entspannt war die Menschenrechtslage in China noch nie. Und seit Xi Jinping das Machtzepter in der Hand hält gar noch weniger. Dass diese Bewertung keine zufällige Momentaufnahme ist, sondern das Ergebnis einer beabsichtigten Entwicklung, zeigte sich im Umgang mit den beiden Bürgerrechtlern Ding Jiaxi und Xu Zhiyong. Die beiden Juristen müssen für ihr bürgerliches Engagement im Rahmen der chinesischen Verfassung mit Haftstrafen bezahlen, die so lang sind, dass sich die Frage stellt, ob sie jemals wieder lebend aus dem Gefängnis kommen.
Dabei hatten sie nur das befolgt, wozu Xi Jinping zu Beginn seiner Amtszeit selbst aufgerufen hatte: zum Kampf gegen die Korruption. Die Bürgerrechtler hatten 2012 die neue Parteispitze lediglich aufgefordert, Vermögenswerte von Top-Funktionären offenzulegen. Keine besonders radikale Forderung. Und doch kamen sie hinter Gittern. Weggefährten prophezeien nun, dass sich Chinas Bürgerrechtsbewegung von diesem Schlag in absehbarer nicht mehr erholen wird, schreibt Marcel Grzanna.
Unsere zweite Analyse befasst sich mit dem Fall von Marije Vlaskamp. Die niederländische Journalistin ist zur Zielscheibe einer Einschüchterungskampagne geworden, die ihren Ursprung in Peking haben soll. In ihrem Namen und dem des Dissidenten Wang Jingyu wurden sogar Bombendrohungen fingiert. Aktivisten und Politiker fordern nun eine klare Ansage in Richtung China, wie Stephan Israel schreibt.
Marije Vlaskamp weiß, wie die chinesischen Behörden vorgehen, wenn sie jemanden mundtot machen wollen. Schließlich hat die Niederländerin vor ihrer Rückkehr nach Den Haag fast 25 Jahre lang als Korrespondentin aus Peking berichtet. Und dennoch ist sie schockiert. Die 54 Jahre alte Journalistin beschrieb im April in der Zeitung “de Volkskrant” ausführlich, wie sie selbst Ziel einer massiven Einschüchterungskampagne geworden ist. Bis hin zu einer inszenierten Bombendrohung in ihrem Namen und im Namen von Wang Jingyu, einer ihrer Gesprächspartner aus der chinesischen Dissidentenszene.
Dies war der Auslöser für Marije Vlaskamp und ihre Redaktion, mit der Geschichte in eigener Sache an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Journalistin hatte Wang seit seiner Flucht aus China und der Ankunft in den Niederlanden begleitet und an seinem Beispiel beschrieben, wie China Dissidenten und Kritiker auch im Exil terrorisiert.
Im Herbst dann die Eskalation: Wang bekam neue Drohungen über den Nachrichtendienst Telegram, in denen er als “Verräter” beschimpft und aufgefordert wurde, seinen Mund zu halten. Er solle keine Interviews mehr geben, sein Twitterkonto löschen und dafür sorgen, dass die Artikel über ihn aus dem Netz genommen werden. “Ein Hinweis von mir und die Polizei verhaftet Dich und deine Journalistenfreundin”, so die letzte Ankündigung.
Nahezu gleichzeitig erhielten Vlaskamp und Wang Bestätigungen für eine Buchung im selben Hotel im Den Haager Regierungsviertel nahe der chinesischen Botschaft, die sie selbst nicht getätigt hatten. Endgültig alarmiert war die Journalistin, als sie in den Nachrichten von einer Bombendrohung hörte, und dass die Polizei das Regierungsviertel weiträumig abgesperrt hätte. Wenig später folgte eine weitere Bombendrohung in ihrem Namen gegen Chinas Botschaft in Oslo.
Die Taktik der psychologischen Kriegsführung werde sonst vom chinesischen Regime gegen ehemalige chinesische Staatsbürger, Dissidenten, Uiguren oder Tibeter angewandt, sagt Vlaskamp. Es sei wohl eine Premiere, dass unbekannte Personen im Namen des chinesischen Staates eine niederländische Journalistin außerhalb Chinas bedrohten.
Die Angreifer versuchen dabei nicht einmal, ihren Hintergrund zu vertuschen. Die Botschaft selbst alarmierte im Fall der angeblichen Bombendrohung die Polizei und soll dabei auch die Namen von Vlaskamp und Wang genannt haben. Bombendrohungen und Hotelreservierungen könnten zu IP-Adressen in China und Hongkong zurückgeführt werden, meldeten zudem die niederländischen Justizbehörden.
Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen hat die Behörden aufgefordert, die Verantwortlichen hinter den falschen Bombendrohungen im Namen von zwei Journalisten in den Niederlanden und Deutschland zu identifizieren. Die in Deutschland lebende chinesische Journalistin Su Yutong, die für den Sender Free Asia berichtet, sei im ähnlichen Stil massiv unter Druck gesetzt worden. In ihrem Namen seien unter anderem Hotels in Berlin, New York, Houston, Los Angeles und Istanbul gebucht worden. Gefolgt von falschen Bombendrohungen. “Diese besonders bösartigen Methoden tragen alle Kennzeichen der Einschüchterungstaktiken des chinesischen Regimes”, erklärte die NGO.
Ähnlich sieht es der niederländische EU-Abgeordnete Bart Groothuis, Experte im Kampf gegen Desinformation und ausländische Einflussnahme. Er spricht von der Handschrift des United Front Work Department, einem Instrument der Kommunistischen Partei Chinas, um Kritiker auch im Ausland mundtot zu machen. “Der Angriff auf Marije Vlaskamp ist ein neues Signal, wozu China bereit ist, um Leute auch im Westen zum Schweigen zu bringen”, sagt der Politiker der rechtsliberalen Regierungspartei von Premier Mark Rutte.
Inzwischen gebe es auch kaum mehr Wissenschaftlerinnen oder Hochschulen im Westen, die Forschung etwa zum Schicksal der Uiguren, über das Ende der Freiheit in Hongkong oder zum Netzwerk der United Front betreiben würden. Man müsse fürchten, dass Kontakte belästigt würden oder dass man bei Reisen im Ausland festgenommen werde. Etwa auch wegen der Auslieferungsabkommen, welche China mit vielen Staaten weltweit abgeschlossen habe.
Groothuis sieht Geheimdienste und Sicherheitsbehörden in der Pflicht. Dort habe man lange den Fokus auf Russland gehabt und die Gefahr durch China vernachlässigt. Es nütze zudem nichts, chinesische Botschafter einzubestellen und zu protestieren. “Wir müssen China klar kommunizieren, dass feindliche Einflussnahme und Einschüchterungskampagnen einen ökonomischen Preis haben”.
Groothuis plädiert nicht etwa für eine Abkoppelung von China. Die EU müsse aber gezielter als bisher Investitionen aus China, Russland und dem Iran unter die Lupe nehmen, immer mit dem Fokus auf mögliche Sicherheitsrisiken für die westlichen Demokratien. Der Europaparlamentarier sieht dies als zentrale Aufgabe für die nächste EU-Kommission.
