soll dieser Entwurf als Gesprächsgrundlage dienen, um die Probleme auf den Tisch zu bringen und die Lage zu verstehen. “Der BEE-Entwurf ist eine Möglichkeit, die Lehren aus diesen Mechanismen und den internationalen Erfahrungen mit Kohlenstoffmärkten zu ziehen und die Optionen zu prüfen, die Indien bei der Gestaltung seines nationalen Kohlenstoffmarktes zur Verfügung stehen”, sagte ein hoher Beamter.

Erst freiwillig, dann verpflichtend?

Hochrangige Regierungsbeamte, die an den Gesprächen beteiligt waren, erklärten, die Regierung stünde vor einer wichtigen Entscheidung: Gleich zu Beginn mit einem verpflichtenden Markt beginnen – oder erst einmal die Teilnahme freiwillig machen. Klar ist demnach allerdings, dass es keinen Handel mit Emissionsgutschriften ins Ausland geben solle. Der Minister für Strom und erneuerbare Energien Singh, sagte dazu im Parlament: “Die Emissionsgutschriften werden nicht exportiert. Daran besteht kein Zweifel. Wir sind uns dessen sehr bewusst. Diese Emissionsgutschriften müssen von der heimischen Industrie erzeugt und von der heimischen Industrie gekauft werden”. Zur Erläuterung der Beschränkung sagte Singh: “Wir sind auf der COP21 und der COP26 Verpflichtungen bezüglich unserer NDCs eingegangen. Solange wir diese Verpflichtungen nicht erfüllen, werden wir keinen Export von Emissionsgutschriften zulassen“. Allerdings fehlt bislang dazu noch eine klare Anordnung der Regierung.

Payal Agarwal von der Unternehmensberatung Vinod Kothari & Company weist auf das Ertragspotenzial von Emissionsgutschriften hin. “Indien ist einer der größten Exporteure von Emissionsgutschriften in der Welt und hat ein hohes Potenzial, durch solche Exporte Devisen zu verdienen.” Laut einer Studie von Deloitte aus dem Jahr 2021 hat Indien das Potenzial, in den nächsten fünfzig Jahren wirtschaftliche Vorteile durch vermiedene Klimaschäden und den Export von Emissionsgutschriften in Höhe von etwa elf Billionen Dollar zu erzielen.

Für viele Experten stellt die Beschränkung des Handels auf den heimischen Markt einen inakzeptablen Einnahmeverlust dar. Es gibt aber auch Befürworter der Idee. Kishore Butani, Programmleiter bei Universal Carbon Registry, einem indischen Kohlenstoffregister, bezeichnete den Vorschlag, den Kohlenstoffexport zu beschränken, als “klug”.

Die Beschränkung, so Butani, gelte für Emissionsgutschriften der Jahre von 2013 bis 2020. “Wie in Glasgow vereinbart, beziehen sich die Gutschriften aus der Zeit vor 2021 auf die Gutschriften, die im Rahmen des CDM der UNFCCC im Zeitraum 2013-2020 erworben wurden; diese müssen vor 2030 verwendet werden und dürfen nur von einem Land auf seinem heimischen Kohlenstoffmarkt genutzt werden.

“Dieses Verbot hindert indische Unternehmen daran, ihre vor 2021 im Rahmen des CDM ausgestellten Emissionsgutschriften an ausländische Märkte zu verkaufen, beispielsweise an den australischen oder chinesischen Kohlenstoffmarkt. Indien stellt sicher, dass es über ein ausreichendes Angebot von mehr als 200 Millionen CDM-Kohlenstoffgutschriften für den Zeitraum 2013-20 verfügt, um sie seinem eigenen Markt zur Verfügung zu stellen, und das ist fair”, sagte Butani. Urmi Goswami, Neu-Delhi

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Südafrika: Kohleausstieg kostet jährlich 14 Milliarden Dollar

Für die Dekarbonisierung einer Volkswirtschaft in einem “gerechten Übergang” gibt es jetzt zum ersten Mal ein Preisschild für den Kohleausstieg in einem wichtigen Schwellenland. Die schnelle Reduzierung der Kohlekraft in Südafrika, der Aufbau neuer Netze und erneuerbarer Energien und die soziale Abfederung der betroffenen Bevölkerung würden von 2023 bis 2027 insgesamt umgerechnet 61,8 Milliarden Dollar kosten. Das geht aus dem bisher noch unveröffentlichten Entwurf eines offiziellen Berichts der Regierung hervor, der jetzt der südafrikanischen “Klima-Kommission” und internationalen Geldgebern präsentiert wurde und Climate Table exklusiv vorliegt.

Mit dieser Vorlage konkretisiert das Land mit den höchsten CO₂-Emissionen Afrikas seinen Klimaplan für die UNO (NDC). Gleichzeitig reagiert Südafrika auf ein Angebot von EU, USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Diese hatten bei der COP26 in Glasgow verkündet, sie würden insgesamt 8,5 Milliarden Dollar an Zuschüssen, Krediten oder Bürgschaften zur Verfügung stellen, um Südafrika bei einer schnelleren Dekarbonisierung zu unterstützen. Mit dieser “Just Energy Transition Partnership” (JETP) soll der grüne Umbau eines der wichtigsten CO₂-Emittenten gefördert werden.

“Fundamentale Veränderung der ökonomischen Landschaft”

Außerdem gilt das Projekt mit Südafrika als Muster, um auch anderen Schwellenländern aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu helfen: Die G7 haben im Juni bei ihrem Treffen in Elmau erklärt, auch mit Indien, Indonesien, Vietnam und Senegal über solche Partnerschaften zur Dekarbonisierung zu verhandeln. Die Verhandlungen mit dem derzeitigen G20-Vorsitz Indonesien über einen beschleunigten Kohleausstieg erweisen sich dabei aber offenbar als schwierig.

Für Südafrika macht das 72-seitige Papier deutlich, wie der grüne Umbau das Land verändern soll: “Wenn erfolgreich durchgeführt, wird er die ökonomische Landschaft fundamental verändern, die Sicherheit der Stromversorgung garantieren, neue Beschäftigung bei erneuerbaren Energien generieren und den Gemeinschaften die nötige Unterstützung sichern, die vom Übergang betroffen sind”, schreiben die Autoren. Der Fokus liege dabei auf einem “systemischen Wandel und der Bekämpfung von Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit” im Land.

41 Milliarden für Energie, 13 Milliarden für grünen Wasserstoff

Geplant ist der Löwenanteil von 41 Milliarden für Infrastruktur im Strombereich, jeweils knapp vier Milliarden für E-Autos und als Strukturhilfen für die betroffenen Regionen und 13 Milliarden für den Aufbau einer grünen Wasserstoff-Industrie. Die Gesamtsumme sei “mehr als doppelt so viel wie die Klimafinanzierung”, die das Land derzeit bekommt. Es sei klar, dass diese Summen “nicht nur aus öffentlicher Finanzierung stammen können” und optimale Finanzierungsinstrumente brauche.

Der Plan soll die hohen Emissionen des Landes deutlich senken. Von den derzeit etwa 470 Millionen Tonnen CO₂ jährlich könne der Ausstoß bis 2030 auf “420 bis 350 Millionen Tonnen sinken, abhängig von der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.” Die Ziele dabei: “Die Dekarbonisierung beschleunigen, ein gerechter Übergang, um die Arbeiter zu schützen, das Defizit des nationalen Stromkonzerns Eskom zu managen, lokale Wertschöpfung zu sichern und technische Chancen” zu ergreifen.

Ein Kohleausstieg, so das Konzept, bringe “signifikante soziale und ökonomische Disruptionen” mit sich. Denn Südafrikas Wirtschaft ist abhängig von der Kohle, die trotz exzellenter Potenziale für Wind und Solarenergie bisher 80 Prozent des Strombedarfs deckt. “Südafrika hat die kohlenstoffintensivste Wirtschaft der großen Emittentenländer”, schreiben die Autoren, mit 0,6 Kilogramm CO₂-Ausstoß pro Dollar Bruttosozialprodukt (EU-Durchschnitt: 0,1 kg) und 40 Prozent aller afrikanischen CO₂-Emissionen. Gleichzeitig sei die soziale Ungleichheit extrem: 86 Prozent des Vermögens gehören zehn Prozent der Bevölkerung, 55 Prozent der Menschen leben in Armut, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 65 Prozent. Allein in der Kohle-Provinz Mpumalanga hängen laut Bericht 100.000 Jobs direkt an der Kohle.

Bislang fehlen noch 43 Milliarden bis 2027

Die Pläne zur Dekarbonisierung kommen zu einer Zeit, in der Südafrika sein Energiesystem erneuern muss: Die Kohleflotte des Landes von 39 Gigawatt Leistung ist alt, bis 2035 sollen 22 GW davon ohnehin stillgelegt werden. Gebraucht würden bis dahin 55 GW an Kapazitäten aus erneuerbarer Erzeugung. Dafür müssten sechs GW Solar- und Windstrom pro Jahr entstehen. Für die Energiewende bis 2035 kalkulieren die Autoren des Papiers mit jährlichen Investitionen von etwa 14 Milliarden Dollar pro Jahr, um “70 Prozent der Kohlekraftwerke stillzulegen, die Stromnetze zu stärken und auszubauen, den Bedarf an erneuerbarem Strom zu decken und den Verkehr zu elektrifizieren”.

Von den allein bis 2027 nötigen 61,8 Milliarden Dollar sind laut Bericht bisher 18,8 Milliarden gesichert – knapp acht Milliarden bislang von den westlichen Geberländern, sechs Milliarden aus dem südafrikanischen Budget und 4,8 Milliarden von internationalen Entwicklungsbanken. “Die Differenz zeigt die Größe der Finanzierungslücke”, heißt es lapidar: Bisher fehlen 43 Milliarden Dollar für die nächsten fünf Jahre. Private Investments sind dabei bislang nicht berücksichtigt.

Diese könnten aber den Aufbau der erneuerbaren Energien finanzieren, findet die Studie “Making Climate Capital Work”, erstellt von der südafrikanischen Blended Finance Taskforce und dem Centre for Sustainabiltiy Transitions der Stellenbosch University. Laut der Untersuchung benötigt Südafrika 250 Milliarden Dollar, zwei Drittel davon privates Kapital, über die nächsten 30 Jahre, um sein Energiesystem umzubauen – etwa drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts.  

Die Forderungen aus Südafrika liegen derzeit bei den Geberländern zur Begutachtung. Offenbar sind aber die USA noch nicht zufrieden. Am 15. September erklärte der US-Klimagesandte John Kerry, man warte auf die Vorschläge. “Es hängt an Präsident Ramaphosa, wir warten darauf, dass die südafrikanische Regierung einige Dinge auf den Tisch legt”, sagte Kerry bei einer Umweltministerkonferenz in Dakar. “Es wäre wunderbar, dies bis zur COP27 im November geschafft zu haben”, so Kerry. “Darauf hoffe ich, aber ich sage nicht, dass wir das schaffen.”

Erst Ende Mai hatte die britische Regierung angekündigt, man denke darüber nach, als Teil des JETP Garantien für Schulden Südafrikas in Höhe von einer Milliarde Dollar abzugeben.  

Die “Just Energy Transition Partnership” ist ein Flaggschiff der weltweiten Bemühungen um einen möglichst schnellen und sozial gerechten Ausstieg aus den fossilen Energien. Der Detailplan zu Südafrika soll auf der COP27 im ägyptischen Sharm el Sheikh im November veröffentlicht werden. Die Industriestaaten würden damit zumindest teilweise der Kritik begegnen, dass die ab 2020 versprochenen 100 Milliarden Dollar jährlicher Klimafinanzierung bisher noch nicht erreicht sind.

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China: Peking finanziert trotz Versprechen weiter Kohle im Ausland

Die Ankündigung in New York galt als Meilenstein im Klimaschutz: “China wird keine neuen Kohlekraftwerke mehr im Ausland bauen” – das sagte Xi Jinping bei der letzten UN-Vollversammlung zu. Die Volksrepublik war bis dahin der letzte große staatliche Geldgeber für Kohleprojekte. Die großen chinesischen Entwicklungsbanken hatten zwischen den Jahren 2000 und 2019 fast 52 Milliarden US-Dollar in 66 Kohlekraftwerke im Ausland gesteckt, nachdem westliche Entwicklungsbanken nach und nach aus dem Geschäft ausgestiegen waren (China.Table berichtete).

Doch ein Jahr später ist die Bilanz dieses Versprechens getrübt: Wegen Schlupflöchern und Graubereichen in der Regelung könnten offenbar 18 neue Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 19,2 Gigawatt weiterhin gebaut werden, obwohl sie Xis Worten widersprechen, wie eine Analyse des Think-Tanks Centre for Research on Energy and Clean Air zeigt. Die Kohlemeiler würden demnach circa 94 Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr verursachen. Einige dieser Kraftwerke sollen in Industrieparks gebaut werden, die im Zuge der Neuen Seidenstraße gefördert werden. Zudem werden Kraftwerke mit chinesischer Unterstützung erweitert und Projekte, die schon vor Xis Ankündigung beschlossen wurden, können auch noch realisiert werden.

Kraftwerke für Industrieparks werden weiterhin gebaut

Die Analyse zeigt Beispiele, wo China weiter Kohle finanziert: In Indonesien soll ein Kraftwerk in einem Industriepark gebaut werden und die Nickel- und Stahlindustrie versorgen. Erst am 14. Februar dieses Jahres wurde der Vertrag unterschrieben – gut fünf Monate nach Xis Ankündigung. Ein weiteres Industrie-Kohlekraftwerk in Indonesien soll mit chinesischer Ausrüstung erweitert werden, wie die CREA-Analyse zeigt.

In Laos hingegen wird ein schon vor Jahren beschlossenes Kohlekraftwerk gebaut, dessen Planung zwischenzeitlich unterbrochen war. Ein weiterer neuer Vertrag für ein Bauvorhaben wurde am 24. Mai 2022 unterschrieben. Auch dabei soll eine chinesische Firma Teile für den Bau liefern. Das 660 MW-Projekt wird offiziell als “Projekt zur Erzeugung von sauberer Energie” bezeichnet. Die veröffentlichten Informationen deuten laut CREA jedoch sehr stark auf ein Kohlekraftwerk hin.

