Table.Briefing: China

Interview Chris Miller zum Chipkrieg + Kritik deutscher Firmen an Strafzöllen

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Debatte um die von der EU angekündigten Strafzölle gegen Elektroauto-Importe aus China beschäftigt nun auch deutsche Unternehmen in China. Diese haben sich in einer Blitzumfrage gegen die Strafzölle ausgesprochen. Denn die Firmen sehen in den aktuellen chinesischen Subventionen keine unfairen Praktiken, wie Jörn Petring erläutert. Denn Steueranreize für den Kauf von E-Autos in China kommen auch diesen ausländischen Firmen zugute, ebenso wie vergünstigter Strom.

Das Problem der Überkapazitäten ist aus Sicht der Firmen allerdings real, etwa drei Viertel stellten sie in der Umfrage fest. Sie sehen allerdings nicht staatliche Subventionen als Hauptgrund dafür, sondern vor allem eine Überschätzung der Nachfrage durch die chinesischen Unternehmen. Manche Ökonomen teilen diese Sichtweise. Die Handelskammer Ostchina fordert Brüssel daher auf, lieber in die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu investieren, anstatt die Autoindustrie durch Zölle zu schützen.

Der US-Technologieexperte und Buchautor Chris Miller äußert sich im Interview mit Michael Radunski kritisch über den heftigen Wettstreit um die kleinsten und leistungsstärksten Halbleiter zwischen den USA und China. Er stellt in beiden Ländern eine Eskalation des Chipkriegs fest – und zwar sowohl bei den Subventionen für die eigene Industrie als auch bei den Beschränkungen gegen den Rivalen, mit dem Ziel, dessen High-End-Entwicklungen zu behindern.

Miller ist der Ansicht, dass dabei die Bedeutung der älteren Technologien – die sogenannten Legacy-Chips – unterschätzt werden. Das stellt nach Ansicht Millers auch die westliche Autoindustrie und ihre Lieferketten vor mögliche Risiken.

Wir wünschen Ihnen einen guten Start in die Woche!

Ihre
Christiane Kühl
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Interview

Chris Miller: Warum der Fokus auf High-End-Chips falsch ist

Chris Miller, Autor von “Chip War: The Fight for the World’s Most Critical Technology”

Sie haben in ihrem sehr lesenswerten Buch einen “Chipkrieg” zwischen China und den USA ausgerufen. Um im Bild zu bleiben, wie ist die aktuelle Situation auf dem Schlachtfeld?

Sie eskaliert, was vor allem zeigt, dass Halbleiter im Mittelpunkt des Technologiewettbewerbs zwischen China und den USA stehen. In beiden Ländern erleben wir Eskalationen bei den Subventionen, für den Versuch, die fortschrittlichsten Chips zu entwickeln. Und wir erleben Eskalationen bei den Beschränkungen, die beide Länder verhängt haben, um die Entwicklung des jeweils anderen zu begrenzen.

Wie weit liegt China bei der Herstellung hochmoderner Chips zurück?

Es gibt eine Reihe verschiedener Möglichkeiten, dies zu messen. In Bezug auf die Fertigungstechnologie besteht der Unterschied nicht wirklich zwischen den USA und China, sondern zwischen Taiwan und China. Das führende taiwanische Unternehmen TSMC ist Chinas führendem Unternehmen SMIC bei der Herstellung von High-End-Chips rund fünf Jahre voraus. Wenn Sie sich das Design ansehen, ist es schwieriger, einen klaren Maßstab dafür zu haben, wie weit ein Land dem anderen voraus ist. Mit Blick auf die Lieferketten sieht man, dass Chinas High-End-Halbleiter noch immer größtenteils mit importierten Werkzeugen aus den USA, aus Japan und vor allem aus den Niederlanden hergestellt werden.

Welche Rolle spielt Europa?

Europas spielt vor allem bei der Produktion der Lithografiewerkzeuge eine wichtige Rolle. ASML ist nach wie vor der einzige Hersteller von High-End-Lithografiegeräten weltweit. Und diese Rolle wird noch wichtiger, da die niederländische Regierung Beschränkungen beim Verkauf dieser Werkzeuge durch ASML erlassen hat. Ich fand es bemerkenswert, dass bei dem Treffen des niederländischen Premierministers mit Xi Jinping im vergangenen Monat diese Technologiebeschränkungen eine wichtige Rolle gespielt haben.

Meist konzentrieren sich die Diskussionen auf High-End-Chips. Sie sagen jedoch: Das ist der falsche Fokus.