Klartext spricht auch Alerk Ablikim. Der Niederländer und gebürtige Uigure ist Mitgründer einer Plattform verschiedener Einwanderergruppen, unter anderem auch aus der Türkei, Marokko, Eritrea oder Belarus, die gegen ausländische Einflussnahme mobilisieren. Der Fall von Marije Vlaskamp zeige, wie groß das Problem der Einschüchterung durch ausländische Regime in Europa inzwischen sei. Einwanderer aus China, der Türkei, Marokko oder Eritrea würden täglich unter dem langen Arm ihres Herkunftslandes leiden. Es reiche nicht, eine Hotline einzurichten und die Strafbarkeit für Spionage zu verschärfen, wie es die niederländische Regierung vorhat.
Die Plattform fordert die Regierung in Den Haag in einem offenen Brief auf, einen nationalen Koordinator einzusetzen: “Ausländische Einmischung – einschließlich Einschüchterung – ist ein wachsendes gesellschaftliches Problem, das die niederländische Demokratie bedroht”. Die Politik müsse generell entschlossener reagieren, so Mitinitiator Ablikim.
Der Aktivist erwähnt konkret das Beispiel der illegalen Polizeistationen, von denen aus China Oppositionelle drangsaliere. Auch in den Niederlanden hat China zwei Stationen betrieben. Man habe die Stationen in Rotterdam und Amsterdam nach Protesten zwar geschlossen. Anders als in den USA habe es aber keine Festnahmen oder andere Konsequenzen gegeben. Das sei wie eine Einladung an China. Der Aktivist fordert, dass Europa zukünftig deutlicher rote Linien gegen feindliche Einmischung aufzeige und die westlichen Demokratien grenzüberschreitende Repression entschiedener bekämpfen. Stephan Israel
Das Schicksal des Aktivisten Ding Jiaxi nahm im Jahr 2011 eine entscheidende Wendung. Ein Freund hatte den Anwalt damals zu einem konspirativen Treffen in eine Privatwohnung in Peking eingeladen. Eine Gruppe Gleichgesinnter wollte dort über Bürgerrechte in China sprechen. Einer derjenigen, die Ding an diesem Abend kennen lernte, hieß Xu Zhiyong.
Zwölf Jahre danach sitzen beide Männer zum wiederholten Male in Haft. Dieses Mal schlug die Justiz mit ihren Urteilen so hart zu, dass alte Weggefährten befürchten, dass sich Chinas Bürgerrechtsbewegung von diesem Schlag auf Jahre hinaus nicht mehr erholen wird. Xu, der bis 2017 bereits vier Jahre abgesessen hatte, muss noch einmal für 14 Jahre hinter Gitter, Ding nach einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe für weitere zwölf. Ob sie die Haftzeit überleben, ist ungewiss. Wo sie einsitzen, wissen nicht einmal die engsten Angehörigen.
“Xu Zhiyong und mein Mann haben nichts anderes getan, als ihre verfassungsgemäßen Rechte auszuüben”, sagt Luo Shengchun im Gespräch mit China.Table. Luo ist seit 1994 mit Ding Jiaxi verheiratet und lebt seit 2013 mit den zwei Töchtern des Paares im US-Exil. Sie sagt, die Kommunistische Partei Chinas fürchte wenig mehr als das Gedankengut der beiden Bürgerrechtler. Deshalb hätten die Prozesse ohne Ankündigung und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. “Ding Jiaxi hat immer zu mir gesagt, es sei das Richtige, was er tut. Er hat nie akzeptiert, dass der Staat ihm vorwarf, das Gesetz zu brechen”, sagt Luo.
Dem Staat stand Ding schon seit Jahrzehnten kritisch gegenüber. 1989 protestierte er mit Zehntausenden anderen auf dem Platz des Himmlischen Friedens und entkam dem Massaker am 4. Juni nur durch Zufall, weil er sich an diesem Abend an der Uni etwas Geld verdiente. “Sein Traum war es immer, Gutes für die Gesellschaft zu tun. Schon als Kind in der Schule hat er sich für Schwächere eingesetzt”, sagt Luo.
Kurz vor seiner Verurteilung am 10. April hatte Dings Anwalt eine Stellungnahme seines Mandanten veröffentlicht, die er ihm bei einem seiner letzten Besuche diktiert hatte. Ding selbst standen weder Stift noch Papier zur Verfügung. “Wie viele auch immer an mir gezweifelt haben, ungeachtet der vielen Schwierigkeiten und Rückschläge, denen ich begegnet bin, einschließlich der körperlichen Folter, die ich erlitten habe, werde ich nicht von meinen unerschütterlichen Überzeugungen abweichen“, sagte er.
Nach seinem Ingenieurs-Examen schulte Ding um und wurde Jurist. Doch anstatt mit Menschenrechten befasste er sich anderthalb Jahrzehnte lang mit Wirtschaftsrecht. Sein Traum aber ließ ihn nicht los. 2010 ging er für mehrere Monate in die USA, um sich dort inspirieren zu lassen und rückzubesinnen auf das, was er wirklich wollte. Zurück in Peking entschied er, Chinas Gesellschaft verändern zu wollen. Die Einladung zum Treffen in Peking der Gruppe um Xu Zhiyong nahm Ding Jiaxi dankend an.
Xu war der geistige Kopf einer Idee, die er “Bürgerliches Engagement” (公民承诺) taufte. Ein Gedankenmodell, das der Jurist schon Jahre zuvor entworfen hatte, und mit dem er die Sinne seiner chinesischen Mitbürger für deren staatsbürgerlichen Pflichten spitzen wollte. Pflichten, die seiner Meinung nach Chinas Verfassung mit Leben füllen würden: sich eine eigene Meinung zu bilden und sie frei zu äußern, sich mit anderen zu konstituieren und beliebig zu versammeln.
“Ding Jiaxi war gleich Feuer und Flamme, und er hat sich binnen kürzester Zeit zu einem der führenden Kräfte in dieser Gruppe entwickelt”, sagt der chinesische Anwalt Teng Biao, der an diesem Abend ebenfalls zu Gast war in der Pekinger Wohnung. Ding gehörte fortan zum inneren Zirkel der Gruppe und verbreitete ihre Ideen über ein Netzwerk im ganzen Land. Er bereiste zahlreiche Provinzen, traf alte Weggefährten und Kommilitonen, aber vor allem Dutzende chinesische Bürger, die sich gegen unfaire Gerichtsurteile wehren wollten.
Im Frühjahr 2012 gaben die Mitglieder der Gruppe ihrem Engagement einen Namen: Neue Bürgerbewegung (新公民运动). Neu, weil sie ein altes Konzept aufgriff, aber dazu eine Satzung mit ambitionierteren Zielen formulierte: Gleichheit bei der Bildung, Offenlegung der Vermögen von Parteifunktionären und das sogenannte gemeinsame Bürger-Abendessen, ein politisches Forum, das die Ideen der Bewegung multiplizieren und weiterentwickeln sollte. “Diese Abendessen haben wir zum Teil über das Internet gestreamt und andere dazu aufgefordert, es uns gleichzutun. Wir wollten mehr und mehr Menschen von unserem Konzept begeistern”, sagt Anwalt Teng, der heute ebenfalls in den USA im Exil lebt.
Der größer werdende zivile Raum während der Ära Hu Jintao hatte die Aktivisten ermutigt. Ob sie die Gefahr kommen sahen, weiß Luo Shengchun nicht. “Irgendwann im Laufe des Jahres 2012 bemerkte ich, dass unser Haus regelmäßig von irgendwelchen Leuten belagert wurde”, erinnert sie sich. “Ich war besorgt, aber mir war nie bewusst, wie weit der Aktivismus meines Mannes schon fortgeschritten war.” Ding beruhigte sie, empfahl ihr aber gleichzeitig, sich für einen Posten ihres französischen Arbeitgebers in den USA zu bewerben.