Daneben ist China weiterhin bereit, bestehende Kohlekraftwerke im Ausland auf neue Emissionsstandards aufzurüsten. Das würde zwar den Ausstoß von Schwefel- und Stickstoffoxiden begrenzen und somit die Luftverschmutzung an den Kraftwerken verringern. Doch wenn die Kraftwerke durch die Modernisierung länger am Netz bleiben würden als ursprünglich geplant, könnten die CO₂-Emissionen insgesamt steigen, so die CREA-Analysten. Besonders bei alten Kraftwerken besteht dieses Risiko, beispielsweise in Indonesien und Indien, sagt Isabella Suarez von CREA.

Trotz dieser Schlupflöcher wird Xis Ankündigung allerdings noch immer als großer Meilenstein gesehen. Chinas Bauverbot für Kohlekraftwerke im Ausland “ist für den Klimaschutz und die Energiewende weltweit von enormer Bedeutung”, so Suarez gegenüber Climate.Table. Das hängt auch damit zusammen, dass andere Finanzierungsquellen immer stärker austrocknen.

Private Geldgeber sind wichtiger und ziehen sich zurück

China war zwar der letzte große staatliche Geldgeber. Doch auch vor Xis Ankündigung stammten 87 Prozent der öffentlichen und privaten Finanzierungen zum Bau von Kohlekraftwerken von außerhalb Chinas, wie Berechnungen des Global Development Policy Center der Universität Boston zeigen – “der Großteil von institutionellen Investoren und Geschäftsbanken aus Japan und westlichen Ländern”, wie Cecilia Springer, stellvertretende Direktorin der Global China Initiative der Universität Boston sagt.

“Viele private Geldgeber haben ihre eigenen Beschränkungen bei der Kohlefinanzierung eingeführt. Entwicklungsländer, die weiterhin Kohlekraftwerke bauen wollen, werden in Zukunft kaum noch Finanzierungsmöglichkeiten finden“, so die Expertin der Bostoner Universität. Hinzu kommt: Heizkessel, Dampfturbinen und Generatoren aus China haben einen großen Kostenvorteil gegenüber Angeboten aus anderen Weltregionen. Wenn dieses Equipment im Ausland nicht mehr verbaut werden darf, werden Kohlekraftwerke teurer und somit weniger wahrscheinlich, auch wenn private Geldgeber sie finanzieren würden.

Kaum chinesisches Geld für Gas, dafür Anstieg bei Erneuerbaren

Obwohl China selbst in Zukunft stärker auf Erdgas setzen will, gibt es laut Springer kaum Anzeichen für große Investitionen der chinesischen Entwicklungsbanken in Gas-Projekte im globalen Süden. “China hat bisher kaum Entwicklungsfinanzierungen für Gaskraftwerke bereitgestellt”, sagt Springer. Und es sei auch nicht mit einem Anstieg der Investitionen zu rechnen. Denn “Chinas heimische Erdgasindustrie ist klein und hat nicht die gleichen Anreize für eine globale Expansion wie Chinas heimische Kohle- und Wasserkraftindustrie.” Allerdings würden chinesische Firmen Auslandsdirektinvestitionen im Gassektor tätigen, was aber durch die Nachfrage der Gastländer bedingt sei und nicht durch strategische Interessen Chinas.

Auch in den nach Xis UN-Ankündigung überarbeiteten politischen Leitlinien für Finanzierungen und Investitionen im Ausland spielt Erdgas kaum eine Rolle, so Springer. Vielmehr würden dort die Erneuerbaren Energien betont. Denn auch Xi hatte in seiner UN-Rede hervorgehoben, “China wird die Unterstützung anderer Entwicklungsländer bei der Entwicklung grüner und kohlenstoffarmer Energien verstärken”.

Bisher haben sich Chinas Entwicklungsbanken im Bereich der Wind- und Solarenergie noch zurückgehalten. Sie haben “das Risiko der Finanzierbarkeit als zu hoch angesehen. Und die Nachfrage der Gastländer nach Erneuerbaren fehlte. Sie haben traditionelle Energiequellen bevorzugt”, sagt Springer. Doch die Wissenschaftlerin der Boston University ist optimistisch. Sollte China seine eigenen wirtschaftlichen Probleme bewältigen und wieder mehr Entwicklungsfinanzierungen bewilligen, werde es verstärkt in Erneuerbare Energien investieren.

Schon in den letzten Jahren waren Chinas Wind- und Solarfirmen mit Auslandsdirektinvestitionen in zahlreichen Wind- und Solarprojekten involviert. Sie haben den Großteil der durch China finanzierten 20 Gigawatt an Wind- und Solarkapazitäten finanziert. Auch Suarez ist optimistisch: “Wir gehen davon aus, dass die Anzahl von Erneuerbare-Energien-Projekten im Ausland steigen wird und systematisch verfolgt wird, wie es bei der Kohle der Fall war“.

China: Ärmere Staaten haben Recht auf fossile Energien

Wie schwierig es China fällt, die fossilen Energien hinter sich zu lassen, zeigt die gemeinsame Erklärung mit Russland und Indien beim Gipfel der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) am 15 und 16. September in Samarkand. Darin pochen die Mitglieder des wirtschafts- und sicherheitspolitischen Bündnisses, die zu den größten CO₂-Verursachern gehören, auf das Recht der Schwellenländer, Erdöl und -gas für ihre wirtschaftliche Entwicklung einzusetzen. Die SCO-Mitglieder fordern einen “ausgewogenen Ansatz zwischen der Emissionsreduzierung und der Entwicklung” der Staaten.

Die Staatenführer riefen zu verstärkten Investitionen in die Öl- und Gasförderung und -exploration auf. Sie widersprechen damit direkt Kalkulationen der Internationalen Energieagentur (IEA), die mahnt, zur Einhaltung der 1,5-Grad Ziels dürfe ab sofort weltweit keine neue fossile Infrastruktur gebaut werden.

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Termine

22. September, 14 Uhr, Pittsburgh
Veröffentlichung: Global Hydrogen Review der International Energy Agency
Der jährliche Bericht beschäftigt sich mit Nachfrage und Produktion von Wasserstoff weltweit. Dieses Jahr liegt der Fokus darauf, wie die Nachfrage nach Wasserstoff durch die Energiekrise und den Krieg in der Ukraine zugenommen hat.

22. September, 17-19 Uhr, online
Diskussion: Green Cities 2035: Welche Beteiligungskultur braucht das 1,5-Grad-Ziel?
Die Heinrich-Böll-Stiftung diskutiert mit dem Deutschen Institut für Urbanistik darüber, wie Partizipation in Zeiten der Klimakrise beim Thema Stadtgestaltung aussehen kann.

26. bis 28. September in Crains, Australien
Forum: The Standing Committee on Finance Forum on Finance for Nature-based Solutions (Part II)
In dem Forum der UNFCCC werden Lösungsansätze diskutiert, um die Finanzierungslücke für Nature-Based-Solutions zu schließen. Der zweite Teil des Forums baut auf die Ergebnisse des ersten Teils im vergangenen Jahr auf. INFOS

29. September, 19-21 Uhr, Berlin
Forum: Zur Zukunft der Energie- und Wärmeversorgung in Deutschland und Europa
Die Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet eine Diskussion zur aktuellen Energiekrise und den Zusammenhängen zum Klimaschutz. Mit dabei sind Vertreter von Vattenfall, Agora Energiewende und Mitglieder des Bundestags.

29. und 30. September, El Salvador
Konferenz: The second High-Level conference of the Global Geothermal Alliance (GGA)
Auf der Konferenz der International Renewable Energy Agency (IRENA) werden die Potenziale von Geothermie mit Bezug zum Klimawandel diskutiert.

30. September, 10-17 Uhr
Workshop: Wie geht gute Klimakommunikation?
Die Heinrich-Böll-Stiftung organisiert einen interaktiven Workshop mit Übungen und vier thematischen Blöcken zum Thema Klimakommunikation.

02. Oktober
Wahlen: Präsidentschaftswahlen in Brasilien
Lateinamerikas einwohnerstärkstes Land wählt einen neuen Präsidenten. Sollte im 1. Wahlgang niemand die absolute Mehrheit erreichen, finden am 30. Oktober Stichwahlen statt.

News

Guterres greift “PR-Maschinerie” der fossilen Industrie an

UN-Generalsekretär António Guterres hat bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung am Dienstag mit deutlichen Worten eine härtere Gangart gegenüber Unternehmen für fossile Brennstoffe gefordert. Dabei nahm er insbesondere den Finanzsektor und die “PR-Maschinerie” der Fossilindustrie in den Fokus seiner Kritik: “Banken, Private-Equity-Firmen, Vermögensverwalter und andere Finanzinstitute investieren weiterhin in die Kohlenstoffverschmutzung.” Wie schon Jahrzehnte zuvor für die Tabakindustrie hätten “Lobbyisten und Spin Doctors schädliche Fehlinformationen verbreitet”, so der Portugiese.

Ein am Montag veröffentlichter Bericht einer NGO listet über 200 Werbe- und PR-Unternehmen auf, die für die fossile Industrie tätig seien und “die Dringlichkeit der Klimakrise herunterspielen”. Auch die Wissenschaftler der Arbeitsgruppe 3 des sechsten IPCC-Reports stellten in ihrem im April erschienenen Beitrag fest, dass “eine ganze Reihe von Unternehmensvertretern versucht, den Klimaschutz durch gezielte Lobbyarbeit und zweifelhafte Medienstrategien zum Scheitern zu bringen“. Diese Unternehmen bildeten die Mehrheit der Organisationen, die sich gegen Klimaschutzmaßnahmen aussprechen, schreiben die IPCC-Autoren.

Angesichts dessen sei es Zeit für ein Eingreifen, um Produzenten fossiler Brennstoffe, Investoren und Förderer auf den Plan zu rufen, forderte Guterres. Man müsse die Unternehmen und ihre Unterstützer zur Rechenschaft ziehen: “Polluters must pay“, mahnte er – Verschmutzer müssen zahlen. Deshalb fordert der UN-Generalsekretär, dass Industrieländer die sogenannten Windfall-Profite der Brennstoffunternehmen künftig besteuern. Diese Zufallsgewinne sollten an Länder und Menschen weitergeben werden, die unter den Schäden der Klimakrise und den steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen am meisten leiden. luk

Die Ambitions-Lücke bleibt riesig

Auf der UN-Generalversammlung wird das Datum kaum eine Rolle spielen: Aber am 23. September wird wieder einmal eine Leistungsbilanz der UN-Staaten beim Klimaschutz gezogen. Bis dahin sollten die Länder ihre neuen und hoffentlich verbesserten Klimapläne NDC und ihre Langzeit-Projektionen beim Klimasekretariat UNFCCC einreichen. Das erstellt dann daraus einen Synthese-Bericht.

Diese ernüchternde Bilanz zeigt sich aber bereits hier:

Auch wenn die letzten Daten noch nicht eingeflossen sind, gelten nach Aussagen von Niklas Höhne vom “New Climate Institute”, das am Climate Action Tracker (CAT) mitarbeitet, auch für die Bilanz 2022 grundsätzlich noch die Daten und Tendenzen des Vorjahres: Demnach führt ein weiter-wie-bisher-Szenario zu einer Erwärmung von 2,5 bis 2,9 Grad Celsius in 2100. Werden alle angekündigten NDC umgesetzt, erhitzt sich die Erde “nur” auf 2,4 Grad. Und wenn alles getan wird, was bislang auch nur unverbindlich angekündigt wurde, erreicht die Erwärmung immerhin noch 2,1 Grad Celsius – und bleibt damit auch noch über den im Pariser Abkommen als Obergrenze postulierten “deutlich unter zwei Grad”.

Wichtig vor allem: Die riesige “Ambitions-Lücke” für 2030, weil sie mit Maßnahmen geschlossen werden müsste, die sofort greifen sollten. Bis 2030 müssten sich laut Wissenschaft die Treibhausgas-Emissionen weltweit praktisch halbieren, um auf den Pfad zu 1,5 Grad Erwärmung zu gelangen. Nach den bisherigen Plänen bläst die Weltgemeinschaft aber 2030 für dieses Zwischenziel immer noch 19 bis 23 Milliarden Tonnen Treibhausgase zu viel in die Luft.

Einen ganz kleinen Lichtblick gibt es dabei aber: Das umfangreiche Klimapaket, das die US-Regierung und der Kongress verabschiedet haben, (und das die Grafik noch nicht abbildet) reduziere diese Lücke “in der Größenordnung von etwa einer Milliarde Tonnen“, sagt Niklas Höhne. Wird das Gesetzespaket umgesetzt wie vorgesehen, verbessert das also die CO₂-Bilanz der USA und damit auch der Welt. Riesengroß bleibt die Lücke hin zu wirksamem Klimaschutz bislang aber trotzdem. bpo

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Fotovoltaik-Importe aus China steigen

Chinas Exporte von Solarmodulen nach Europa sind in diesem Jahr sprunghaft angestiegen. Von Januar bis Juli 2022 lieferten Hersteller des Landes Fotovoltaik-Module mit einer Gesamtkapazität von 51,5 Gigawatt nach Europa. Das seien 25,9 Prozent mehr als im gesamten Jahr 2021, berichtet das Wirtschaftsmagazin Caixin unter Berufung auf Daten des Energie-Beratungsunternehmens Infolink Consulting. Der Handel der chinesischen Fotovoltaikbranche mit Europa – einschließlich Ländern außerhalb der EU – machte demnach zwischen Januar und Juli 55 Prozent der gesamten Solarmodulexporte des Landes aus. Im Gesamtjahr 2021 hatte Europas Anteil bei 46 Prozent gelegen.

Diese Zahlen demonstrieren den rasanten Anstieg der Nachfrage nach alternativen Energiequellen in Europa. Wegen der Gasknappheit hat die EU im Mai angekündigt, ihre Solarkapazitäten bis 2025 mehr als zu verdoppeln und bis 2030 insgesamt 600 Gigawatt installierte Kapazität zu haben, mehr als viermal so viel wie Ende 2020. “Diese langfristigen, unterstützenden politischen Rahmenbedingungen halten Europa als größten Markt für chinesische Module aufrecht“, betonte Albert Hsieh von Infolink, in einer Studie.