Richtig. Wir haben sogenannte get-all-around chips und wir haben sogenannte legacy chips. Und legacy chips sind weitaus wichtiger, als viele denken. Man muss sich nur die Verteilung der Chips in der Wirtschaft ansehen: Die Allround-Chips werden nur in hoch entwickelten KI-Systemen verwendet; das ist jedoch noch ein sehr begrenzter Bereich. Der größte Teil der Wirtschaft hängt hingegen von den grundlegenden Chips ab. Nur mit diesen Chips funktionieren all unsere Geräte: Autos, Smartphones, Kühlschränke oder medizinische Geräte. Und im Hinblick auf die aktuellen politischen Spannungen: Raketen, Drohnen und Marschflugkörper.

In diesem Zusammenhang haben Sie westliche Regierungen ermahnt, sich Chinas Strategie genau anzuschauen. Warum?

Wir sollten uns Sorgen machen, dass Chinas Investitionen in Produktionsanlagen dieser grundlegenden Chips dramatisch gestiegen sind. Heute werden die meisten legacy chips entweder im Westen oder in Taiwan hergestellt. Aber China ist gerade dabei, eine sehr große Anzahl neuer Produktionsanlagen zu bauen, was erhebliche Auswirkungen auf die Märkte haben wird.

Welche Art von Auswirkungen konkret?

Verzerrende Auswirkungen. Fragen traditioneller Handelsbedenken werden auf den Tisch kommen, wie wir es bei Solarmodulen oder kürzlich bei Autos gesehen haben: Werden unsere Märkte dadurch verzerrt? Wenn ja, welche Auswirkungen hat dies auf unsere Unternehmen? Auf ganze Industriezweige? Ich denke, diese Debatte hat auch einen wirtschaftlichen Sicherheitsaspekt.

Geben Sie uns ein Beispiel?

Wenn die westliche Produktionsbasis stärker auf Komponenten aus China angewiesen ist, könnte dies China politische Druckmittel verleihen. Gegenüber Taiwan, Korea, Australien oder Japan verhält sich China schon so und hat immer wieder den Export bestimmter Materialien beschränkt. Die Gefahr besteht darin, dass westliche Produktion anfälliger wird für diese Art von Druck. Deshalb sollten sich politische Entscheidungsträger auch mit legacy chips und Chinas wachsender Rolle bei deren Produktion befassen.

Die Automobilindustrie spielt in Deutschland eine wichtige Rolle. Die EU hat gerade zusätzliche Zölle auf Elektroautos aus China beschlossen. Und Chips spielen in Autos eine wichtige Rolle.

Man muss auch hier perspektivisch analysieren. Noch werden in chinesischen Autos größtenteils westliche Chips verbaut. China hat gerade das Ziel angekündigt, 25 Prozent der Chips in chinesischen Autos im Inland zu produzieren. Das bedeutet: 75 Prozent der Chips werden noch immer von westlichen Lieferanten importiert. Aber das ändert sich. Und die Richtung ist klar: China will mehr im Inland produzieren und sich weniger auf den Westen verlassen. Viele Arten von Chips, die in Autos verwendet werden, sind einfacher Bauart. Es gibt also keinen Grund, warum chinesische Firmen sie nicht produzieren können. Es ist davon auszugehen, dass China sehr schnell Erfolge erzielen wird bei seinen Bemühungen, die Produktion dieser Chips zu domestizieren.

Die Automobilkonzerne müssen also auf der Hut sein.

Nicht nur die Autohersteller. Das wird auch für sämtliche Zulieferer dieser Konzerne zu einem Problem. Wenn man sich die gesamte Auto-Lieferkette ansieht, nicht nur die fertigen Autos, sondern alle Komponenten, die darin verbaut sind, sehen wir zunehmend, dass China entweder aufholt oder im Fall der autonomen Fähigkeiten viele etablierte Autohersteller überholt. Dies wird weitere wirtschaftliche und politische Sorgen hervorrufen.

Deutschland hat viel Geld ausgegeben, um TSMC nach Deutschland zu locken. Das Problem: TSMC wird in Dresden mit 22-Nanometer relativ simple Chips produzieren. Ist das also Geldverschwendung?

Das glaube ich nicht. Diese Chips sind vielleicht nicht fortschrittlich genug für einen GPU-Prozessor in einem KI-System, aber sie sind fortschrittlich genug für viele Autos oder andere Industriesysteme. Man darf nicht übersehen, dass die europäische und deutsche Industriebasis in der Tat eine sehr, sehr große Anzahl von Halbleitern dieses Kalibers benötigt. Man kann nicht leugnen, dass Europa stark auf importierte Komponenten aus Asien angewiesen ist, um seine Industriesysteme, Autos, im Grunde die gesamte europäische Produktionsbasis am Laufen zu halten. Das ist eine riskante Schwachstelle. Und daher ist es für Europa sinnvoll, eine eigene Produktion dieser Art von Chips anzukurbeln.

Wie geht es weiter im Kampf um Halbleiter?