Als Xi Jinping im Herbst 2012 beim Parteitag die Macht in China übernahm, hofften die Bürgerrechtler auf eine liberalere Zukunft. In einem Brief vom 9. Dezember forderten sie die neue Parteispitze dazu auf, Vermögenswerte von Top-Funktionären offenzulegen. 7.000 Menschen aus ganz China unterzeichneten das Dokument. Es war der aktivistische Höhepunkt der Neuen Bürgerbewegung – und ihr Anfang vom Ende.
Kurz nach dem Volkskongress, als die neue Regierung die Amtsgeschäfte übernahm und die Machtübernahme vom Nachfolgeregime um Xi Jinping abgeschlossen war, schlugen die Sicherheitskräfte gnadenlos zu: dutzende Festnahmen, Hausarreste, Anklagen, Prozesse, Haftstrafen. Ding Jiaxi wurde im April verhaftet. Noch am Tag zuvor war er mit seiner Frau in der US-Botschaft in Peking gewesen, um die Visa für sie und ihre beiden Töchter abzuholen.
Als Ding und Xu 2017 aus ihrer Haft entlassen wurden, setzten sie ihren Aktivismus gebremst fort. Es gab kaum noch physische Treffen, ihr Engagement neue Mitglieder für ihre Bewegung zu gewinnen, war deutlich gedrosselt. Doch selbst das war dem Staat zu viel. Die erneuten Festnahmen der beiden Bürgerrechtler und die langen Haftstrafen wertet Anwalt Teng als klares Signal. “Xi Jinping will auch die letzten Reste der Zivilgesellschaft in China zerstören, weil er und seine Gefolgsleute große Angst davor haben, die Macht zu verlieren”, sagt er. Die wachsenden wirtschaftliche Probleme des Landes erhöhten den Druck und die Sorge vor sozialen Unruhen.
Nur noch wenige Mitglieder und Sympathisanten der Neuen Bürgerbewegung seien überhaupt noch als Aktivisten oder Menschenrechtsanwälte aktiv, sagt Teng. Die Repressionen treffen auch die Familien der Verurteilten. Die Schwester von Xu Zhiyong steht seit dem Urteil rund um die Uhr unter Beobachtung. Sie wurde gewarnt, sich mit Luo Shengchun in den USA in Verbindung zu setzen. In einer Kurznachricht bat sie Luo darum, sie nicht mehr zu kontaktieren. Andernfalls drohe ihr Haft.
Luo Shengchun hat sich vorgenommen, den Rest ihres Lebens dem Kampf gegen das “Verbrecherregime” in Peking zu widmen. Sie hofft darauf, dass die demokratische Welt die Urteile als Warnsignal versteht. “Dieses Regime ist nicht einmal bereit, die eigene Verfassung zu respektieren. Sie wird überall auf der Welt die Regeln missachten”, sagt sie.
Mehr als 100 prominente Chefredakteure, Verlegerinnen und leitende Redakteure aus der ganzen Welt fordern gemeinsam mit Reporter ohne Grenzen (RSF) die sofortige Freilassung des Hongkonger Verlegers Jimmy Lai. In einer beispiellosen Erklärung zeigen sie sich solidarisch mit dem seit 2020 inhaftierten Gründer der eingestellten Tageszeitung Apple Daily, wie die Organisation am Dienstag mitteilte. Zu den 116 Unterzeichnenden aus 42 Ländern zählen auch die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Journalisten Dmitri Muratow aus Russland und Maria Ressa aus den Philippinen. Aus Deutschland unterschrieben den Appell laut RSF Chefredakteur Wolfgang Krach und Chefredakteurin Judith Wittwer der Süddeutschen Zeitung, Chefredakteurin Ulrike Winkelmann der taz und Chefredakteurin Jennifer Wilton der Welt.
RSF hatte den Aufruf koordiniert, der auch noch einmal auf die rapide Verschlechterung der Pressefreiheit in der chinesischen Sonderverwaltungszone seit Erlass des Nationalen Sicherheitsgesetzes von 2020 aufmerksam machen soll. Die Apple Daily wurde nur wenige Monate nach Erlass des Gesetzes eingestellt; der 75-jährige Lai ist seit Dezember 2020 in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert. Reporter ohne Grenzen bezeichnete Jimmy Lai als “Symbol im Kampf für Pressefreiheit in Hongkong”. Mit der Apple Daily habe er sich 25 Jahre für die Meinungs- und Pressefreiheit in Hongkong eingesetzt. ck
Um die Geburten anzukurbeln, haben die Behörden in China in mehr als 20 Städten Pilotprojekte gestartet, mit denen sie eine “neue Ära” der Heirats- und Geburtenkultur schaffen wollen. Unter den Städten sind die Metropole Guangzhou und die Industriestadt Handan in der Provinz Hebei.
Die Projekte werden von Chinas Familienplanungsverband durchgeführt. Er wolle damit Frauen ermutigen, zu heiraten und Kinder zu kriegen, berichtet die Staatszeitung Global Times. Eltern sollen zudem ermuntert werden, Erziehungsaufgaben künftig mehr aufzuteilen. Auch sollten sie früher mit dem Kinderkriegen beginnen. Frauen in China nennen unter anderem die Kosten der Kindererziehung und die negativen Auswirkungen auf die Karriere als Gründe, keine oder nur wenige Kinder zu bekommen.
China ist erstmals seit sechs Jahrzehnten mit einem problematischen Bevölkerungsrückgang konfrontiert. Wegen der rückläufigen Geburten droht eine rasche Überalterung. Politische Berater hatten der Regierung daher bereits im März eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen. Unter anderem soll demnach auch unverheirateten Frauen das Einfrieren von Eizellen sowie eine Kinderwunschbehandlung ermöglicht werden.
Die Provinzen versuchen die Geburten außerdem durch andere Anreize anzukurbeln, darunter Steuervorteile, Förderungen für Wohnraum und eine kostenlose oder eine subventionierte Ausbildung für das dritte Kind. rtr/jul
Deutsche Sicherheitsbehörden glauben, dass China nach wie vor polizeiliche Aktivitäten auf deutschem Boden durchführt. Das sagte ein Sprecher des Innenministeriums am Montag. Berlin hatte Peking im November aufgefordert, seine exterritorialen Polizeistationen hierzulande zu schließen. Die chinesische Seite hatte Deutschland Anfang Februar mitgeteilt, dass die Volksrepublik Dienstleistungen über ihre “Service-Stationen” einstellen würde.
Der Sprecher des Innenministeriums stellte am Montag in Berlin klar, dass es sich bei den fraglichen Polizeistationen “nicht um ortsfeste Büros, sondern um mobile Einrichtungen” handele, von denen aus chinesische und nicht-chinesische Staatsangehörige “offizielle Aufgaben” im Auftrag Pekings wahrnehmen würden.