Insgesamt liefert China laut Caixin über 80 Prozent der weltweiten Fotovoltaikprodukte. Es ist eine der wenigen Branchen, die weiter rasant wächst: Im ersten Halbjahr 2022 legte die Produktion von Fotovoltaikmodulen im Vergleich zum Vorjahr um 74,3 Prozent auf 78,6 Gigawatt zu. Die Produktion anderer Produkte in der Lieferkette – Polysilizium, Wafer und Zellen – stieg um über 45 Prozent.. Die chinesischen Unternehmen Jinko Power Technology, Trina Solar und Longi Green Energy Technology waren nach Angaben von Infolink im ersten Halbjahr die drei weltweit größten Lieferanten von Solarmodulen. ck

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Neues Verfahren misst CO₂-Gehalt von Bäumen

Forscher der gemeinnützigen Organisation CTRESS aus den USA haben nach eigenen Angaben ein Verfahren entwickelt, mit dem der Kohlenstoffgehalt von Bäumen bestimmt werden kann. So soll etwa verhindert werden, dass Bäume für Greenwashing genutzt werden können. Das Verfahren könnte die umstrittene CO₂-Kompensation durch Baumpflanzungen und die Anrechnung von “CO₂-Senken” für Kohlenstoffmärkte deutlich transparenter machen.

CTREES erstellt demnach eine erste digitale Plattform, mit der der Kohlenstoffgehalt jedes einzelnen Baumes auf der Erde mit absoluter Genauigkeit berechnet werden könne. “Der Übergang zur Kohlenstoffneutralität erfordert eine genaue Buchführung”, sagt Sassan Saatchi, Wissenschaftler am Jet Propulsion Laboratory der NASA. Zusammen mit einem Team von Wissenschaftlern und Dateningenieuren aus den USA, Brasilien, Dänemark und Frankreich hat er die Plattform entwickelt.

Um die Bemühungen um eine Kohlenstoffreduzierung wirklich bewerten zu können, benötigten die Akteure auf dem Markt und in der Politik ein globales, modernes Mess- und Überwachungssystem, sagt Saatchi. CTREES könne genau das.

Bislang habe eine solche Technologie den Kohlenstoffmärkten und den Klimapolitikern nur in begrenztem Umfang zur Verfügung gestanden. CTREES setzt auf einen Open-Source-Ansatz, der letztlich das Vertrauen in die Kohlenstoffmärkte weltweit stärken kann.

Die neue Plattform bietet präzise, KI-gestützte Satellitendaten. Länder, aber auch der Privatsektor und die Zivilgesellschaft, können damit sowohl die Kohlenstoffemissionen als auch den Kohlenstoffabbau aus allen Arten von Wäldern messen, melden und überprüfen. CTREES soll im November auf der COP27 vorgestellt werden. Nicola Kuhrt

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  • Greenwashing

Presseschau

Kommentar: Energieeffizienz sollte der Fokus europäischer Politik sein EURACTIV
Porträt von Yvon Chouinard, dem Gründer von Patagonia THE GUARDIAN
Hintergrund: Wie verändert sich der Nebel in San Francisco durch die Klimakrise NEW YORK TIMES
Analyse: Was kann man vom neuen britischen König in Sachen Klimaschutz erwarten? NEW YORK TIMES
Analyse: Welche Folgen hat das bisher vernachlässigter Wetterphänomen “La Niña”? BLOOMBERG
Zusammenhang zwischen Heizen mit Holz, EU-Subventionen und Klimaschutz, ZEIT
Hintergrundanalyse zu Wetterphänomen in Asien, die auch beschreibt, wie es zu den aktuellen Überschwemmungen in Pakistan kommen konnte CARBON BRIEF
Video: Kann man mehr Rinder halten und trotzdem weniger Methan produzieren? SPIEGEL
Recherche: Warum der Deutsche Nachhaltigkeitspreis hauptsächlich Greenwashing ist ZEIT
Hintergrund: Subarktische Wälder kurz vor dem Kipppunkt FINANCIAL TIMES

Standpunkt

Die Doppelmoral des Westens

Von Dirk Messner
Dirk Messner, Chef des Umweltbundesamtes.

Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird wie durch ein Brennglas deutlich, dass die gesamte Weltordnung ins Taumeln geraten ist: weil die Atommacht Russland kriegerisch und imperialistisch agiert, das Recht des Stärkeren mit Gewalt durchzusetzen versucht, gegen jede Idee einer regelbasierten Weltordnung.

Wenn Demokratie, Freiheit, Frieden und nachhaltige Entwicklung im Zeitalter globaler Vernetzung eine Zukunft haben sollen, muss Putins Eroberungskrieg zweifellos gestoppt werden. Doch die viel beschworene Zeitenwende geht weit über sicherheitspolitische Fragen hinaus. Nicht nur die Handlungsfähigkeit der Bundeswehr ist massiv eingeschränkt, auch unsere klima-, entwicklungs-, diplomatie- und wirtschaftsbezogenen Anstrengungen zugunsten einer Global Governance reichen nicht aus, um die immer dramatischeren Krisenkaskaden zu vermeiden.

Fest steht bei alledem eines: Die 2020er Jahre sind die entscheidende Dekade, insbesondere um den gefährlichen Klimawandel noch vermeiden zu können. Doch uns läuft die Zeit davon. Die Transformationen zur Klimaneutralität und zu nachhaltiger Entwicklung in den Grenzen des planetaren Systems, können nur gelingen, wenn weltweite Kooperation in diesen Feldern funktioniert und massiv vertieft wird. Daher ist, gerade jetzt, eine umfassendere Kraftanstrengung nötig, damit die gegenwärtige internationale Krisenkonstellation zu einer Katharsis, einer Neubesinnung führt, die die Chancen für internationale Kooperationsallianzen im 21. Jahrhundert erweitert und einen gefährlichen Zerfall der globalen Ordnung abwendet.

Kaskaden von Weltkrisen

Wir erleben in den letzten beiden Dekaden regelrechte Kaskaden von globalen Interdependenzkrisen – eine ernüchternde Bilanz: erst der Terrorangriff auf New York am 11. September 2001 und der folgende War on Terror in Afghanistan und Irak, dann 2008 bis 2009 die Internationale Finanzmarktkrise und ab 2015 Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa, die nur einen kleinen Teil der Flüchtlingsdynamiken in Ländern des globalen Südens ausmachen, und dazu (keinesfalls zufällig zeitgleich) nationalistisch-autoritäre Bewegungen in den Ländern des Westens (Trump, Orban, Le Pen), aber parallel dazu nationalistische Trends in China und Indien u.a., bei gleichzeitiger Schwächung und zuweilen gar Lähmung multilateraler Foren und Organisationen – und schließlich ab 2020 die Pandemie, die Ungleichheiten weltweit verstärkt und Fortschritte in der Armutsbekämpfung zunichtegemacht hat, und 2022 Russlands Angriff der Ukraine.

Wir haben die Globalisierungsdynamiken nicht im Griff. Im Gegenteil: Der Dauermodus der globalen Interdependenzkrisen wird von vielen Menschen als Kontrollverlust wahrgenommen und befeuert nationalistisch-autoritäre Bewegungen.

Von der regelbasierten Weltordnung vor der “Zeitenwende” zu sprechen, die es nun wieder herzustellen gelte, negiert diese strukturelle Fragilität einer internationalen Ordnung, die bisher den Dynamiken der global hochgradig vernetzten Ökonomien, Gesellschaften, und Ökosysteme nicht gerecht wird. Wir werden daher viel mehr und auf veränderte Art und Weise für globalen Austausch sorgen müssen, um “heil” durch das 21. Jahrhundert zu kommen.

Misstrauen gegen Europa und den Westen

Unsere westliche Wahrnehmung zum Russland-Krieg ist: Hier geht es um die Grundpfeiler der globalen Ordnung und des Völkerrechtes, das Recht der schwächeren Staaten gegenüber gewaltbereiten Großmächten, gar die Verhinderung eines Nuklearkrieges. Wenn wir in einer solchen Bedrohungslage weltweit nicht zusammenstehen, wann dann?

In relevanten Teilen der Welt wird der Ukrainekrieg jedoch weniger als potenziell globale Krise wahrgenommen, sondern oft mehr als ein Konflikt zwischen “Russland und dem Westen”.

Hinter dem Framing “Der Westen gegen Russland” verbirgt sich in vielen Regionen der Erde die Wahrnehmung: Ganz unschuldig kann der Westen an dem Desaster nicht sein; man traut uns also nicht recht über den Weg; im Gegenteil: Man misstraut uns.

Wir aber reagieren darauf ratlos: Wie kann es ein solches Bild nach 70 Jahren Entwicklungszusammenarbeit geben? Ist Europa nicht eine Vorzeigeregion einer gezähmten, sozialen, ökologischen Marktwirtschaft? Wir sind stolz auf den European Green Deal. Ist Europa nicht das erfolgreichste Friedensprojekt weltweit?  Wir müssen uns eingestehen: Im globalen Süden wird es zum Teil ganz anders gesehen.

Eurozentrismus: Green Deal ohne Afrika

Angesichts der Russland-Aggression argumentieren unsere Regierungen stets mit Verweis auf universalistische Prinzipien: Völkerrecht, Menschenrechte, Demokratie, Freiheit. Zurück kommt nicht selten der Vorwurf des Eurozentrismus.

Der eurozentrische Fokus zeigt sich z.B. bei dem EU-Flaggship, dem European Green Deal (EGD): Der EGD ist zweifellos ein anspruchsvolles green economy – Programm für Europa, doch hat die EU zunächst “vergessen”, dessen Auswirkungen mit dem Nachbarkontinent Afrika zu besprechen, um einen European-African Green Deal zu entwickeln. Der EGD impliziert in kurzer Frist: weniger Ressourcenimporte aus Afrika (zirkuläre Ökonomie), weniger fossile Energien aus afrikanischen Ländern (Klimaschutz). Was langfristig allen nützt, schafft dagegen kurzfristig signifikante Anpassungsprobleme in der Nachbarregion. Der Eurozentrismus der Europäer, so der Vorwurf, verstellt den Blick auf Wirkungen europäischer Politik auf die Lebensgrundlagen der AfrikanerInnen.

Scheinheiligkeit und Doppelmoral

Insbesondere wir Europäer halten uns für die größten Universalisten auf dem Planeten, während uns Beobachter aus dem globalen Süden Scheinheiligkeit und Doppelmoral -attestieren, oft hinter vorgehaltener Hand. Das Beispiel des Ukraine-Kriegs macht das besonders deutlich. “Das ist Euer Krieg, nicht unserer”, lautet der Vorwurf. “Habt ihr euch für den aktuellen Krieg im Jemen interessiert, in dem 250.000 Menschen gestorben sind, durch saudi-arabische Waffen, geliefert auch aus NATO-Staaten?” Dass Putin als Kriegsverbrecher vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden muss, wird durchaus als eine richtige Idee gesehen. Doch was ist mit dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg – wo waren laute Stimmen aus dem Westen, die gefordert hätten, Präsident Bush vor einen internationalen Gerichtshof zu stellen? Gleiches gilt für die Flüchtlingskrise: “Die habt ihr in Europa auch erst 2015 wahrgenommen, als Flüchtlinge in euren Städten auftauchten. Die über 90 Prozent der Flüchtlinge, die in armen Ländern beherbergt werden müssen, wurden lange und werden noch immer übersehen”.

Keine globale Fairness des Westens

Der Westen erwartet in der Ukraine Unterstützung von allen Seiten, doch bei zentralen Anliegen der ärmeren Länder, so ist oft zu hören, “liefert” er selbst nicht. Und lässt damit die erforderliche globale Fairness vermissen. Auch hier nur einige Beispiele: Während der Pandemie wurde die Bedeutung des globalen Gesundheitsschutzes vielfach betont – in den Sonntagsreden. Masken und Impfstoffe wurden zunächst im Westen verteilt – rich countries first. Die Hochemissionsländer des Westens haben in den vergangenen Dekaden den Klimaschutz vernachlässigt und verschleppt, dessen Folgen vor allem im Süden wirken. Umso irritierender, dass die 100 Milliarden Dollar für die Anpassungen an den Klimawandel in den Entwicklungsländern seit Jahren auf sich warten lassen. So entsteht der Eindruck: Die Entwicklungsländer kommen in vielen internationalen Organisationen aus ihrem Zweite-Klasse-Status nicht heraus.

Die Welt nicht aus Europas Brille sehen

Wir sind nicht gut darin, die Welt auch durch “die Augen der Anderen” zu betrachten. Man muss nicht alle Argumente, die für das Misstrauen gegenüber Europa und dem Westen angeführt werden, teilen, wir sollten aber sehr ernst nehmen, dass sie in vielen Ländern der Erde auf sehr fruchtbaren Boden fallen, und zwar nicht nur in den autoritären Gesellschaften. Vielleicht haben wir in der aktuellen großen Erschütterung der Weltordnung eine Chance, den Scheinwerfer auf Faktoren des Nicht-Gelingens globaler Kooperation zu werfen, die im Routinemodus internationaler Zusammenarbeit oft mit Geld zugedeckt und damit unsichtbar werden. Daraus könnten Chancen entstehen. Wir müssen dringend lernen, unseren europäischen Blick auf die Welt nicht automatisch mit globalen Gemeinwohlinteressen zu verwechseln.

Vor dem Hintergrund der skizzierten Vorbehalte gegenüber Europa bzw. dem Westen schlägt Finnlands Ex-Ministerpräsident Alexander Stubb in einem Twitter-Beitrag vor: “Anstatt den Rest der Welt aufzufordern, sich für eine Seite zu entscheiden, ist es vielleicht an der Zeit, sich zusammenzusetzen und darüber nachzudenken, wie eine neue Weltordnung, die auf gemeinsamen Regeln beruht, aussehen könnte? Schwierig? Ja. Unmöglich? Nein. Wahrscheinlich? Ich glaube nicht.” Wir sollten dem Rat von Alexander Stubbe folgen.

Dirk Messner ist Präsident des Umweltbundesamtes (UBA). Der Beitrag basiert auf einem Text, der in voller Länge im Juli 2022 in den “Blättern für deutsche und internationale Politik” veröffentlicht wurde.

  • Green Deal

Heads

Der neue UN-Klimachef Simon Stiell zwischen Diplomatie und Klimaschäden

22.09.22_DummyStiell
Simon Stiell: Seit August Chef des UN-Klimasekretariats.