Aufgrund der außerordentlichen Investitionen in die Chipproduktion wird China bis zum Ende des Jahrzehnts bei der Produktion hochmoderner Chips deutlich autarker sein, vielleicht sogar nahezu autark. Das bedeutet auch, dass China viel weniger auf Taiwan angewiesen sein wird – und gleichzeitig die USA viel stärker auf Taiwan angewiesen sind als China. Das wiederum könnte eine sehr destabilisierende Dynamik in der Taiwanstraße auslösen.

Chris Miller ist Autor von “Chip War: The Fight for the World’s Most Critical Technology”, einer geopolitischen Geschichte des Computerchips. Er ist außerordentlicher Professor für internationale Geschichte an der Fletcher School, wo sich seine Forschung auf Technologie, Geopolitik, Wirtschaft, internationale Angelegenheiten und Russland konzentriert. Er erhielt seinen Doktortitel und seinen Master an der Yale University und seinen Bachelor in Geschichte an der Harvard University.

  • Autoindustrie
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Analyse

EU-Strafzölle: Mit diesen Argumenten fordern deutsche Firmen zügige Neuverhandlungen

Verkauf von chinesischen BYD Autos in Deutschland.

Deutsche Unternehmen in China drängen auf intensive Gespräche zwischen der EU und China, um die Einführung von Strafzöllen auf Elektroautos doch noch zu verhindern. “Es wäre auch für China eine gute Idee, jetzt Verhandlungen mit der Europäischen Union aufzunehmen, um zu besprechen, wo die Probleme liegen und wie sie gelöst werden können”, sagte Maximilian Butek, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Handelskammer in Ostchina, anlässlich einer am Montag (Ortszeit) veröffentlichten Blitzumfrage zur Stimmung deutscher Firmen vor Ort. “Aus Sicht der Industrie wäre das schlechteste Ergebnis, wenn diese Zölle in Kraft treten”, so Butek.

Butek argumentierte, dass die EU zwar das Recht habe, eine Untersuchung der Subventionen chinesischer Unternehmen einzuleiten. Allerdings werde die Schlussfolgerung der EU, dass es sich um unfaire Praktiken der Chinesen handele, von den deutschen Firmen vor Ort nicht geteilt. 

Subventionen sind nicht unfair

“Im Allgemeinen beschweren sich unsere Unternehmen in diesem Bereich nicht über unfaire Subventionen”, erklärte Butek. Die Förderungen bestünden etwa aus Steueranreizen für den Kauf eines neuen Fahrzeugs, die sowohl für ausländische als auch für lokale Unternehmen gelten. Auch günstiger Strom werde bereitgestellt, von dem ebenfalls jeder profitieren könne. Zudem gebe es Subventionen bei Mietkosten und dem Erwerb von Grundstücken, die ebenfalls nicht auf lokale Unternehmen beschränkt seien.

Laut der Kammer gibt es zwar eindeutige Überkapazitäten, die zu extrem niedrigen Preisen auch in anderen Industrien führten. Doch unfaire staatliche Subventionen seien hierfür nicht der Hauptgrund. “Wenn man sich die Ursache dieser Überkapazitäten ansieht, liegt es im Wesentlichen daran, dass Unternehmen mehr Kapazitäten aufgebaut haben und die Nachfrage nicht so war, wie sie es erwartet hatten“, so Butek. “Daher haben wir jetzt diese Preiskriege.”

Überkapazitäten und Preiskrieg

75 Prozent der befragten Firmen stellten Überkapazitäten in ihrer Branche fest. Fast alle (96 Prozent) dieser Unternehmen gaben an, dass diese Überkapazitäten ihr Geschäft beeinträchtigen. Zudem sind niedrige Preise laut der Kammer-Befragung derzeit die mit Abstand größte Sorge der Firmen. Das Ranking ihrer Herausforderungen sieht wie folgt aus:

  • Für 61 Prozent der Firmen ist der Preisdruck das größte Problem.
  • 51 Prozent klagen über geringe Nachfrage in China.
  • 37 Prozent sehen geopolitische Spannungen als Herausforderung.
  • 25 Prozent beklagen eine schwache globale Nachfrage.

Butek zeigte sich jedoch überzeugt, dass der Markt selbst die Überkapazitäten regulieren werde. Letztlich werde es zu einer Konsolidierung kommen. Dies sei jedoch ein mittelfristiger Effekt, der nicht “innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre” gelöst werde. Für deutsche Unternehmen heißt es also: Durchhalten und vor allem innovativer werden.