China betreibt mobile Polizeistationen, die illegal operieren, in der ganzen Welt. Vordergründig sollen diese Einrichtungen, chinesischen Staatsbürgern in bürokratischen Angelegenheiten unter die Arme greifen. Allerdings nutzen chinesische Sicherheitskräfte die Stationen zur Jagd auf Dissidenten, die sich im Gastland niedergelassen haben. In den USA waren kürzlich zwei Mitarbeiter einer solchen mobilen Wache festgenommen worden. grz
Das US-Justizministerium hat die Festnahme eines Mannes wegen mutmaßlicher Spionage für die Volksrepublik China vermeldet. Der 63-jährige Liang Litang soll zwischen 2018 und 2022 Informationen über chinesische Exil-Dissidenten und pro-taiwanische Organisationen in den USA an Beamte aus China weitergegeben haben. Unter anderem soll er Fotos und Namen an chinesische Sicherheitskräfte übermittelt haben. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft.
Die US-Behörden verbreiteten die Nachricht am selben Tag, an dem die Volksrepublik einen US-Staatsbürger zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Spionage verurteilt hatte. Ein chinesisches Gericht in Suzhou sah es als erwiesen an, dass der 78-jährige John Shing-wan Leung als Spion für die US-Regierung operierte. Einzelheiten wurden nicht bekannt. Das Verfahren hatte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. Vordergründig haben die beiden Fälle nichts miteinander zu tun. Ihre zeitliche Nähe lässt es jedoch so erscheinen, als handele es sich um Schlag und Gegenschlag.
Leung hatte seinen Wohnsitz in Hongkong. Die Behörden in Suzhou erklärten, die Untersuchungen gegen den Mann seien bereits im April 2021 eingeleitet worden. Wo er sich vor seiner Festnahme aufgehalten hatte und wie lange er bereits in Haft sitzt, ist unklar. Die US-Botschaft kommentierte den Fall nicht konkret, sondern verwies stattdessen auf die Privatsphäre des Mannes.
Die beiden Fälle haben das Potenzial, die angespannten Beziehungen zwischen China und den USA weiter zu belasten. Erst im April hatte China eine Änderung seines Anti-Spionage-Gesetzes verabschiedet. Der Tatbestand der Spionage wird darin noch einmal erweitert. Auch ist seine Auslegung eher schwammig, was den Behörden ein Werkzeug in die Hand gibt, um Fälle mit Fragen der nationalen Sicherheit zu verknüpfen. grz
Ein ausgeschiedener Top-Manager des Tiktok-Mutterkonzerns ByteDance übt scharfe Kritik an seinem ehemaligen Arbeitgeber. Der frühere Chef der Ingenieursabteilung des US-Geschäfts wirft ByteDance vor, sich als “Propaganda-Werkzeug” der chinesischen Regierung angedient zu haben. So habe Tiktok angeblich die Reichweite von Inhalten vergrößert, die “Hass gegen Japan” schüren, und Inhalte eingeschränkt, die die pro-demokratischen Demonstranten in Hongkong unterstützten.
Zudem solle das Unternehmen während seiner Zeit bei dem Unternehmen zwischen August 2017 und November 2018 Inhalte von Konkurrenten wie Instagram und Snapchat gestohlen haben. Die Vorwürfe wurden am Freitag als Teil einer Klage veröffentlicht, mit der der Manager vor einem Gericht in San Francisco Schadensersatz aufgrund seiner unrechtmäßigen Entlassung bei Bytedance erstreiten will.
Der Kläger wirft dem Tech-Unternehmen vor, ihn entlassen zu haben, weil er eine “Kultur der Rechtlosigkeit” enthüllt habe. Seinen Aussagen zufolge seien chinesische Regierungsvertreter dazu in der Lage gewesen, die chinesische Version der Apps von ByteDance abzuschalten. Zudem hätten sie Zugang zum gesamten Datenmaterial des Unternehmens aus den USA gehabt. ByteDance reagierte bislang nicht öffentlich auf die Vorwürfe des Ex-Mitarbeiters. fpe
Tobias ten Brink untersucht an der Constructor University in Bremen das System China. Genauer gesagt den dynamischen Wandel und die Widersprüche, die Chinas Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ausmachen. Seine Gegner sind Spekulation und Stereotype. Ten Brink erklärt: “Mir geht es darum, ein Othering Chinas zu vermeiden. Das heißt, Prozesse in China nicht als völlig andersartig im Vergleich zu anderen Schwellenländern und kapitalistisch dominierten Modernisierungsprozessen zu verstehen.”
Was er damit meint, erklärt ten Brink am Beispiel Innovation: Früher sei China die Werkbank der Welt gewesen, und wie in anderen Industrialisierungsprozessen war die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte entscheidend für das Wirtschaftswachstum. Um aber langfristig erfolgreich zu sein, müsse China seit einiger Zeit hochwertiger produzieren, so wie andere Länder auch. Und dafür brauche es Ideen und Forschung, erklärt ten Brink.
Deswegen verfolge China eine sehr aktive Industrie- und Innovationspolitik, auch in enger Kooperation mit den eigenen Unternehmen. Dass in China technologische Innovation teilweise von oben angeordnet wird, ist laut ten Brink nicht automatisch kontraproduktiv. Der Westen müsse lernen, dass Demokratie und Freiheit nicht der einzige Garant für technologische Innovation sein. “Es scheint, Professoren oder Ingenieure, die Batterien für Elektroautos entwickeln, brauchen nicht notwendigerweise ein Wahlrecht, um ihrer Arbeit nachzugehen”, sagt ten Brink. Und er erinnert daran, dass ein zentraler Innovationstreiber in den USA lange das kommandowirtschaftlich organisierte Militär war.
Ten Brink selbst begleitet Chinas Aufstieg seit den 2000er-Jahren. Am Anfang sind es die großen Fragen, die ten Brink erst als Doktorand in Frankfurt und dann als Dozent und Forscher in Köln, New York und Guangzhou erforscht: Welche Art Kapitalismus entwickelt sich in China, und was sind die Quellen von Chinas rasantem Wachstum? Er sucht sie in seiner Habilitation zu Chinas Kapitalismus, die 2019 preisgekrönt bei dem renommierten Universitätsverlag University of Pennsylvania Press erscheint.
Mit dabei ist immer sein, wie er sagt, “politökonomischer Scheinwerfer”. Denn zentral für seine Herangehensweise sei es, auf die Verbindung von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteuren zu schauen. Das tut ten Brink auch bei seiner Forschung zu Chinas Sozialsystem.
Für ten Brink sind die geringen Löhne der Wanderarbeiter immer noch ein Wettbewerbsvorteil für China. Um aber die Binnennachfrage anzukurbeln, wäre es ein sinnvolles Instrument, nicht nur die städtischen Angestellten, sondern auch die Wanderarbeiter und die Landbevölkerung besser abzusichern. Ten Brink vergleicht: Das sei auch in anderen Industriestaaten erst im Laufe der Zeit erreicht worden und könne auch in China nur gegen den Widerstand der Unternehmen durchgesetzt werden.
Ob es dazu kommt, hat in China die Kommunistische Partei zu entscheiden, die ten Brink eine “vergleichsweise handlungsfähige autoritäre Agentur zur Förderung der wirtschaftlichen Modernisierung” nennt. Das ist sprachlich nicht nur sehr gewandt, sondern widerspricht im Übrigen auch denen, die die Ära Xi Jinping als absolute Zäsur sehen. Denn die aktive Rolle des Staates in der Wirtschaft ist laut ten Brink nichts Neues. “Das hat sich mit Xi Jinping verstärkt, aber nicht mit ihm angefangen. Eine Kernvorstellung lautet immer noch: Wachstum mit allen Mitteln.” Jonathan Lehrer
entspannt war die Menschenrechtslage in China noch nie. Und seit Xi Jinping das Machtzepter in der Hand hält gar noch weniger. Dass diese Bewertung keine zufällige Momentaufnahme ist, sondern das Ergebnis einer beabsichtigten Entwicklung, zeigte sich im Umgang mit den beiden Bürgerrechtlern Ding Jiaxi und Xu Zhiyong. Die beiden Juristen müssen für ihr bürgerliches Engagement im Rahmen der chinesischen Verfassung mit Haftstrafen bezahlen, die so lang sind, dass sich die Frage stellt, ob sie jemals wieder lebend aus dem Gefängnis kommen.