An diese Wortspiele mit seinem Namen wird er sich gewöhnen: “Hier ist der neue Chef des UN-Klimasekretariats, Simon Stiell”, stellt der Moderator ihn auf Englisch bei einer UN-Diskussion am Montag vor, “und Junge, wir brauchen eine Menge Stahl (english: Steel) in diesem Spiel.”

Dabei ist er nun wirklich nicht stahlhart, der neue UN-Exekutivsekretär, der diese Woche seine ersten öffentlichen Auftritte absolviert. Im Gegenteil: Höflich, verbindlich, gut informiert, auf Kompromiss bedacht, so beschreiben Weggefährten den Mann von der Karibikinsel Grenada, der im August überraschend schnell zum Chef des UN-Klimasekretariats aufgestiegen ist. Der ehemalige Umweltminister von Grenada ist ein erfahrener Politiker und Klima-Verhandler. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie langsam die Klimadiplomatie arbeitet. Und nennt deshalb bei seinem kurzen Auftritt in New York auch als wichtigstes Wort für den Klimaprozess: “Schwung”.

Aussichten für die nächste COP sind “düster”

Der 1968 geborene, elegant gekleidete Stiell, mit Anzug und Glatze, bewegt sich sicher auf dem diplomatischen Parkett. Trotzdem liest er bei seinem ersten großen Auftritt im Saal der UN-Vollversammlung Sätze aus dem Manuskript vor, das er wie die anderen Diskutantinnen auf dem Schoß liegen hat. Er sagt all die Dinge über Dringlichkeit und Chancen des Klimaschutzes und über das Ärmel-Hochkrempeln, die ein UN-Klimachef von morgens bis abends sagen muss. Er warnt aber auch: Vor der anstehenden COP27 in Ägypten “sehen die Dinge düster aus”. Bis 2030 müssten die CO₂-Emissionen halbiert werden, das seien nur “noch zweimal Fußball-WM oder Olympische Spiele”. Stiell kennt die Emissions-Daten genau, er hat bei der letzten COP in Glasgow dazu die Verhandlungen geleitet. Deshalb dürfe es da auch “kein Zurückfallen” geben, warnt er. “Wir brauchen Fortschritt und eine klare Richtung” – der nächste Satz, den er demnächst wohl dauernd sagen wird.

So schnell Stiell ernannt wurde, so rar machte er sich in den ersten Wochen seines neuen Amts. Nach einer Vorstellung in der Bonner Zentrale des UN-Klimasekretariats setzt der neue UN-Chef vor allem auf stille Diplomatie hinter den Kulissen: Er reiste nach Ägypten, um die Gastgeber der COP zu treffen und spricht mit den wichtigen Akteuren weltweit. Er muss Allianzen schmieden, denn die Zeichen in der internationalen Debatte sehen wirklich “düster” aus, auch im Klima. Der russische Überfall auf die Ukraine, die Schuldenkrise vieler Entwicklungsländer, die Covid-Pandemie, der neue Kalte Krieg zwischen den CO₂-Supermächten China und USA mit der Aussetzung der Klimagespräche, all das belastet die Atmosphäre der Verhandlungen.

Dazu kommt: Die Industriestaaten haben ihre Verpflichtung zur Bereitstellung von 100 Milliarden Dollar jährlich ab 2020 nicht eingehalten und gehen auch bei der Reduktion der Treibhausgase nicht so schnell voran wie nötig. Darüber hinaus sträuben sie sich nach wie vor gegen einen Mechanismus zur Schadensregulierung (“Loss and Damage”), was schon bei der Zwischenkonferenz in Bonn zu schweren Spannungen geführt hat.

Stiells Heimat Grenada leidet unter “Verlust und Schäden”

Stiell will und muss über all diese Hindernisse Brücken bauen. Sein Hintergrund kann ihm dabei helfen: Er kommt von der Karibikinsel Grenada, wo seine Familie noch lebt. Nach seinen Amts-Vorgängerinnen Patricia Espinosa (Mexiko) und Christiana Figueres (Costa Rica) ist er bereits der dritte Klimachef aus Mittelamerika. Aber als Vertreter der “kleinen Inselstaaten” mit ihrer besonderen Anfälligkeit gegenüber Armut und Klimawandel bringt er die Erfahrung der verwundbarsten Menschen an die Verhandlungstische. Viele arme Länder, seine Heimat Grenada gehört dazu, sitzen in der Falle von Schulden und Sturmschäden. Stiell weiß ganz genau, wie der abstrakte Begriff “Loss and Damage” sich konkret anfühlt. Da ist es sicher kein Zufall, dass in der aufgeheizten Debatte darüber, die bei der COP27 zu einem explosiven Gemisch werden kann, der UN-Generalsekretär auf Simon Stiell gesetzt hat.

Stiell, der sich als “Familienmensch” beschreibt, ist in Großbritannien aufgewachsen. Weil sein Vater bei den britischen Streitkräften arbeitete, lebte er als Junge auch zwei Jahre in Deutschland – im westfälischen Lemgo, gar nicht so weit entfernt von seinem jetzigen Büro in Bonn. Stiell studierte Betriebswirtschaft und arbeitete bei Firmen wie Silicon-Valley-Start-ups oder Nokia. Später ging er in die Politik seines Heimatstaats: Wurde Abgeordneter im Parlament, Minister, unter anderem für Landwirtschaft, Tourismus und dann für Umwelt. Er kennt also viele Seiten der Klima-Debatte mit ihren ganz eigenen Zwängen: die internationale Diplomatie, die globale Wirtschaft, die nationale Politik.

Stiell sagt von sich, er sei Aktivist, aber nicht verbohrt: ein politischer Kopf durch und durch, aber offen für Kompromisse. Das schätzen auch Menschen, mit denen er in den letzten Jahren an den Klima-Verhandlungstischen gesessen hat. Sie beschreiben ihn als sach- und kompromissorientiert und als jemanden, der die Stimme der Verwundbarsten deutlich einbringt. Wie nötig das ist, zeigten die Begleitumstände bei seinem Auftritt am Montag: Während Stiell in New York auf dem Podium saß, zog der Wirbelsturm Fiona seine Spur der Verwüstung über das Gebiet Puerto Ricos. Bernhard Pötter

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Climate.Table Redaktion

REDAKTION CLIMATE.TABLE

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    • UN-Bericht zu Menschenrechten fordert radikalen Klimaschutz
    • Indien: Regierung legt Gesetz für Kohlenstoffmarkt vor
    • Südafrika: Kohleausstieg kostet jährlich 14 Milliarden Dollar
    • China: Peking finanziert trotz Versprechen weiter Kohle im Ausland
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    • Im Portrait: Der neue UN-Klimachef Simon Stiell 
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    die globale Klimaszene blickt in diesen Tagen nach New York. Bei der 77. UN-Generalversammlung drängt die Erdüberhitzung neben dem Ukrainekrieg auf der Tagesordnung. Niemand leugnet mehr: Die globale Klimakrise ist akut: Hitze und Dürre auf der Nordhalbkugel, Temperaturrekorde in Indien und Pakistan, dann die Flutkatastrophe in Pakistan und der aktuelle Hurrikan “Fiona” in Costa Rica zeigen: Das Thema lässt sich nicht mehr ignorieren.

    Deshalb präsentieren wir Ihnen gerade jetzt die erste Ausgabe des neuen Decision Brief Climate.Table. Denn die Auswirkungen der globalen Klimakrise bestimmen Ihre Entscheidungen zunehmend. Ab Mitte Oktober werden wir einmal wöchentlich Nachrichten, Hintergründe, Analysen, Meinungen und Daten zusammentragen, um Sie exklusiv und intensiv mit wichtigen Informationen rund um die globale Klimakrise zu versorgen. Wir bringen nicht nur die schnelle Nachricht, sondern wir analysieren, was sie bedeutet, vor welchem Hintergrund Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Entscheidungen treffen. Und wir helfen, aus der Flut an Informationen, die jeden Tag in Ihrer Mailbox landet, die wirklich relevanten herauszufiltern.

    Unser Blick ist wie die Krise: global. Wirtschafts-, Umwelt- und Energiepolitik sind nicht mehr national zu denken. Mit unserem Netz aus Korrespondentinnen und Korrespondenten schauen wir auf Entscheidungen und Entwicklungen in den wichtigen Märkten und den relevanten Ländern.

    In dieser ersten Ausgabe von Climate.Table stellen wir den radikalen Bericht des UN-Berichterstatters zu Menschenrechten im Klimawandel vor. Meine Kollegin Urmi Goswami schreibt aus Neu-Delhi über die wichtigen Schritte Indiens hin zu einem CO₂-Markt.

    Wir enthüllen, was eine sozial gerechte Energiewende im Kohleland Südafrika kosten soll und bilanzieren kritisch das Versprechen Chinas, keine neuen Kohlekraftwerke im Ausland zu bauen. Und der Präsident des deutschen Umweltbundesamts Dirk Messner debattiert bei uns die Frage, wie dringend nötige internationale Kooperation möglich sein soll in Zeiten von kalten und heißen Kriegen.

    Climate.Table – Das könnte für Sie, liebe Leserinnen und Leser, wie eine COP sein, einmal in jeder Woche. Mit all der multinationalen Perspektive, dem Drama und den bedeutungsvollen Entscheidungen dieser großen UN-Konferenzen – aber ohne den Frust, den Schlafmangel und die schlechte Laune, die mit den COPs oft einhergehen.

    Wir hoffen, Climate.Table findet Ihr Interesse. Melden Sie sich gern mit Kritik, Vorschlägen und Hinweisen auf Themen. Unsere Adresse dafür lautet climate@briefing.table.media.

    Und: Behalten Sie einen langen Atem!

    Ihr
    Bernhard Pötter
    Bild von Bernhard  Pötter

    Analyse

    UN-Bericht zu Menschenrechten fordert radikalen Klimaschutz

    Das Dokument birgt politischen Sprengstoff für die UN-Generalversammlung und den kommenden Klimagipfel in Sharm el Sheikh. In seinem ersten Report legt Ian Fry, der neue Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Menschenrechte im Kontext des Klimawandels brisante Forderungen vor, die unter den UN-Staaten höchst umstritten sind: unter anderem die Ächtung von fossilen Energien durch die UNO, eine schnelle und drastische Reduktion der CO₂-Emissionen, einen Hilfsfonds für Klimaschäden und Klima-Tribunale gegen Staaten und Unternehmen. Den Bericht hat UN-Generalsekretär António Guterres am 26. Juli an die Generalversammlung der Vereinten Nationen übermittelt.

    Fry schließt sich in seinem Bericht unter anderem der Forderung von Umweltgruppen und Entwicklungsländern an, es solle Ausgleichszahlungen für klimabedingte Verluste und Schäden (“Loss and Damage”, L&D) geben. Er benennt die Verantwortung der wohlhabenden Industriestaaten für die Klimakrise und das “enorme Unrecht”, das sie den Menschen in den ärmsten Ländern zufügen. Er erinnert daran, dass die Erderwärmung heute schon das Recht auf Leben von Millionen Menschen gefährdet, und drängt dazu, endlich schnell zu handeln.

    Loss-and-Damage-Fonds einrichten, ECT aufheben

    Konkret verlangt der Sonderberichterstatter unter anderem, die weltweiten Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu senken. Er hat aber auch klare politische Forderungen: Der Energy Charter Treaty (ECT), der es Investoren ermöglicht, gegen klimapolitische Entscheidungen von Staaten zu klagen, soll nach seinem Willen aufgehoben werden. Das hat einen realen Hintergrund: Erst vor kurzem wurde der italienische Staat in einem Prozess auf Grundlage des ECT dazu verurteilt, dem Ölkonzern Rockhopper eine Entschädigung in Höhe von 190 Millionen Euro plus Zinsen zu zahlen. Die Klimaszene und Klimadiplomaten befürchten, dass der ECT weitere Millionenklagen befördert. Sie würden Geld binden, das dringend für die die globale Transformation zu einer klimafreundlichen Welt gebraucht wird.

    Daneben fordert Fry eine UN-Resolution, um die weitere Ausbeutung von Öl-, Kohle- und Gasvorkommen zu ächten. Ein internationales Menschenrechtstribunal solle künftig Regierungen, Unternehmen und Finanzinstitutionen zur Verantwortung ziehen, die weiterhin in fossile Energien investieren und dadurch Menschenrechte verletzen. Ökozid, also die schwerwiegende Beschädigung oder Zerstörung der Natur, soll künftig ein eigener Straftatbestand vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) werden. Obwohl vor dem IStGH bereits einige Anzeigen gegen Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro wegen dieses und anderer Verbrechen vorliegen, ist der Ökozid bislang noch nicht als Vergehen in die Statuten des Gerichtshofs integriert.

    Schließlich soll für Fry die UN-Generalversammlung ein zentrales Thema angehen, das in den Klimaverhandlungen zwischen den Delegationen bislang kaum vorankommt: die Einrichtung eines Loss-and-Damage-Fonds, aus dem die Reparaturen von klimabedingten Schäden in besonders betroffenen Ländern bezahlt werden können – mit frischem Geld, finanziert durch die größten Emittenten. Diese Forderung hat Fry während eines Besuchs in Bangladesch Mitte September noch einmal wiederholt. Und besonders durch den Klimawandel gefährdete Gemeinden sollen die Möglichkeit erhalten, auf Entschädigung für die ihnen zugefügten Schäden zu klagen.

    Ungewöhnlich harte Forderungen eines UN-Beauftragten

    Viele dieser Forderungen wurden auch schon von Repräsentanten der verwundbarsten Länder und Menschenrechtsfachleute erhoben. Neu ist aber, dass nun jemand in einer solch herausgehobenen Position wie Fry sie in einer so klaren Sprache formuliert. Sébastien Duyck, Jurist im Klima- und Energieprogramm des Center for International Environmental Law (CIEL), hofft deshalb auf neue Impulse für die internationalen Klimaverhandlungen, insbesondere über Loss and Damage (L&D): “Der Bericht ist eine Chance auf einen breiteren Dialog. Die Zivilgesellschaft und betroffene Regierungen werden ihn nutzen, um stärker als bisher auf Fortschritte zu drängen.” Duyck hofft, dass durch die Autorität des Sonderberichterstatters im ewigen Streit um “Loss and Damage ” ein “neues Momentum für Lösungen” entsteht.

    Am 21. Oktober, wenige Tage vor dem Beginn des 27. UN-Klimagipfels COP27 im ägyptischen Sharm el Sheikh, wird Fry seinen Report offiziell vorstellen. Dann dürfte die Aufmerksamkeit für das Thema noch steigen.