Dabei hatten sie nur das befolgt, wozu Xi Jinping zu Beginn seiner Amtszeit selbst aufgerufen hatte: zum Kampf gegen die Korruption. Die Bürgerrechtler hatten 2012 die neue Parteispitze lediglich aufgefordert, Vermögenswerte von Top-Funktionären offenzulegen. Keine besonders radikale Forderung. Und doch kamen sie hinter Gittern. Weggefährten prophezeien nun, dass sich Chinas Bürgerrechtsbewegung von diesem Schlag in absehbarer nicht mehr erholen wird, schreibt Marcel Grzanna.
Unsere zweite Analyse befasst sich mit dem Fall von Marije Vlaskamp. Die niederländische Journalistin ist zur Zielscheibe einer Einschüchterungskampagne geworden, die ihren Ursprung in Peking haben soll. In ihrem Namen und dem des Dissidenten Wang Jingyu wurden sogar Bombendrohungen fingiert. Aktivisten und Politiker fordern nun eine klare Ansage in Richtung China, wie Stephan Israel schreibt.
Marije Vlaskamp weiß, wie die chinesischen Behörden vorgehen, wenn sie jemanden mundtot machen wollen. Schließlich hat die Niederländerin vor ihrer Rückkehr nach Den Haag fast 25 Jahre lang als Korrespondentin aus Peking berichtet. Und dennoch ist sie schockiert. Die 54 Jahre alte Journalistin beschrieb im April in der Zeitung “de Volkskrant” ausführlich, wie sie selbst Ziel einer massiven Einschüchterungskampagne geworden ist. Bis hin zu einer inszenierten Bombendrohung in ihrem Namen und im Namen von Wang Jingyu, einer ihrer Gesprächspartner aus der chinesischen Dissidentenszene.
Dies war der Auslöser für Marije Vlaskamp und ihre Redaktion, mit der Geschichte in eigener Sache an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Journalistin hatte Wang seit seiner Flucht aus China und der Ankunft in den Niederlanden begleitet und an seinem Beispiel beschrieben, wie China Dissidenten und Kritiker auch im Exil terrorisiert.
Im Herbst dann die Eskalation: Wang bekam neue Drohungen über den Nachrichtendienst Telegram, in denen er als “Verräter” beschimpft und aufgefordert wurde, seinen Mund zu halten. Er solle keine Interviews mehr geben, sein Twitterkonto löschen und dafür sorgen, dass die Artikel über ihn aus dem Netz genommen werden. “Ein Hinweis von mir und die Polizei verhaftet Dich und deine Journalistenfreundin”, so die letzte Ankündigung.
Nahezu gleichzeitig erhielten Vlaskamp und Wang Bestätigungen für eine Buchung im selben Hotel im Den Haager Regierungsviertel nahe der chinesischen Botschaft, die sie selbst nicht getätigt hatten. Endgültig alarmiert war die Journalistin, als sie in den Nachrichten von einer Bombendrohung hörte, und dass die Polizei das Regierungsviertel weiträumig abgesperrt hätte. Wenig später folgte eine weitere Bombendrohung in ihrem Namen gegen Chinas Botschaft in Oslo.
Die Taktik der psychologischen Kriegsführung werde sonst vom chinesischen Regime gegen ehemalige chinesische Staatsbürger, Dissidenten, Uiguren oder Tibeter angewandt, sagt Vlaskamp. Es sei wohl eine Premiere, dass unbekannte Personen im Namen des chinesischen Staates eine niederländische Journalistin außerhalb Chinas bedrohten.
Die Angreifer versuchen dabei nicht einmal, ihren Hintergrund zu vertuschen. Die Botschaft selbst alarmierte im Fall der angeblichen Bombendrohung die Polizei und soll dabei auch die Namen von Vlaskamp und Wang genannt haben. Bombendrohungen und Hotelreservierungen könnten zu IP-Adressen in China und Hongkong zurückgeführt werden, meldeten zudem die niederländischen Justizbehörden.
Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen hat die Behörden aufgefordert, die Verantwortlichen hinter den falschen Bombendrohungen im Namen von zwei Journalisten in den Niederlanden und Deutschland zu identifizieren. Die in Deutschland lebende chinesische Journalistin Su Yutong, die für den Sender Free Asia berichtet, sei im ähnlichen Stil massiv unter Druck gesetzt worden. In ihrem Namen seien unter anderem Hotels in Berlin, New York, Houston, Los Angeles und Istanbul gebucht worden. Gefolgt von falschen Bombendrohungen. “Diese besonders bösartigen Methoden tragen alle Kennzeichen der Einschüchterungstaktiken des chinesischen Regimes”, erklärte die NGO.
Ähnlich sieht es der niederländische EU-Abgeordnete Bart Groothuis, Experte im Kampf gegen Desinformation und ausländische Einflussnahme. Er spricht von der Handschrift des United Front Work Department, einem Instrument der Kommunistischen Partei Chinas, um Kritiker auch im Ausland mundtot zu machen. “Der Angriff auf Marije Vlaskamp ist ein neues Signal, wozu China bereit ist, um Leute auch im Westen zum Schweigen zu bringen”, sagt der Politiker der rechtsliberalen Regierungspartei von Premier Mark Rutte.
Inzwischen gebe es auch kaum mehr Wissenschaftlerinnen oder Hochschulen im Westen, die Forschung etwa zum Schicksal der Uiguren, über das Ende der Freiheit in Hongkong oder zum Netzwerk der United Front betreiben würden. Man müsse fürchten, dass Kontakte belästigt würden oder dass man bei Reisen im Ausland festgenommen werde. Etwa auch wegen der Auslieferungsabkommen, welche China mit vielen Staaten weltweit abgeschlossen habe.
Groothuis sieht Geheimdienste und Sicherheitsbehörden in der Pflicht. Dort habe man lange den Fokus auf Russland gehabt und die Gefahr durch China vernachlässigt. Es nütze zudem nichts, chinesische Botschafter einzubestellen und zu protestieren. “Wir müssen China klar kommunizieren, dass feindliche Einflussnahme und Einschüchterungskampagnen einen ökonomischen Preis haben”.
Groothuis plädiert nicht etwa für eine Abkoppelung von China. Die EU müsse aber gezielter als bisher Investitionen aus China, Russland und dem Iran unter die Lupe nehmen, immer mit dem Fokus auf mögliche Sicherheitsrisiken für die westlichen Demokratien. Der Europaparlamentarier sieht dies als zentrale Aufgabe für die nächste EU-Kommission.