    Fry, ein australischer Experte für internationales Umweltrecht und -politik, ist in der internationalen Klimaszene kein Unbekannter. Seine dreijährige Amtszeit als Sonderberichterstatter zum Schutz der Menschenrechte im Kontext des Klimawandels hat er im Mai 2022 begonnen. Aus seiner vorherigen Arbeit kennt er die existenzielle Bedrohung genau, die der Klimawandel gerade für besonders gefährdete Regionen wie die pazifischen Inselstaaten bedeutet. Er hält die klimabedingte Vertreibung für eine der größten menschenrechtlichen Bedrohungen der Gegenwart. Bevor er sein Amt antrat, arbeitete Fry zwei Jahrzehnte lang für die Regierung von Tuvalu und war 2015 bis 2019 ihr Botschafter für Klima und Umwelt. Auf den UN-Klimagipfeln, unter anderem 2015 in Paris, verhandelte er für die Pazifikstaaten und koordinierte die Arbeit der Delegationen der sogenannten Least Developed Countries (LDCs). Nebenbei unterrichtet er Umweltpolitik und Internationale Umweltpolitik an der Australian National University.

    Rechtlich nicht bindend, aber politisch brisant

    Frys Amt als UN-Sonderberichterstatter ist noch jung: Die Position wurde vom UN-Menschenrechtsrat erst am 8. Oktober 2021 geschaffen – dem gleichen Tag, an dem der Rat in einer Resolution das Recht aller Menschen anerkannte, in einer sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt zu leben. Im Juli 2022 erkannte auch die UN-Generalversammlung das Menschenrecht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt an.

    Rein rechtlich sind die Resolutionen der Vereinten Nationen für ihre Mitgliedsstaaten nicht bindend. Und bisher haben ähnliche Veröffentlichungen im Rahmen der UN wenig gebracht. So hatte David Boyd, der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Umwelt, gemeinsam mit anderen UN-Menschenrechtsfachleuten die Staaten der Welt schon im Jahr 2019 dazu aufgerufen, sich von fossilen Brennstoffen zu lösen. Zeitgleich verlangten mehrere UN-Menschenrechtsgremien, die Staaten müssten ihre klimaschädlichen Emissionen so radikal wie möglich senken. Passiert ist das nicht.

    Dennoch bezeichnet Boyd UN-Resolutionen als “ein Katalysator fürs Handeln”. Nachdem die Generalversammlung im Jahr 2010 zum Beispiel das Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung anerkannt habe, hätten einige Länder es in ihren Gesetzen und Verfassungen verankert. So befähigten UN-Resolutionen “normale Menschen, ihre Regierungen auf eine sehr wirkungsvolle Art zur Verantwortung zu ziehen.”

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    • Klimaschutz

    Indien: Regierung legt Gesetz für Kohlenstoffmarkt vor

    Indien hat die ersten Schritte zur Schaffung von Kohlenstoffmärkten unternommen. In diesem Sommer brachte die Regierung während der Monsun-Sitzung des Parlaments einen Gesetzentwurf zur Änderung des Energy Conservation Act (ECA) von 2001 ein, um eine rechtliche Grundlage für die Schaffung eines Kohlenstoffmarktes in Indien zu schaffen. Wie der Markt reguliert sein wird, ist darin allerdings noch nicht endgültig festgelegt – das Gesetz enthält dazu keine Einzelheiten. Auch ist noch unklar, ob es von Beginn an ein verpflichtender Markt sein soll oder ob die Teilnahme zuerst freiwillig sein soll.

    Im August stimmte das indische Unterhaus für die Verabschiedung des Energy Conservation (Amendment) Bill, 2022, die die Rechtsgrundlage für die Schaffung eines Kohlenstoffmarktes bildet. Das Gesetz muss noch vom Oberhaus verabschiedet werden, bevor es vom Präsidenten unterzeichnet werden kann. Das wird für November/Dezember in der Wintersitzung des Parlaments erwartet. Ein indischer Markt für CO2-Emissionen könnte somit frühestens Mitte 2023 funktionsfähig sein.

    Bekenntnis der Regierung zu Marktmechanismen

    Damit erkennt die indische Regierung – bei allen offenen Detailfragen – grundsätzlich an, dass Kohlenstoffhandel und die Märkte eine entscheidende Rolle bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft spielen können und werden. “Die Absicht Indiens ist lobenswert und signalisiert der Welt, dass wir effiziente Marktinstrumente einsetzen wollen”, sagt Karthik Ganesan vom Think-Tank Council on Energy, Environment and Water. Es gäbe in Indien bereits eine Kohlenstoffsteuer auf fossile Brennstoffe. Doch die habe wenig dazu beigetragen, grüne Alternativen voranzubringen.

    Die politischen Entscheidungsträger sind sich bewusst, dass Mechanismen wie der Emissionshandel und Quoten für nicht-fossile Brennstoffe zu einer schnelleren Dekarbonisierung der Wirtschaft führen werden und dazu beitragen, die Ziele für nachhaltige Entwicklung, Klima- und Umweltschutz zu erreichen. Dies wird in der “Erklärung und dem Zweck des Gesetzentwurfs” deutlich, mit der die Regierung ihren Gesetzentwurf begründet: “Es wird auch die Notwendigkeit gesehen, einen rechtlichen Rahmen für einen Kohlenstoffmarkt zu schaffen, um Anreize für Maßnahmen zur Emissionsreduzierung zu schaffen, die zu verstärkten Investitionen des Privatsektors in saubere Energie und Energieeffizienz führen”, heißt es.

    Noch ist allerdings unklar, welche Bestimmungen genau geplant sind. Auch wird noch diskutiert, welche Sektoren der indischen Wirtschaft betroffen sein werden – also ob etwa nur Bereiche wie Industrie und Stromerzeugung der Regelung unterliegen sollen, wie anfangs beim europäischen Emissionshandelssystem.

    Das System soll auf zwei bestehenden Regeln aufbauen

    Der vorgeschlagene Kohlenstoffmarkt wird sich auf zwei Markt-Mechanismen stützen, die es bereits gibt: Einerseits das PAT-System (Perform, Achieve, and Trade) für Energieeffizienz, das auf Energieeinsparungszertifikaten (ESCerts) basiert. Und andererseits auf den Zertifikaten für erneuerbare Energien (REC) zur Förderung erneuerbarer Energien und Abnahmeverpflichtungen für Öko-Energien. “Wir haben bereits einige Arten von Kohlenstoffmärkten”, sagte der Minister für Strom und erneuerbare Energien, Raj Kumar Singh, vor dem Parlament mit Bezug auf PAT und ESCerts. Der neue Mechanismus für den CO₂-Markt werde “all diese in einem einzigen System vereinen“.

    Wie genau das aussehen soll, darauf enthält der Gesetzentwurf allerdings keine Hinweise. Das soll in einem Entwurf für ein politisches Dokument geklärt werden, das derzeit ausgearbeitet wird. Einige erste Ideen für den vorgeschlagenen Markt können dem Entwurf des Nationalen Kohlenstoffmarktes entnommen werden, den das Büro für Energieeffizienz (BEE) im Oktober 2021 erstellt hat und zu dem die Interessengruppen Stellung nehmen und Beiträge liefern können.

    Der BEE-Entwurf schlägt die Entwicklung eines Kohlenstoffmarktes in drei Phasen vor: Phase 1 konzentriert sich auf die Steigerung der Nachfrage und die Verknüpfung der bisherigen Zertifikate mit dem freiwilligen Kohlenstoffmarkt. Phase 2 wird sich auf die Registrierung und Überprüfung von Projekten konzentrieren. In Phase 3 soll zu einem Cap-and-Trade-System übergegangen werden, bei dem Sektoren und Unternehmen bestimmte Emissionsquoten zugeteilt werden und der Handel damit ermöglicht wird.

    Offiziellen Quellen zufolge soll dieser Entwurf als Gesprächsgrundlage dienen, um die Probleme auf den Tisch zu bringen und die Lage zu verstehen. “Der BEE-Entwurf ist eine Möglichkeit, die Lehren aus diesen Mechanismen und den internationalen Erfahrungen mit Kohlenstoffmärkten zu ziehen und die Optionen zu prüfen, die Indien bei der Gestaltung seines nationalen Kohlenstoffmarktes zur Verfügung stehen”, sagte ein hoher Beamter.

    Erst freiwillig, dann verpflichtend?

    Hochrangige Regierungsbeamte, die an den Gesprächen beteiligt waren, erklärten, die Regierung stünde vor einer wichtigen Entscheidung: Gleich zu Beginn mit einem verpflichtenden Markt beginnen – oder erst einmal die Teilnahme freiwillig machen. Klar ist demnach allerdings, dass es keinen Handel mit Emissionsgutschriften ins Ausland geben solle. Der Minister für Strom und erneuerbare Energien Singh, sagte dazu im Parlament: “Die Emissionsgutschriften werden nicht exportiert. Daran besteht kein Zweifel. Wir sind uns dessen sehr bewusst. Diese Emissionsgutschriften müssen von der heimischen Industrie erzeugt und von der heimischen Industrie gekauft werden”. Zur Erläuterung der Beschränkung sagte Singh: “Wir sind auf der COP21 und der COP26 Verpflichtungen bezüglich unserer NDCs eingegangen. Solange wir diese Verpflichtungen nicht erfüllen, werden wir keinen Export von Emissionsgutschriften zulassen“. Allerdings fehlt bislang dazu noch eine klare Anordnung der Regierung.

    Payal Agarwal von der Unternehmensberatung Vinod Kothari & Company weist auf das Ertragspotenzial von Emissionsgutschriften hin. “Indien ist einer der größten Exporteure von Emissionsgutschriften in der Welt und hat ein hohes Potenzial, durch solche Exporte Devisen zu verdienen.” Laut einer Studie von Deloitte aus dem Jahr 2021 hat Indien das Potenzial, in den nächsten fünfzig Jahren wirtschaftliche Vorteile durch vermiedene Klimaschäden und den Export von Emissionsgutschriften in Höhe von etwa elf Billionen Dollar zu erzielen.

    Für viele Experten stellt die Beschränkung des Handels auf den heimischen Markt einen inakzeptablen Einnahmeverlust dar. Es gibt aber auch Befürworter der Idee. Kishore Butani, Programmleiter bei Universal Carbon Registry, einem indischen Kohlenstoffregister, bezeichnete den Vorschlag, den Kohlenstoffexport zu beschränken, als “klug”.

    Die Beschränkung, so Butani, gelte für Emissionsgutschriften der Jahre von 2013 bis 2020. “Wie in Glasgow vereinbart, beziehen sich die Gutschriften aus der Zeit vor 2021 auf die Gutschriften, die im Rahmen des CDM der UNFCCC im Zeitraum 2013-2020 erworben wurden; diese müssen vor 2030 verwendet werden und dürfen nur von einem Land auf seinem heimischen Kohlenstoffmarkt genutzt werden.

    “Dieses Verbot hindert indische Unternehmen daran, ihre vor 2021 im Rahmen des CDM ausgestellten Emissionsgutschriften an ausländische Märkte zu verkaufen, beispielsweise an den australischen oder chinesischen Kohlenstoffmarkt. Indien stellt sicher, dass es über ein ausreichendes Angebot von mehr als 200 Millionen CDM-Kohlenstoffgutschriften für den Zeitraum 2013-20 verfügt, um sie seinem eigenen Markt zur Verfügung zu stellen, und das ist fair”, sagte Butani. Urmi Goswami, Neu-Delhi

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    Südafrika: Kohleausstieg kostet jährlich 14 Milliarden Dollar

    Für die Dekarbonisierung einer Volkswirtschaft in einem “gerechten Übergang” gibt es jetzt zum ersten Mal ein Preisschild für den Kohleausstieg in einem wichtigen Schwellenland. Die schnelle Reduzierung der Kohlekraft in Südafrika, der Aufbau neuer Netze und erneuerbarer Energien und die soziale Abfederung der betroffenen Bevölkerung würden von 2023 bis 2027 insgesamt umgerechnet 61,8 Milliarden Dollar kosten. Das geht aus dem bisher noch unveröffentlichten Entwurf eines offiziellen Berichts der Regierung hervor, der jetzt der südafrikanischen “Klima-Kommission” und internationalen Geldgebern präsentiert wurde und Climate Table exklusiv vorliegt.

    Mit dieser Vorlage konkretisiert das Land mit den höchsten CO₂-Emissionen Afrikas seinen Klimaplan für die UNO (NDC). Gleichzeitig reagiert Südafrika auf ein Angebot von EU, USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Diese hatten bei der COP26 in Glasgow verkündet, sie würden insgesamt 8,5 Milliarden Dollar an Zuschüssen, Krediten oder Bürgschaften zur Verfügung stellen, um Südafrika bei einer schnelleren Dekarbonisierung zu unterstützen. Mit dieser “Just Energy Transition Partnership” (JETP) soll der grüne Umbau eines der wichtigsten CO₂-Emittenten gefördert werden.

    “Fundamentale Veränderung der ökonomischen Landschaft”

    Außerdem gilt das Projekt mit Südafrika als Muster, um auch anderen Schwellenländern aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu helfen: Die G7 haben im Juni bei ihrem Treffen in Elmau erklärt, auch mit Indien, Indonesien, Vietnam und Senegal über solche Partnerschaften zur Dekarbonisierung zu verhandeln. Die Verhandlungen mit dem derzeitigen G20-Vorsitz Indonesien über einen beschleunigten Kohleausstieg erweisen sich dabei aber offenbar als schwierig.

    Für Südafrika macht das 72-seitige Papier deutlich, wie der grüne Umbau das Land verändern soll: “Wenn erfolgreich durchgeführt, wird er die ökonomische Landschaft fundamental verändern, die Sicherheit der Stromversorgung garantieren, neue Beschäftigung bei erneuerbaren Energien generieren und den Gemeinschaften die nötige Unterstützung sichern, die vom Übergang betroffen sind”, schreiben die Autoren. Der Fokus liege dabei auf einem “systemischen Wandel und der Bekämpfung von Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit” im Land.