Klartext spricht auch Alerk Ablikim. Der Niederländer und gebürtige Uigure ist Mitgründer einer Plattform verschiedener Einwanderergruppen, unter anderem auch aus der Türkei, Marokko, Eritrea oder Belarus, die gegen ausländische Einflussnahme mobilisieren. Der Fall von Marije Vlaskamp zeige, wie groß das Problem der Einschüchterung durch ausländische Regime in Europa inzwischen sei. Einwanderer aus China, der Türkei, Marokko oder Eritrea würden täglich unter dem langen Arm ihres Herkunftslandes leiden. Es reiche nicht, eine Hotline einzurichten und die Strafbarkeit für Spionage zu verschärfen, wie es die niederländische Regierung vorhat.
Die Plattform fordert die Regierung in Den Haag in einem offenen Brief auf, einen nationalen Koordinator einzusetzen: “Ausländische Einmischung – einschließlich Einschüchterung – ist ein wachsendes gesellschaftliches Problem, das die niederländische Demokratie bedroht”. Die Politik müsse generell entschlossener reagieren, so Mitinitiator Ablikim.
Der Aktivist erwähnt konkret das Beispiel der illegalen Polizeistationen, von denen aus China Oppositionelle drangsaliere. Auch in den Niederlanden hat China zwei Stationen betrieben. Man habe die Stationen in Rotterdam und Amsterdam nach Protesten zwar geschlossen. Anders als in den USA habe es aber keine Festnahmen oder andere Konsequenzen gegeben. Das sei wie eine Einladung an China. Der Aktivist fordert, dass Europa zukünftig deutlicher rote Linien gegen feindliche Einmischung aufzeige und die westlichen Demokratien grenzüberschreitende Repression entschiedener bekämpfen. Stephan Israel
Das Schicksal des Aktivisten Ding Jiaxi nahm im Jahr 2011 eine entscheidende Wendung. Ein Freund hatte den Anwalt damals zu einem konspirativen Treffen in eine Privatwohnung in Peking eingeladen. Eine Gruppe Gleichgesinnter wollte dort über Bürgerrechte in China sprechen. Einer derjenigen, die Ding an diesem Abend kennen lernte, hieß Xu Zhiyong.
Zwölf Jahre danach sitzen beide Männer zum wiederholten Male in Haft. Dieses Mal schlug die Justiz mit ihren Urteilen so hart zu, dass alte Weggefährten befürchten, dass sich Chinas Bürgerrechtsbewegung von diesem Schlag auf Jahre hinaus nicht mehr erholen wird. Xu, der bis 2017 bereits vier Jahre abgesessen hatte, muss noch einmal für 14 Jahre hinter Gitter, Ding nach einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe für weitere zwölf. Ob sie die Haftzeit überleben, ist ungewiss. Wo sie einsitzen, wissen nicht einmal die engsten Angehörigen.
“Xu Zhiyong und mein Mann haben nichts anderes getan, als ihre verfassungsgemäßen Rechte auszuüben”, sagt Luo Shengchun im Gespräch mit China.Table. Luo ist seit 1994 mit Ding Jiaxi verheiratet und lebt seit 2013 mit den zwei Töchtern des Paares im US-Exil. Sie sagt, die Kommunistische Partei Chinas fürchte wenig mehr als das Gedankengut der beiden Bürgerrechtler. Deshalb hätten die Prozesse ohne Ankündigung und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. “Ding Jiaxi hat immer zu mir gesagt, es sei das Richtige, was er tut. Er hat nie akzeptiert, dass der Staat ihm vorwarf, das Gesetz zu brechen”, sagt Luo.
Dem Staat stand Ding schon seit Jahrzehnten kritisch gegenüber. 1989 protestierte er mit Zehntausenden anderen auf dem Platz des Himmlischen Friedens und entkam dem Massaker am 4. Juni nur durch Zufall, weil er sich an diesem Abend an der Uni etwas Geld verdiente. “Sein Traum war es immer, Gutes für die Gesellschaft zu tun. Schon als Kind in der Schule hat er sich für Schwächere eingesetzt”, sagt Luo.
Kurz vor seiner Verurteilung am 10. April hatte Dings Anwalt eine Stellungnahme seines Mandanten veröffentlicht, die er ihm bei einem seiner letzten Besuche diktiert hatte. Ding selbst standen weder Stift noch Papier zur Verfügung. “Wie viele auch immer an mir gezweifelt haben, ungeachtet der vielen Schwierigkeiten und Rückschläge, denen ich begegnet bin, einschließlich der körperlichen Folter, die ich erlitten habe, werde ich nicht von meinen unerschütterlichen Überzeugungen abweichen“, sagte er.
Nach seinem Ingenieurs-Examen schulte Ding um und wurde Jurist. Doch anstatt mit Menschenrechten befasste er sich anderthalb Jahrzehnte lang mit Wirtschaftsrecht. Sein Traum aber ließ ihn nicht los. 2010 ging er für mehrere Monate in die USA, um sich dort inspirieren zu lassen und rückzubesinnen auf das, was er wirklich wollte. Zurück in Peking entschied er, Chinas Gesellschaft verändern zu wollen. Die Einladung zum Treffen in Peking der Gruppe um Xu Zhiyong nahm Ding Jiaxi dankend an.
Xu war der geistige Kopf einer Idee, die er “Bürgerliches Engagement” (公民承诺) taufte. Ein Gedankenmodell, das der Jurist schon Jahre zuvor entworfen hatte, und mit dem er die Sinne seiner chinesischen Mitbürger für deren staatsbürgerlichen Pflichten spitzen wollte. Pflichten, die seiner Meinung nach Chinas Verfassung mit Leben füllen würden: sich eine eigene Meinung zu bilden und sie frei zu äußern, sich mit anderen zu konstituieren und beliebig zu versammeln.
“Ding Jiaxi war gleich Feuer und Flamme, und er hat sich binnen kürzester Zeit zu einem der führenden Kräfte in dieser Gruppe entwickelt”, sagt der chinesische Anwalt Teng Biao, der an diesem Abend ebenfalls zu Gast war in der Pekinger Wohnung. Ding gehörte fortan zum inneren Zirkel der Gruppe und verbreitete ihre Ideen über ein Netzwerk im ganzen Land. Er bereiste zahlreiche Provinzen, traf alte Weggefährten und Kommilitonen, aber vor allem Dutzende chinesische Bürger, die sich gegen unfaire Gerichtsurteile wehren wollten.
Im Frühjahr 2012 gaben die Mitglieder der Gruppe ihrem Engagement einen Namen: Neue Bürgerbewegung (新公民运动). Neu, weil sie ein altes Konzept aufgriff, aber dazu eine Satzung mit ambitionierteren Zielen formulierte: Gleichheit bei der Bildung, Offenlegung der Vermögen von Parteifunktionären und das sogenannte gemeinsame Bürger-Abendessen, ein politisches Forum, das die Ideen der Bewegung multiplizieren und weiterentwickeln sollte. “Diese Abendessen haben wir zum Teil über das Internet gestreamt und andere dazu aufgefordert, es uns gleichzutun. Wir wollten mehr und mehr Menschen von unserem Konzept begeistern”, sagt Anwalt Teng, der heute ebenfalls in den USA im Exil lebt.
Der größer werdende zivile Raum während der Ära Hu Jintao hatte die Aktivisten ermutigt. Ob sie die Gefahr kommen sahen, weiß Luo Shengchun nicht. “Irgendwann im Laufe des Jahres 2012 bemerkte ich, dass unser Haus regelmäßig von irgendwelchen Leuten belagert wurde”, erinnert sie sich. “Ich war besorgt, aber mir war nie bewusst, wie weit der Aktivismus meines Mannes schon fortgeschritten war.” Ding beruhigte sie, empfahl ihr aber gleichzeitig, sich für einen Posten ihres französischen Arbeitgebers in den USA zu bewerben.