    41 Milliarden für Energie, 13 Milliarden für grünen Wasserstoff

    Geplant ist der Löwenanteil von 41 Milliarden für Infrastruktur im Strombereich, jeweils knapp vier Milliarden für E-Autos und als Strukturhilfen für die betroffenen Regionen und 13 Milliarden für den Aufbau einer grünen Wasserstoff-Industrie. Die Gesamtsumme sei “mehr als doppelt so viel wie die Klimafinanzierung”, die das Land derzeit bekommt. Es sei klar, dass diese Summen “nicht nur aus öffentlicher Finanzierung stammen können” und optimale Finanzierungsinstrumente brauche.

    Der Plan soll die hohen Emissionen des Landes deutlich senken. Von den derzeit etwa 470 Millionen Tonnen CO₂ jährlich könne der Ausstoß bis 2030 auf “420 bis 350 Millionen Tonnen sinken, abhängig von der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.” Die Ziele dabei: “Die Dekarbonisierung beschleunigen, ein gerechter Übergang, um die Arbeiter zu schützen, das Defizit des nationalen Stromkonzerns Eskom zu managen, lokale Wertschöpfung zu sichern und technische Chancen” zu ergreifen.

    Ein Kohleausstieg, so das Konzept, bringe “signifikante soziale und ökonomische Disruptionen” mit sich. Denn Südafrikas Wirtschaft ist abhängig von der Kohle, die trotz exzellenter Potenziale für Wind und Solarenergie bisher 80 Prozent des Strombedarfs deckt. “Südafrika hat die kohlenstoffintensivste Wirtschaft der großen Emittentenländer”, schreiben die Autoren, mit 0,6 Kilogramm CO₂-Ausstoß pro Dollar Bruttosozialprodukt (EU-Durchschnitt: 0,1 kg) und 40 Prozent aller afrikanischen CO₂-Emissionen. Gleichzeitig sei die soziale Ungleichheit extrem: 86 Prozent des Vermögens gehören zehn Prozent der Bevölkerung, 55 Prozent der Menschen leben in Armut, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 65 Prozent. Allein in der Kohle-Provinz Mpumalanga hängen laut Bericht 100.000 Jobs direkt an der Kohle.

    Bislang fehlen noch 43 Milliarden bis 2027

    Die Pläne zur Dekarbonisierung kommen zu einer Zeit, in der Südafrika sein Energiesystem erneuern muss: Die Kohleflotte des Landes von 39 Gigawatt Leistung ist alt, bis 2035 sollen 22 GW davon ohnehin stillgelegt werden. Gebraucht würden bis dahin 55 GW an Kapazitäten aus erneuerbarer Erzeugung. Dafür müssten sechs GW Solar- und Windstrom pro Jahr entstehen. Für die Energiewende bis 2035 kalkulieren die Autoren des Papiers mit jährlichen Investitionen von etwa 14 Milliarden Dollar pro Jahr, um “70 Prozent der Kohlekraftwerke stillzulegen, die Stromnetze zu stärken und auszubauen, den Bedarf an erneuerbarem Strom zu decken und den Verkehr zu elektrifizieren”.

    Von den allein bis 2027 nötigen 61,8 Milliarden Dollar sind laut Bericht bisher 18,8 Milliarden gesichert – knapp acht Milliarden bislang von den westlichen Geberländern, sechs Milliarden aus dem südafrikanischen Budget und 4,8 Milliarden von internationalen Entwicklungsbanken. “Die Differenz zeigt die Größe der Finanzierungslücke”, heißt es lapidar: Bisher fehlen 43 Milliarden Dollar für die nächsten fünf Jahre. Private Investments sind dabei bislang nicht berücksichtigt.

    Diese könnten aber den Aufbau der erneuerbaren Energien finanzieren, findet die Studie “Making Climate Capital Work”, erstellt von der südafrikanischen Blended Finance Taskforce und dem Centre for Sustainabiltiy Transitions der Stellenbosch University. Laut der Untersuchung benötigt Südafrika 250 Milliarden Dollar, zwei Drittel davon privates Kapital, über die nächsten 30 Jahre, um sein Energiesystem umzubauen – etwa drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts.  

    Die Forderungen aus Südafrika liegen derzeit bei den Geberländern zur Begutachtung. Offenbar sind aber die USA noch nicht zufrieden. Am 15. September erklärte der US-Klimagesandte John Kerry, man warte auf die Vorschläge. “Es hängt an Präsident Ramaphosa, wir warten darauf, dass die südafrikanische Regierung einige Dinge auf den Tisch legt”, sagte Kerry bei einer Umweltministerkonferenz in Dakar. “Es wäre wunderbar, dies bis zur COP27 im November geschafft zu haben”, so Kerry. “Darauf hoffe ich, aber ich sage nicht, dass wir das schaffen.”

    Erst Ende Mai hatte die britische Regierung angekündigt, man denke darüber nach, als Teil des JETP Garantien für Schulden Südafrikas in Höhe von einer Milliarde Dollar abzugeben.  

    Die “Just Energy Transition Partnership” ist ein Flaggschiff der weltweiten Bemühungen um einen möglichst schnellen und sozial gerechten Ausstieg aus den fossilen Energien. Der Detailplan zu Südafrika soll auf der COP27 im ägyptischen Sharm el Sheikh im November veröffentlicht werden. Die Industriestaaten würden damit zumindest teilweise der Kritik begegnen, dass die ab 2020 versprochenen 100 Milliarden Dollar jährlicher Klimafinanzierung bisher noch nicht erreicht sind.

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    China: Peking finanziert trotz Versprechen weiter Kohle im Ausland

    Die Ankündigung in New York galt als Meilenstein im Klimaschutz: “China wird keine neuen Kohlekraftwerke mehr im Ausland bauen” – das sagte Xi Jinping bei der letzten UN-Vollversammlung zu. Die Volksrepublik war bis dahin der letzte große staatliche Geldgeber für Kohleprojekte. Die großen chinesischen Entwicklungsbanken hatten zwischen den Jahren 2000 und 2019 fast 52 Milliarden US-Dollar in 66 Kohlekraftwerke im Ausland gesteckt, nachdem westliche Entwicklungsbanken nach und nach aus dem Geschäft ausgestiegen waren (China.Table berichtete).

    Doch ein Jahr später ist die Bilanz dieses Versprechens getrübt: Wegen Schlupflöchern und Graubereichen in der Regelung könnten offenbar 18 neue Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 19,2 Gigawatt weiterhin gebaut werden, obwohl sie Xis Worten widersprechen, wie eine Analyse des Think-Tanks Centre for Research on Energy and Clean Air zeigt. Die Kohlemeiler würden demnach circa 94 Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr verursachen. Einige dieser Kraftwerke sollen in Industrieparks gebaut werden, die im Zuge der Neuen Seidenstraße gefördert werden. Zudem werden Kraftwerke mit chinesischer Unterstützung erweitert und Projekte, die schon vor Xis Ankündigung beschlossen wurden, können auch noch realisiert werden.

    Kraftwerke für Industrieparks werden weiterhin gebaut

    Die Analyse zeigt Beispiele, wo China weiter Kohle finanziert: In Indonesien soll ein Kraftwerk in einem Industriepark gebaut werden und die Nickel- und Stahlindustrie versorgen. Erst am 14. Februar dieses Jahres wurde der Vertrag unterschrieben – gut fünf Monate nach Xis Ankündigung. Ein weiteres Industrie-Kohlekraftwerk in Indonesien soll mit chinesischer Ausrüstung erweitert werden, wie die CREA-Analyse zeigt.

    In Laos hingegen wird ein schon vor Jahren beschlossenes Kohlekraftwerk gebaut, dessen Planung zwischenzeitlich unterbrochen war. Ein weiterer neuer Vertrag für ein Bauvorhaben wurde am 24. Mai 2022 unterschrieben. Auch dabei soll eine chinesische Firma Teile für den Bau liefern. Das 660 MW-Projekt wird offiziell als “Projekt zur Erzeugung von sauberer Energie” bezeichnet. Die veröffentlichten Informationen deuten laut CREA jedoch sehr stark auf ein Kohlekraftwerk hin.

    Daneben ist China weiterhin bereit, bestehende Kohlekraftwerke im Ausland auf neue Emissionsstandards aufzurüsten. Das würde zwar den Ausstoß von Schwefel- und Stickstoffoxiden begrenzen und somit die Luftverschmutzung an den Kraftwerken verringern. Doch wenn die Kraftwerke durch die Modernisierung länger am Netz bleiben würden als ursprünglich geplant, könnten die CO₂-Emissionen insgesamt steigen, so die CREA-Analysten. Besonders bei alten Kraftwerken besteht dieses Risiko, beispielsweise in Indonesien und Indien, sagt Isabella Suarez von CREA.

    Trotz dieser Schlupflöcher wird Xis Ankündigung allerdings noch immer als großer Meilenstein gesehen. Chinas Bauverbot für Kohlekraftwerke im Ausland “ist für den Klimaschutz und die Energiewende weltweit von enormer Bedeutung”, so Suarez gegenüber Climate.Table. Das hängt auch damit zusammen, dass andere Finanzierungsquellen immer stärker austrocknen.

    Private Geldgeber sind wichtiger und ziehen sich zurück

    China war zwar der letzte große staatliche Geldgeber. Doch auch vor Xis Ankündigung stammten 87 Prozent der öffentlichen und privaten Finanzierungen zum Bau von Kohlekraftwerken von außerhalb Chinas, wie Berechnungen des Global Development Policy Center der Universität Boston zeigen – “der Großteil von institutionellen Investoren und Geschäftsbanken aus Japan und westlichen Ländern”, wie Cecilia Springer, stellvertretende Direktorin der Global China Initiative der Universität Boston sagt.

    “Viele private Geldgeber haben ihre eigenen Beschränkungen bei der Kohlefinanzierung eingeführt. Entwicklungsländer, die weiterhin Kohlekraftwerke bauen wollen, werden in Zukunft kaum noch Finanzierungsmöglichkeiten finden“, so die Expertin der Bostoner Universität. Hinzu kommt: Heizkessel, Dampfturbinen und Generatoren aus China haben einen großen Kostenvorteil gegenüber Angeboten aus anderen Weltregionen. Wenn dieses Equipment im Ausland nicht mehr verbaut werden darf, werden Kohlekraftwerke teurer und somit weniger wahrscheinlich, auch wenn private Geldgeber sie finanzieren würden.

    Kaum chinesisches Geld für Gas, dafür Anstieg bei Erneuerbaren

    Obwohl China selbst in Zukunft stärker auf Erdgas setzen will, gibt es laut Springer kaum Anzeichen für große Investitionen der chinesischen Entwicklungsbanken in Gas-Projekte im globalen Süden. “China hat bisher kaum Entwicklungsfinanzierungen für Gaskraftwerke bereitgestellt”, sagt Springer. Und es sei auch nicht mit einem Anstieg der Investitionen zu rechnen. Denn “Chinas heimische Erdgasindustrie ist klein und hat nicht die gleichen Anreize für eine globale Expansion wie Chinas heimische Kohle- und Wasserkraftindustrie.” Allerdings würden chinesische Firmen Auslandsdirektinvestitionen im Gassektor tätigen, was aber durch die Nachfrage der Gastländer bedingt sei und nicht durch strategische Interessen Chinas.

    Auch in den nach Xis UN-Ankündigung überarbeiteten politischen Leitlinien für Finanzierungen und Investitionen im Ausland spielt Erdgas kaum eine Rolle, so Springer. Vielmehr würden dort die Erneuerbaren Energien betont. Denn auch Xi hatte in seiner UN-Rede hervorgehoben, “China wird die Unterstützung anderer Entwicklungsländer bei der Entwicklung grüner und kohlenstoffarmer Energien verstärken”.

    Bisher haben sich Chinas Entwicklungsbanken im Bereich der Wind- und Solarenergie noch zurückgehalten. Sie haben “das Risiko der Finanzierbarkeit als zu hoch angesehen. Und die Nachfrage der Gastländer nach Erneuerbaren fehlte. Sie haben traditionelle Energiequellen bevorzugt”, sagt Springer. Doch die Wissenschaftlerin der Boston University ist optimistisch. Sollte China seine eigenen wirtschaftlichen Probleme bewältigen und wieder mehr Entwicklungsfinanzierungen bewilligen, werde es verstärkt in Erneuerbare Energien investieren.

    Schon in den letzten Jahren waren Chinas Wind- und Solarfirmen mit Auslandsdirektinvestitionen in zahlreichen Wind- und Solarprojekten involviert. Sie haben den Großteil der durch China finanzierten 20 Gigawatt an Wind- und Solarkapazitäten finanziert. Auch Suarez ist optimistisch: “Wir gehen davon aus, dass die Anzahl von Erneuerbare-Energien-Projekten im Ausland steigen wird und systematisch verfolgt wird, wie es bei der Kohle der Fall war“.

    China: Ärmere Staaten haben Recht auf fossile Energien

    Wie schwierig es China fällt, die fossilen Energien hinter sich zu lassen, zeigt die gemeinsame Erklärung mit Russland und Indien beim Gipfel der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) am 15 und 16. September in Samarkand. Darin pochen die Mitglieder des wirtschafts- und sicherheitspolitischen Bündnisses, die zu den größten CO₂-Verursachern gehören, auf das Recht der Schwellenländer, Erdöl und -gas für ihre wirtschaftliche Entwicklung einzusetzen. Die SCO-Mitglieder fordern einen “ausgewogenen Ansatz zwischen der Emissionsreduzierung und der Entwicklung” der Staaten.

    Die Staatenführer riefen zu verstärkten Investitionen in die Öl- und Gasförderung und -exploration auf. Sie widersprechen damit direkt Kalkulationen der Internationalen Energieagentur (IEA), die mahnt, zur Einhaltung der 1,5-Grad Ziels dürfe ab sofort weltweit keine neue fossile Infrastruktur gebaut werden.

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    Termine

    22. September, 14 Uhr, Pittsburgh
    Veröffentlichung: Global Hydrogen Review der International Energy Agency
    Der jährliche Bericht beschäftigt sich mit Nachfrage und Produktion von Wasserstoff weltweit. Dieses Jahr liegt der Fokus darauf, wie die Nachfrage nach Wasserstoff durch die Energiekrise und den Krieg in der Ukraine zugenommen hat.

    22. September, 17-19 Uhr, online
    Diskussion: Green Cities 2035: Welche Beteiligungskultur braucht das 1,5-Grad-Ziel?
    Die Heinrich-Böll-Stiftung diskutiert mit dem Deutschen Institut für Urbanistik darüber, wie Partizipation in Zeiten der Klimakrise beim Thema Stadtgestaltung aussehen kann.

    26. bis 28. September in Crains, Australien
    Forum: The Standing Committee on Finance Forum on Finance for Nature-based Solutions (Part II)
    In dem Forum der UNFCCC werden Lösungsansätze diskutiert, um die Finanzierungslücke für Nature-Based-Solutions zu schließen. Der zweite Teil des Forums baut auf die Ergebnisse des ersten Teils im vergangenen Jahr auf. INFOS

    29. September, 19-21 Uhr, Berlin
    Forum: Zur Zukunft der Energie- und Wärmeversorgung in Deutschland und Europa
    Die Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet eine Diskussion zur aktuellen Energiekrise und den Zusammenhängen zum Klimaschutz. Mit dabei sind Vertreter von Vattenfall, Agora Energiewende und Mitglieder des Bundestags.

    29. und 30. September, El Salvador
    Konferenz: The second High-Level conference of the Global Geothermal Alliance (GGA)
    Auf der Konferenz der International Renewable Energy Agency (IRENA) werden die Potenziale von Geothermie mit Bezug zum Klimawandel diskutiert.

    30. September, 10-17 Uhr
    Workshop: Wie geht gute Klimakommunikation?
    Die Heinrich-Böll-Stiftung organisiert einen interaktiven Workshop mit Übungen und vier thematischen Blöcken zum Thema Klimakommunikation.

    02. Oktober
    Wahlen: Präsidentschaftswahlen in Brasilien
    Lateinamerikas einwohnerstärkstes Land wählt einen neuen Präsidenten. Sollte im 1. Wahlgang niemand die absolute Mehrheit erreichen, finden am 30. Oktober Stichwahlen statt.

    News

    Guterres greift “PR-Maschinerie” der fossilen Industrie an

    UN-Generalsekretär António Guterres hat bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung am Dienstag mit deutlichen Worten eine härtere Gangart gegenüber Unternehmen für fossile Brennstoffe gefordert. Dabei nahm er insbesondere den Finanzsektor und die “PR-Maschinerie” der Fossilindustrie in den Fokus seiner Kritik: “Banken, Private-Equity-Firmen, Vermögensverwalter und andere Finanzinstitute investieren weiterhin in die Kohlenstoffverschmutzung.” Wie schon Jahrzehnte zuvor für die Tabakindustrie hätten “Lobbyisten und Spin Doctors schädliche Fehlinformationen verbreitet”, so der Portugiese.

    Ein am Montag veröffentlichter Bericht einer NGO listet über 200 Werbe- und PR-Unternehmen auf, die für die fossile Industrie tätig seien und “die Dringlichkeit der Klimakrise herunterspielen”. Auch die Wissenschaftler der Arbeitsgruppe 3 des sechsten IPCC-Reports stellten in ihrem im April erschienenen Beitrag fest, dass “eine ganze Reihe von Unternehmensvertretern versucht, den Klimaschutz durch gezielte Lobbyarbeit und zweifelhafte Medienstrategien zum Scheitern zu bringen“. Diese Unternehmen bildeten die Mehrheit der Organisationen, die sich gegen Klimaschutzmaßnahmen aussprechen, schreiben die IPCC-Autoren.

    Angesichts dessen sei es Zeit für ein Eingreifen, um Produzenten fossiler Brennstoffe, Investoren und Förderer auf den Plan zu rufen, forderte Guterres. Man müsse die Unternehmen und ihre Unterstützer zur Rechenschaft ziehen: “Polluters must pay“, mahnte er – Verschmutzer müssen zahlen. Deshalb fordert der UN-Generalsekretär, dass Industrieländer die sogenannten Windfall-Profite der Brennstoffunternehmen künftig besteuern. Diese Zufallsgewinne sollten an Länder und Menschen weitergeben werden, die unter den Schäden der Klimakrise und den steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen am meisten leiden. luk

    Die Ambitions-Lücke bleibt riesig

    Auf der UN-Generalversammlung wird das Datum kaum eine Rolle spielen: Aber am 23. September wird wieder einmal eine Leistungsbilanz der UN-Staaten beim Klimaschutz gezogen. Bis dahin sollten die Länder ihre neuen und hoffentlich verbesserten Klimapläne NDC und ihre Langzeit-Projektionen beim Klimasekretariat UNFCCC einreichen. Das erstellt dann daraus einen Synthese-Bericht.

    Diese ernüchternde Bilanz zeigt sich aber bereits hier:

    Auch wenn die letzten Daten noch nicht eingeflossen sind, gelten nach Aussagen von Niklas Höhne vom “New Climate Institute”, das am Climate Action Tracker (CAT) mitarbeitet, auch für die Bilanz 2022 grundsätzlich noch die Daten und Tendenzen des Vorjahres: Demnach führt ein weiter-wie-bisher-Szenario zu einer Erwärmung von 2,5 bis 2,9 Grad Celsius in 2100. Werden alle angekündigten NDC umgesetzt, erhitzt sich die Erde “nur” auf 2,4 Grad. Und wenn alles getan wird, was bislang auch nur unverbindlich angekündigt wurde, erreicht die Erwärmung immerhin noch 2,1 Grad Celsius – und bleibt damit auch noch über den im Pariser Abkommen als Obergrenze postulierten “deutlich unter zwei Grad”.

    Wichtig vor allem: Die riesige “Ambitions-Lücke” für 2030, weil sie mit Maßnahmen geschlossen werden müsste, die sofort greifen sollten. Bis 2030 müssten sich laut Wissenschaft die Treibhausgas-Emissionen weltweit praktisch halbieren, um auf den Pfad zu 1,5 Grad Erwärmung zu gelangen. Nach den bisherigen Plänen bläst die Weltgemeinschaft aber 2030 für dieses Zwischenziel immer noch 19 bis 23 Milliarden Tonnen Treibhausgase zu viel in die Luft.

    Einen ganz kleinen Lichtblick gibt es dabei aber: Das umfangreiche Klimapaket, das die US-Regierung und der Kongress verabschiedet haben, (und das die Grafik noch nicht abbildet) reduziere diese Lücke “in der Größenordnung von etwa einer Milliarde Tonnen“, sagt Niklas Höhne. Wird das Gesetzespaket umgesetzt wie vorgesehen, verbessert das also die CO₂-Bilanz der USA und damit auch der Welt. Riesengroß bleibt die Lücke hin zu wirksamem Klimaschutz bislang aber trotzdem. bpo

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    • Klimawandel

    Fotovoltaik-Importe aus China steigen

    Chinas Exporte von Solarmodulen nach Europa sind in diesem Jahr sprunghaft angestiegen. Von Januar bis Juli 2022 lieferten Hersteller des Landes Fotovoltaik-Module mit einer Gesamtkapazität von 51,5 Gigawatt nach Europa. Das seien 25,9 Prozent mehr als im gesamten Jahr 2021, berichtet das Wirtschaftsmagazin Caixin unter Berufung auf Daten des Energie-Beratungsunternehmens Infolink Consulting. Der Handel der chinesischen Fotovoltaikbranche mit Europa – einschließlich Ländern außerhalb der EU – machte demnach zwischen Januar und Juli 55 Prozent der gesamten Solarmodulexporte des Landes aus. Im Gesamtjahr 2021 hatte Europas Anteil bei 46 Prozent gelegen.

    Diese Zahlen demonstrieren den rasanten Anstieg der Nachfrage nach alternativen Energiequellen in Europa. Wegen der Gasknappheit hat die EU im Mai angekündigt, ihre Solarkapazitäten bis 2025 mehr als zu verdoppeln und bis 2030 insgesamt 600 Gigawatt installierte Kapazität zu haben, mehr als viermal so viel wie Ende 2020. “Diese langfristigen, unterstützenden politischen Rahmenbedingungen halten Europa als größten Markt für chinesische Module aufrecht“, betonte Albert Hsieh von Infolink, in einer Studie.

    Insgesamt liefert China laut Caixin über 80 Prozent der weltweiten Fotovoltaikprodukte. Es ist eine der wenigen Branchen, die weiter rasant wächst: Im ersten Halbjahr 2022 legte die Produktion von Fotovoltaikmodulen im Vergleich zum Vorjahr um 74,3 Prozent auf 78,6 Gigawatt zu. Die Produktion anderer Produkte in der Lieferkette – Polysilizium, Wafer und Zellen – stieg um über 45 Prozent.. Die chinesischen Unternehmen Jinko Power Technology, Trina Solar und Longi Green Energy Technology waren nach Angaben von Infolink im ersten Halbjahr die drei weltweit größten Lieferanten von Solarmodulen. ck

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    Neues Verfahren misst CO₂-Gehalt von Bäumen

    Forscher der gemeinnützigen Organisation CTRESS aus den USA haben nach eigenen Angaben ein Verfahren entwickelt, mit dem der Kohlenstoffgehalt von Bäumen bestimmt werden kann. So soll etwa verhindert werden, dass Bäume für Greenwashing genutzt werden können. Das Verfahren könnte die umstrittene CO₂-Kompensation durch Baumpflanzungen und die Anrechnung von “CO₂-Senken” für Kohlenstoffmärkte deutlich transparenter machen.

    CTREES erstellt demnach eine erste digitale Plattform, mit der der Kohlenstoffgehalt jedes einzelnen Baumes auf der Erde mit absoluter Genauigkeit berechnet werden könne. “Der Übergang zur Kohlenstoffneutralität erfordert eine genaue Buchführung”, sagt Sassan Saatchi, Wissenschaftler am Jet Propulsion Laboratory der NASA. Zusammen mit einem Team von Wissenschaftlern und Dateningenieuren aus den USA, Brasilien, Dänemark und Frankreich hat er die Plattform entwickelt.

    Um die Bemühungen um eine Kohlenstoffreduzierung wirklich bewerten zu können, benötigten die Akteure auf dem Markt und in der Politik ein globales, modernes Mess- und Überwachungssystem, sagt Saatchi. CTREES könne genau das.

    Bislang habe eine solche Technologie den Kohlenstoffmärkten und den Klimapolitikern nur in begrenztem Umfang zur Verfügung gestanden. CTREES setzt auf einen Open-Source-Ansatz, der letztlich das Vertrauen in die Kohlenstoffmärkte weltweit stärken kann.

    Die neue Plattform bietet präzise, KI-gestützte Satellitendaten. Länder, aber auch der Privatsektor und die Zivilgesellschaft, können damit sowohl die Kohlenstoffemissionen als auch den Kohlenstoffabbau aus allen Arten von Wäldern messen, melden und überprüfen. CTREES soll im November auf der COP27 vorgestellt werden. Nicola Kuhrt

    • COP27
    • Greenwashing

    Presseschau

    Kommentar: Energieeffizienz sollte der Fokus europäischer Politik sein EURACTIV
    Porträt von Yvon Chouinard, dem Gründer von Patagonia THE GUARDIAN
    Hintergrund: Wie verändert sich der Nebel in San Francisco durch die Klimakrise NEW YORK TIMES
    Analyse: Was kann man vom neuen britischen König in Sachen Klimaschutz erwarten? NEW YORK TIMES
    Analyse: Welche Folgen hat das bisher vernachlässigter Wetterphänomen “La Niña”? BLOOMBERG
    Zusammenhang zwischen Heizen mit Holz, EU-Subventionen und Klimaschutz, ZEIT
    Hintergrundanalyse zu Wetterphänomen in Asien, die auch beschreibt, wie es zu den aktuellen Überschwemmungen in Pakistan kommen konnte CARBON BRIEF
    Video: Kann man mehr Rinder halten und trotzdem weniger Methan produzieren? SPIEGEL
    Recherche: Warum der Deutsche Nachhaltigkeitspreis hauptsächlich Greenwashing ist ZEIT
    Hintergrund: Subarktische Wälder kurz vor dem Kipppunkt FINANCIAL TIMES

    Standpunkt

    Die Doppelmoral des Westens

    Von Dirk Messner
    Dirk Messner, Chef des Umweltbundesamtes.

    Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird wie durch ein Brennglas deutlich, dass die gesamte Weltordnung ins Taumeln geraten ist: weil die Atommacht Russland kriegerisch und imperialistisch agiert, das Recht des Stärkeren mit Gewalt durchzusetzen versucht, gegen jede Idee einer regelbasierten Weltordnung.

    Wenn Demokratie, Freiheit, Frieden und nachhaltige Entwicklung im Zeitalter globaler Vernetzung eine Zukunft haben sollen, muss Putins Eroberungskrieg zweifellos gestoppt werden. Doch die viel beschworene Zeitenwende geht weit über sicherheitspolitische Fragen hinaus. Nicht nur die Handlungsfähigkeit der Bundeswehr ist massiv eingeschränkt, auch unsere klima-, entwicklungs-, diplomatie- und wirtschaftsbezogenen Anstrengungen zugunsten einer Global Governance reichen nicht aus, um die immer dramatischeren Krisenkaskaden zu vermeiden.

    Fest steht bei alledem eines: Die 2020er Jahre sind die entscheidende Dekade, insbesondere um den gefährlichen Klimawandel noch vermeiden zu können. Doch uns läuft die Zeit davon. Die Transformationen zur Klimaneutralität und zu nachhaltiger Entwicklung in den Grenzen des planetaren Systems, können nur gelingen, wenn weltweite Kooperation in diesen Feldern funktioniert und massiv vertieft wird. Daher ist, gerade jetzt, eine umfassendere Kraftanstrengung nötig, damit die gegenwärtige internationale Krisenkonstellation zu einer Katharsis, einer Neubesinnung führt, die die Chancen für internationale Kooperationsallianzen im 21. Jahrhundert erweitert und einen gefährlichen Zerfall der globalen Ordnung abwendet.

    Kaskaden von Weltkrisen

    Wir erleben in den letzten beiden Dekaden regelrechte Kaskaden von globalen Interdependenzkrisen – eine ernüchternde Bilanz: erst der Terrorangriff auf New York am 11. September 2001 und der folgende War on Terror in Afghanistan und Irak, dann 2008 bis 2009 die Internationale Finanzmarktkrise und ab 2015 Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa, die nur einen kleinen Teil der Flüchtlingsdynamiken in Ländern des globalen Südens ausmachen, und dazu (keinesfalls zufällig zeitgleich) nationalistisch-autoritäre Bewegungen in den Ländern des Westens (Trump, Orban, Le Pen), aber parallel dazu nationalistische Trends in China und Indien u.a., bei gleichzeitiger Schwächung und zuweilen gar Lähmung multilateraler Foren und Organisationen – und schließlich ab 2020 die Pandemie, die Ungleichheiten weltweit verstärkt und Fortschritte in der Armutsbekämpfung zunichtegemacht hat, und 2022 Russlands Angriff der Ukraine.