Als Xi Jinping im Herbst 2012 beim Parteitag die Macht in China übernahm, hofften die Bürgerrechtler auf eine liberalere Zukunft. In einem Brief vom 9. Dezember forderten sie die neue Parteispitze dazu auf, Vermögenswerte von Top-Funktionären offenzulegen. 7.000 Menschen aus ganz China unterzeichneten das Dokument. Es war der aktivistische Höhepunkt der Neuen Bürgerbewegung – und ihr Anfang vom Ende.
Kurz nach dem Volkskongress, als die neue Regierung die Amtsgeschäfte übernahm und die Machtübernahme vom Nachfolgeregime um Xi Jinping abgeschlossen war, schlugen die Sicherheitskräfte gnadenlos zu: dutzende Festnahmen, Hausarreste, Anklagen, Prozesse, Haftstrafen. Ding Jiaxi wurde im April verhaftet. Noch am Tag zuvor war er mit seiner Frau in der US-Botschaft in Peking gewesen, um die Visa für sie und ihre beiden Töchter abzuholen.
Als Ding und Xu 2017 aus ihrer Haft entlassen wurden, setzten sie ihren Aktivismus gebremst fort. Es gab kaum noch physische Treffen, ihr Engagement neue Mitglieder für ihre Bewegung zu gewinnen, war deutlich gedrosselt. Doch selbst das war dem Staat zu viel. Die erneuten Festnahmen der beiden Bürgerrechtler und die langen Haftstrafen wertet Anwalt Teng als klares Signal. “Xi Jinping will auch die letzten Reste der Zivilgesellschaft in China zerstören, weil er und seine Gefolgsleute große Angst davor haben, die Macht zu verlieren”, sagt er. Die wachsenden wirtschaftliche Probleme des Landes erhöhten den Druck und die Sorge vor sozialen Unruhen.
Nur noch wenige Mitglieder und Sympathisanten der Neuen Bürgerbewegung seien überhaupt noch als Aktivisten oder Menschenrechtsanwälte aktiv, sagt Teng. Die Repressionen treffen auch die Familien der Verurteilten. Die Schwester von Xu Zhiyong steht seit dem Urteil rund um die Uhr unter Beobachtung. Sie wurde gewarnt, sich mit Luo Shengchun in den USA in Verbindung zu setzen. In einer Kurznachricht bat sie Luo darum, sie nicht mehr zu kontaktieren. Andernfalls drohe ihr Haft.
Luo Shengchun hat sich vorgenommen, den Rest ihres Lebens dem Kampf gegen das “Verbrecherregime” in Peking zu widmen. Sie hofft darauf, dass die demokratische Welt die Urteile als Warnsignal versteht. “Dieses Regime ist nicht einmal bereit, die eigene Verfassung zu respektieren. Sie wird überall auf der Welt die Regeln missachten”, sagt sie.
Mehr als 100 prominente Chefredakteure, Verlegerinnen und leitende Redakteure aus der ganzen Welt fordern gemeinsam mit Reporter ohne Grenzen (RSF) die sofortige Freilassung des Hongkonger Verlegers Jimmy Lai. In einer beispiellosen Erklärung zeigen sie sich solidarisch mit dem seit 2020 inhaftierten Gründer der eingestellten Tageszeitung Apple Daily, wie die Organisation am Dienstag mitteilte. Zu den 116 Unterzeichnenden aus 42 Ländern zählen auch die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Journalisten Dmitri Muratow aus Russland und Maria Ressa aus den Philippinen. Aus Deutschland unterschrieben den Appell laut RSF Chefredakteur Wolfgang Krach und Chefredakteurin Judith Wittwer der Süddeutschen Zeitung, Chefredakteurin Ulrike Winkelmann der taz und Chefredakteurin Jennifer Wilton der Welt.
RSF hatte den Aufruf koordiniert, der auch noch einmal auf die rapide Verschlechterung der Pressefreiheit in der chinesischen Sonderverwaltungszone seit Erlass des Nationalen Sicherheitsgesetzes von 2020 aufmerksam machen soll. Die Apple Daily wurde nur wenige Monate nach Erlass des Gesetzes eingestellt; der 75-jährige Lai ist seit Dezember 2020 in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert. Reporter ohne Grenzen bezeichnete Jimmy Lai als “Symbol im Kampf für Pressefreiheit in Hongkong”. Mit der Apple Daily habe er sich 25 Jahre für die Meinungs- und Pressefreiheit in Hongkong eingesetzt. ck
Um die Geburten anzukurbeln, haben die Behörden in China in mehr als 20 Städten Pilotprojekte gestartet, mit denen sie eine “neue Ära” der Heirats- und Geburtenkultur schaffen wollen. Unter den Städten sind die Metropole Guangzhou und die Industriestadt Handan in der Provinz Hebei.
Die Projekte werden von Chinas Familienplanungsverband durchgeführt. Er wolle damit Frauen ermutigen, zu heiraten und Kinder zu kriegen, berichtet die Staatszeitung Global Times. Eltern sollen zudem ermuntert werden, Erziehungsaufgaben künftig mehr aufzuteilen. Auch sollten sie früher mit dem Kinderkriegen beginnen. Frauen in China nennen unter anderem die Kosten der Kindererziehung und die negativen Auswirkungen auf die Karriere als Gründe, keine oder nur wenige Kinder zu bekommen.
China ist erstmals seit sechs Jahrzehnten mit einem problematischen Bevölkerungsrückgang konfrontiert. Wegen der rückläufigen Geburten droht eine rasche Überalterung. Politische Berater hatten der Regierung daher bereits im März eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen. Unter anderem soll demnach auch unverheirateten Frauen das Einfrieren von Eizellen sowie eine Kinderwunschbehandlung ermöglicht werden.
Die Provinzen versuchen die Geburten außerdem durch andere Anreize anzukurbeln, darunter Steuervorteile, Förderungen für Wohnraum und eine kostenlose oder eine subventionierte Ausbildung für das dritte Kind. rtr/jul
Deutsche Sicherheitsbehörden glauben, dass China nach wie vor polizeiliche Aktivitäten auf deutschem Boden durchführt. Das sagte ein Sprecher des Innenministeriums am Montag. Berlin hatte Peking im November aufgefordert, seine exterritorialen Polizeistationen hierzulande zu schließen. Die chinesische Seite hatte Deutschland Anfang Februar mitgeteilt, dass die Volksrepublik Dienstleistungen über ihre “Service-Stationen” einstellen würde.
Der Sprecher des Innenministeriums stellte am Montag in Berlin klar, dass es sich bei den fraglichen Polizeistationen “nicht um ortsfeste Büros, sondern um mobile Einrichtungen” handele, von denen aus chinesische und nicht-chinesische Staatsangehörige “offizielle Aufgaben” im Auftrag Pekings wahrnehmen würden.
China betreibt mobile Polizeistationen, die illegal operieren, in der ganzen Welt. Vordergründig sollen diese Einrichtungen, chinesischen Staatsbürgern in bürokratischen Angelegenheiten unter die Arme greifen. Allerdings nutzen chinesische Sicherheitskräfte die Stationen zur Jagd auf Dissidenten, die sich im Gastland niedergelassen haben. In den USA waren kürzlich zwei Mitarbeiter einer solchen mobilen Wache festgenommen worden. grz
Das US-Justizministerium hat die Festnahme eines Mannes wegen mutmaßlicher Spionage für die Volksrepublik China vermeldet. Der 63-jährige Liang Litang soll zwischen 2018 und 2022 Informationen über chinesische Exil-Dissidenten und pro-taiwanische Organisationen in den USA an Beamte aus China weitergegeben haben. Unter anderem soll er Fotos und Namen an chinesische Sicherheitskräfte übermittelt haben. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft.
Die US-Behörden verbreiteten die Nachricht am selben Tag, an dem die Volksrepublik einen US-Staatsbürger zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Spionage verurteilt hatte. Ein chinesisches Gericht in Suzhou sah es als erwiesen an, dass der 78-jährige John Shing-wan Leung als Spion für die US-Regierung operierte. Einzelheiten wurden nicht bekannt. Das Verfahren hatte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. Vordergründig haben die beiden Fälle nichts miteinander zu tun. Ihre zeitliche Nähe lässt es jedoch so erscheinen, als handele es sich um Schlag und Gegenschlag.
Leung hatte seinen Wohnsitz in Hongkong. Die Behörden in Suzhou erklärten, die Untersuchungen gegen den Mann seien bereits im April 2021 eingeleitet worden. Wo er sich vor seiner Festnahme aufgehalten hatte und wie lange er bereits in Haft sitzt, ist unklar. Die US-Botschaft kommentierte den Fall nicht konkret, sondern verwies stattdessen auf die Privatsphäre des Mannes.
Die beiden Fälle haben das Potenzial, die angespannten Beziehungen zwischen China und den USA weiter zu belasten. Erst im April hatte China eine Änderung seines Anti-Spionage-Gesetzes verabschiedet. Der Tatbestand der Spionage wird darin noch einmal erweitert. Auch ist seine Auslegung eher schwammig, was den Behörden ein Werkzeug in die Hand gibt, um Fälle mit Fragen der nationalen Sicherheit zu verknüpfen. grz
Ein ausgeschiedener Top-Manager des Tiktok-Mutterkonzerns ByteDance übt scharfe Kritik an seinem ehemaligen Arbeitgeber. Der frühere Chef der Ingenieursabteilung des US-Geschäfts wirft ByteDance vor, sich als “Propaganda-Werkzeug” der chinesischen Regierung angedient zu haben. So habe Tiktok angeblich die Reichweite von Inhalten vergrößert, die “Hass gegen Japan” schüren, und Inhalte eingeschränkt, die die pro-demokratischen Demonstranten in Hongkong unterstützten.
Zudem solle das Unternehmen während seiner Zeit bei dem Unternehmen zwischen August 2017 und November 2018 Inhalte von Konkurrenten wie Instagram und Snapchat gestohlen haben. Die Vorwürfe wurden am Freitag als Teil einer Klage veröffentlicht, mit der der Manager vor einem Gericht in San Francisco Schadensersatz aufgrund seiner unrechtmäßigen Entlassung bei Bytedance erstreiten will.
Der Kläger wirft dem Tech-Unternehmen vor, ihn entlassen zu haben, weil er eine “Kultur der Rechtlosigkeit” enthüllt habe. Seinen Aussagen zufolge seien chinesische Regierungsvertreter dazu in der Lage gewesen, die chinesische Version der Apps von ByteDance abzuschalten. Zudem hätten sie Zugang zum gesamten Datenmaterial des Unternehmens aus den USA gehabt. ByteDance reagierte bislang nicht öffentlich auf die Vorwürfe des Ex-Mitarbeiters. fpe
Tobias ten Brink untersucht an der Constructor University in Bremen das System China. Genauer gesagt den dynamischen Wandel und die Widersprüche, die Chinas Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ausmachen. Seine Gegner sind Spekulation und Stereotype. Ten Brink erklärt: “Mir geht es darum, ein Othering Chinas zu vermeiden. Das heißt, Prozesse in China nicht als völlig andersartig im Vergleich zu anderen Schwellenländern und kapitalistisch dominierten Modernisierungsprozessen zu verstehen.”
Was er damit meint, erklärt ten Brink am Beispiel Innovation: Früher sei China die Werkbank der Welt gewesen, und wie in anderen Industrialisierungsprozessen war die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte entscheidend für das Wirtschaftswachstum. Um aber langfristig erfolgreich zu sein, müsse China seit einiger Zeit hochwertiger produzieren, so wie andere Länder auch. Und dafür brauche es Ideen und Forschung, erklärt ten Brink.
Deswegen verfolge China eine sehr aktive Industrie- und Innovationspolitik, auch in enger Kooperation mit den eigenen Unternehmen. Dass in China technologische Innovation teilweise von oben angeordnet wird, ist laut ten Brink nicht automatisch kontraproduktiv. Der Westen müsse lernen, dass Demokratie und Freiheit nicht der einzige Garant für technologische Innovation sein. “Es scheint, Professoren oder Ingenieure, die Batterien für Elektroautos entwickeln, brauchen nicht notwendigerweise ein Wahlrecht, um ihrer Arbeit nachzugehen”, sagt ten Brink. Und er erinnert daran, dass ein zentraler Innovationstreiber in den USA lange das kommandowirtschaftlich organisierte Militär war.
Ten Brink selbst begleitet Chinas Aufstieg seit den 2000er-Jahren. Am Anfang sind es die großen Fragen, die ten Brink erst als Doktorand in Frankfurt und dann als Dozent und Forscher in Köln, New York und Guangzhou erforscht: Welche Art Kapitalismus entwickelt sich in China, und was sind die Quellen von Chinas rasantem Wachstum? Er sucht sie in seiner Habilitation zu Chinas Kapitalismus, die 2019 preisgekrönt bei dem renommierten Universitätsverlag University of Pennsylvania Press erscheint.
Mit dabei ist immer sein, wie er sagt, “politökonomischer Scheinwerfer”. Denn zentral für seine Herangehensweise sei es, auf die Verbindung von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteuren zu schauen. Das tut ten Brink auch bei seiner Forschung zu Chinas Sozialsystem.
Für ten Brink sind die geringen Löhne der Wanderarbeiter immer noch ein Wettbewerbsvorteil für China. Um aber die Binnennachfrage anzukurbeln, wäre es ein sinnvolles Instrument, nicht nur die städtischen Angestellten, sondern auch die Wanderarbeiter und die Landbevölkerung besser abzusichern. Ten Brink vergleicht: Das sei auch in anderen Industriestaaten erst im Laufe der Zeit erreicht worden und könne auch in China nur gegen den Widerstand der Unternehmen durchgesetzt werden.
Ob es dazu kommt, hat in China die Kommunistische Partei zu entscheiden, die ten Brink eine “vergleichsweise handlungsfähige autoritäre Agentur zur Förderung der wirtschaftlichen Modernisierung” nennt. Das ist sprachlich nicht nur sehr gewandt, sondern widerspricht im Übrigen auch denen, die die Ära Xi Jinping als absolute Zäsur sehen. Denn die aktive Rolle des Staates in der Wirtschaft ist laut ten Brink nichts Neues. “Das hat sich mit Xi Jinping verstärkt, aber nicht mit ihm angefangen. Eine Kernvorstellung lautet immer noch: Wachstum mit allen Mitteln.” Jonathan Lehrer