    Wir haben die Globalisierungsdynamiken nicht im Griff. Im Gegenteil: Der Dauermodus der globalen Interdependenzkrisen wird von vielen Menschen als Kontrollverlust wahrgenommen und befeuert nationalistisch-autoritäre Bewegungen.

    Von der regelbasierten Weltordnung vor der “Zeitenwende” zu sprechen, die es nun wieder herzustellen gelte, negiert diese strukturelle Fragilität einer internationalen Ordnung, die bisher den Dynamiken der global hochgradig vernetzten Ökonomien, Gesellschaften, und Ökosysteme nicht gerecht wird. Wir werden daher viel mehr und auf veränderte Art und Weise für globalen Austausch sorgen müssen, um “heil” durch das 21. Jahrhundert zu kommen.

    Misstrauen gegen Europa und den Westen

    Unsere westliche Wahrnehmung zum Russland-Krieg ist: Hier geht es um die Grundpfeiler der globalen Ordnung und des Völkerrechtes, das Recht der schwächeren Staaten gegenüber gewaltbereiten Großmächten, gar die Verhinderung eines Nuklearkrieges. Wenn wir in einer solchen Bedrohungslage weltweit nicht zusammenstehen, wann dann?

    In relevanten Teilen der Welt wird der Ukrainekrieg jedoch weniger als potenziell globale Krise wahrgenommen, sondern oft mehr als ein Konflikt zwischen “Russland und dem Westen”.

    Hinter dem Framing “Der Westen gegen Russland” verbirgt sich in vielen Regionen der Erde die Wahrnehmung: Ganz unschuldig kann der Westen an dem Desaster nicht sein; man traut uns also nicht recht über den Weg; im Gegenteil: Man misstraut uns.

    Wir aber reagieren darauf ratlos: Wie kann es ein solches Bild nach 70 Jahren Entwicklungszusammenarbeit geben? Ist Europa nicht eine Vorzeigeregion einer gezähmten, sozialen, ökologischen Marktwirtschaft? Wir sind stolz auf den European Green Deal. Ist Europa nicht das erfolgreichste Friedensprojekt weltweit?  Wir müssen uns eingestehen: Im globalen Süden wird es zum Teil ganz anders gesehen.

    Eurozentrismus: Green Deal ohne Afrika

    Angesichts der Russland-Aggression argumentieren unsere Regierungen stets mit Verweis auf universalistische Prinzipien: Völkerrecht, Menschenrechte, Demokratie, Freiheit. Zurück kommt nicht selten der Vorwurf des Eurozentrismus.

    Der eurozentrische Fokus zeigt sich z.B. bei dem EU-Flaggship, dem European Green Deal (EGD): Der EGD ist zweifellos ein anspruchsvolles green economy – Programm für Europa, doch hat die EU zunächst “vergessen”, dessen Auswirkungen mit dem Nachbarkontinent Afrika zu besprechen, um einen European-African Green Deal zu entwickeln. Der EGD impliziert in kurzer Frist: weniger Ressourcenimporte aus Afrika (zirkuläre Ökonomie), weniger fossile Energien aus afrikanischen Ländern (Klimaschutz). Was langfristig allen nützt, schafft dagegen kurzfristig signifikante Anpassungsprobleme in der Nachbarregion. Der Eurozentrismus der Europäer, so der Vorwurf, verstellt den Blick auf Wirkungen europäischer Politik auf die Lebensgrundlagen der AfrikanerInnen.

    Scheinheiligkeit und Doppelmoral

    Insbesondere wir Europäer halten uns für die größten Universalisten auf dem Planeten, während uns Beobachter aus dem globalen Süden Scheinheiligkeit und Doppelmoral -attestieren, oft hinter vorgehaltener Hand. Das Beispiel des Ukraine-Kriegs macht das besonders deutlich. “Das ist Euer Krieg, nicht unserer”, lautet der Vorwurf. “Habt ihr euch für den aktuellen Krieg im Jemen interessiert, in dem 250.000 Menschen gestorben sind, durch saudi-arabische Waffen, geliefert auch aus NATO-Staaten?” Dass Putin als Kriegsverbrecher vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden muss, wird durchaus als eine richtige Idee gesehen. Doch was ist mit dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg – wo waren laute Stimmen aus dem Westen, die gefordert hätten, Präsident Bush vor einen internationalen Gerichtshof zu stellen? Gleiches gilt für die Flüchtlingskrise: “Die habt ihr in Europa auch erst 2015 wahrgenommen, als Flüchtlinge in euren Städten auftauchten. Die über 90 Prozent der Flüchtlinge, die in armen Ländern beherbergt werden müssen, wurden lange und werden noch immer übersehen”.

    Keine globale Fairness des Westens

    Der Westen erwartet in der Ukraine Unterstützung von allen Seiten, doch bei zentralen Anliegen der ärmeren Länder, so ist oft zu hören, “liefert” er selbst nicht. Und lässt damit die erforderliche globale Fairness vermissen. Auch hier nur einige Beispiele: Während der Pandemie wurde die Bedeutung des globalen Gesundheitsschutzes vielfach betont – in den Sonntagsreden. Masken und Impfstoffe wurden zunächst im Westen verteilt – rich countries first. Die Hochemissionsländer des Westens haben in den vergangenen Dekaden den Klimaschutz vernachlässigt und verschleppt, dessen Folgen vor allem im Süden wirken. Umso irritierender, dass die 100 Milliarden Dollar für die Anpassungen an den Klimawandel in den Entwicklungsländern seit Jahren auf sich warten lassen. So entsteht der Eindruck: Die Entwicklungsländer kommen in vielen internationalen Organisationen aus ihrem Zweite-Klasse-Status nicht heraus.

    Die Welt nicht aus Europas Brille sehen

    Wir sind nicht gut darin, die Welt auch durch “die Augen der Anderen” zu betrachten. Man muss nicht alle Argumente, die für das Misstrauen gegenüber Europa und dem Westen angeführt werden, teilen, wir sollten aber sehr ernst nehmen, dass sie in vielen Ländern der Erde auf sehr fruchtbaren Boden fallen, und zwar nicht nur in den autoritären Gesellschaften. Vielleicht haben wir in der aktuellen großen Erschütterung der Weltordnung eine Chance, den Scheinwerfer auf Faktoren des Nicht-Gelingens globaler Kooperation zu werfen, die im Routinemodus internationaler Zusammenarbeit oft mit Geld zugedeckt und damit unsichtbar werden. Daraus könnten Chancen entstehen. Wir müssen dringend lernen, unseren europäischen Blick auf die Welt nicht automatisch mit globalen Gemeinwohlinteressen zu verwechseln.

    Vor dem Hintergrund der skizzierten Vorbehalte gegenüber Europa bzw. dem Westen schlägt Finnlands Ex-Ministerpräsident Alexander Stubb in einem Twitter-Beitrag vor: “Anstatt den Rest der Welt aufzufordern, sich für eine Seite zu entscheiden, ist es vielleicht an der Zeit, sich zusammenzusetzen und darüber nachzudenken, wie eine neue Weltordnung, die auf gemeinsamen Regeln beruht, aussehen könnte? Schwierig? Ja. Unmöglich? Nein. Wahrscheinlich? Ich glaube nicht.” Wir sollten dem Rat von Alexander Stubbe folgen.

    Dirk Messner ist Präsident des Umweltbundesamtes (UBA). Der Beitrag basiert auf einem Text, der in voller Länge im Juli 2022 in den “Blättern für deutsche und internationale Politik” veröffentlicht wurde.

    • Green Deal

    Heads

    Der neue UN-Klimachef Simon Stiell zwischen Diplomatie und Klimaschäden

    22.09.22_DummyStiell
    Simon Stiell: Seit August Chef des UN-Klimasekretariats.

    An diese Wortspiele mit seinem Namen wird er sich gewöhnen: “Hier ist der neue Chef des UN-Klimasekretariats, Simon Stiell”, stellt der Moderator ihn auf Englisch bei einer UN-Diskussion am Montag vor, “und Junge, wir brauchen eine Menge Stahl (english: Steel) in diesem Spiel.”

    Dabei ist er nun wirklich nicht stahlhart, der neue UN-Exekutivsekretär, der diese Woche seine ersten öffentlichen Auftritte absolviert. Im Gegenteil: Höflich, verbindlich, gut informiert, auf Kompromiss bedacht, so beschreiben Weggefährten den Mann von der Karibikinsel Grenada, der im August überraschend schnell zum Chef des UN-Klimasekretariats aufgestiegen ist. Der ehemalige Umweltminister von Grenada ist ein erfahrener Politiker und Klima-Verhandler. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie langsam die Klimadiplomatie arbeitet. Und nennt deshalb bei seinem kurzen Auftritt in New York auch als wichtigstes Wort für den Klimaprozess: “Schwung”.

    Aussichten für die nächste COP sind “düster”

    Der 1968 geborene, elegant gekleidete Stiell, mit Anzug und Glatze, bewegt sich sicher auf dem diplomatischen Parkett. Trotzdem liest er bei seinem ersten großen Auftritt im Saal der UN-Vollversammlung Sätze aus dem Manuskript vor, das er wie die anderen Diskutantinnen auf dem Schoß liegen hat. Er sagt all die Dinge über Dringlichkeit und Chancen des Klimaschutzes und über das Ärmel-Hochkrempeln, die ein UN-Klimachef von morgens bis abends sagen muss. Er warnt aber auch: Vor der anstehenden COP27 in Ägypten “sehen die Dinge düster aus”. Bis 2030 müssten die CO₂-Emissionen halbiert werden, das seien nur “noch zweimal Fußball-WM oder Olympische Spiele”. Stiell kennt die Emissions-Daten genau, er hat bei der letzten COP in Glasgow dazu die Verhandlungen geleitet. Deshalb dürfe es da auch “kein Zurückfallen” geben, warnt er. “Wir brauchen Fortschritt und eine klare Richtung” – der nächste Satz, den er demnächst wohl dauernd sagen wird.

    So schnell Stiell ernannt wurde, so rar machte er sich in den ersten Wochen seines neuen Amts. Nach einer Vorstellung in der Bonner Zentrale des UN-Klimasekretariats setzt der neue UN-Chef vor allem auf stille Diplomatie hinter den Kulissen: Er reiste nach Ägypten, um die Gastgeber der COP zu treffen und spricht mit den wichtigen Akteuren weltweit. Er muss Allianzen schmieden, denn die Zeichen in der internationalen Debatte sehen wirklich “düster” aus, auch im Klima. Der russische Überfall auf die Ukraine, die Schuldenkrise vieler Entwicklungsländer, die Covid-Pandemie, der neue Kalte Krieg zwischen den CO₂-Supermächten China und USA mit der Aussetzung der Klimagespräche, all das belastet die Atmosphäre der Verhandlungen.

    Dazu kommt: Die Industriestaaten haben ihre Verpflichtung zur Bereitstellung von 100 Milliarden Dollar jährlich ab 2020 nicht eingehalten und gehen auch bei der Reduktion der Treibhausgase nicht so schnell voran wie nötig. Darüber hinaus sträuben sie sich nach wie vor gegen einen Mechanismus zur Schadensregulierung (“Loss and Damage”), was schon bei der Zwischenkonferenz in Bonn zu schweren Spannungen geführt hat.

    Stiells Heimat Grenada leidet unter “Verlust und Schäden”

    Stiell will und muss über all diese Hindernisse Brücken bauen. Sein Hintergrund kann ihm dabei helfen: Er kommt von der Karibikinsel Grenada, wo seine Familie noch lebt. Nach seinen Amts-Vorgängerinnen Patricia Espinosa (Mexiko) und Christiana Figueres (Costa Rica) ist er bereits der dritte Klimachef aus Mittelamerika. Aber als Vertreter der “kleinen Inselstaaten” mit ihrer besonderen Anfälligkeit gegenüber Armut und Klimawandel bringt er die Erfahrung der verwundbarsten Menschen an die Verhandlungstische. Viele arme Länder, seine Heimat Grenada gehört dazu, sitzen in der Falle von Schulden und Sturmschäden. Stiell weiß ganz genau, wie der abstrakte Begriff “Loss and Damage” sich konkret anfühlt. Da ist es sicher kein Zufall, dass in der aufgeheizten Debatte darüber, die bei der COP27 zu einem explosiven Gemisch werden kann, der UN-Generalsekretär auf Simon Stiell gesetzt hat.

    Stiell, der sich als “Familienmensch” beschreibt, ist in Großbritannien aufgewachsen. Weil sein Vater bei den britischen Streitkräften arbeitete, lebte er als Junge auch zwei Jahre in Deutschland – im westfälischen Lemgo, gar nicht so weit entfernt von seinem jetzigen Büro in Bonn. Stiell studierte Betriebswirtschaft und arbeitete bei Firmen wie Silicon-Valley-Start-ups oder Nokia. Später ging er in die Politik seines Heimatstaats: Wurde Abgeordneter im Parlament, Minister, unter anderem für Landwirtschaft, Tourismus und dann für Umwelt. Er kennt also viele Seiten der Klima-Debatte mit ihren ganz eigenen Zwängen: die internationale Diplomatie, die globale Wirtschaft, die nationale Politik.

    Stiell sagt von sich, er sei Aktivist, aber nicht verbohrt: ein politischer Kopf durch und durch, aber offen für Kompromisse. Das schätzen auch Menschen, mit denen er in den letzten Jahren an den Klima-Verhandlungstischen gesessen hat. Sie beschreiben ihn als sach- und kompromissorientiert und als jemanden, der die Stimme der Verwundbarsten deutlich einbringt. Wie nötig das ist, zeigten die Begleitumstände bei seinem Auftritt am Montag: Während Stiell in New York auf dem Podium saß, zog der Wirbelsturm Fiona seine Spur der Verwüstung über das Gebiet Puerto Ricos. Bernhard Pötter

    • COP27
    • Klimadiplomatie

    Climate.Table Redaktion

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