Chinesen ziehen technologisch davon

Die Kammer erkannte an, dass chinesische Unternehmen in vielen Bereichen bereits zu Technologieführern geworden seien. Dies sei jedoch keine Überraschung, sondern eine transparente Entwicklung der letzten 20 Jahre. Die chinesische Regierung und der private Sektor hätten über Jahre hinweg strategisch in Forschung und Entwicklung investiert. Diese Entscheidungen trügen nun Früchte.

Laut Butek sollte die EU auf die Innovationskraft der Chinesen mit strategischen Maßnahmen reagieren, anstatt protektionistische Maßnahmen wie Zölle zu ergreifen. Die EU sollte vielmehr in die eigene Wettbewerbsfähigkeit investieren, anstatt die Autoindustrie durch Zölle zu schützen. Konkret nannte er etwa die Reduzierung der Bürokratie, eine Lösung des Arbeitskräftemangels durch Integration und Bildung sowie mehr Unterstützung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten.

Lage bessert sich nur langsam

Aus der Blitzumfrage der Kammer ergaben sich noch weitere Erkenntnisse:

  • Optimismus kehrt nur langsam zurück: 38 Prozent der Befragten erwarten eine Verbesserung in den kommenden sechs Monaten, während 16 Prozent mit einer Verschlechterung der Wirtschaft rechnen. 46 Prozent der Befragten erwarten keine signifikanten Veränderungen in der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas in den nächsten sechs Monaten im Vergleich zu den vorherigen sechs Monaten.
  • Die Geschäftsaussichten erholen sich auf niedrigem Niveau: Nur 38 Prozent der Befragten erwarten eine Verschlechterung der Situation für ihre Branche im Vergleich zu 2023, ein deutlicher Rückgang von 52 Prozent, die dieselbe Frage im letzten Jahr im September bejaht hatten. Gleichzeitig erwarten 29 Prozent, dass sich ihre Branche im Vergleich zum Vorjahr verbessern wird – ein leichter Anstieg um einige Prozentpunkte.
  • Steigender Umsatz, während die Gewinne stagnieren: 39 Prozent der Unternehmen prognostizieren für 2024 einen höheren Umsatz im Vergleich zum Vorjahr. Auf dieselbe Frage im letzten Jahr antworteten nur 13 Prozent, dass sie einen steigenden Umsatz erwarten. Allerdings erwarten nur 25 Prozent, dass ihre Gewinne bis Ende 2024 steigen werden.
  • Eine knappe Mehrheit plant weiter zu investieren: 53 Prozent der Befragten haben vor, ihre Investitionen in China in den nächsten zwei Jahren zu erhöhen; gegenüber noch 61 Prozent im letzten Jahr. 27 Prozent planen keine weiteren Investitionen, während 16 Prozent ihre Investitionen reduzieren wollen.

Die Kammer war zwar eindeutig in ihrer Forderung, wonach die EU für chinesische Unternehmen keine neuen Schranken errichten soll. Gleichzeitig müsse aber auch China mehr dafür tun, damit fairer Wettbewerb herrscht. “Von Seiten der Politik brauchen deutsche Firmen faire Wettbewerbsbedingungen und ein transparentes rechtliches Umfeld in China”, wiederholte Clas Neumann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Handelskammer in Ostchina, die bereits seit langem bekannte Position der deutschen Unternehmen.

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News

G7-Gipfel: Warum auch China am Pranger stand

Beim zweitägigem G7-Gipfel in Italien haben die Regierungschefs der sieben großen Industriestaaten klare Worte an China gerichtet. Einhellig kritisierten sie Chinas Lieferung von Waffenteilen an Russland und forderten die Führung in Peking auf, jegliche Unterstützung von Russlands Rüstungsindustrie zu beenden. In ihrer Erklärung rufen die G7 China auf, die Lieferung “von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, einschließlich Waffenkomponenten und Ausrüstung, einzustellen”. Die G7 drohten mit Sanktionen gegen Akteure aus China und anderen Ländern, “die Russlands Kriegsmaschinerie materiell unterstützen”.

“Ernsthaft besorgt” bleiben die G7 auch über das Vorgehen Chinas im Südchinesischen Meer, einschließlich der Taiwanstraße. Sie bezeichneten das Vorgehen von Chinas Küstenwache und Seestreitkräften als “gefährlichen Einsatz”. Die G7-Regierungschefs bekräftigten ihre “entschiedene Ablehnung jeglicher einseitiger Versuche, den Status quo mit Gewalt oder Zwang zu ändern”. flee

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Korruption bei Adidas: Diese Vorwürfe macht ein anonymer Brief

Adidas sieht sich in China einem Zeitungsbericht zufolge mit Korruptionsvorwürfen gegen mehrere hochrangige Mitarbeiter konfrontiert. Der Financial Times zufolge werden sie in einem anonymen, angeblich von eigenen Mitarbeitenden stammenden Brief beschuldigt, “Millionen Euro” von Lieferanten und Werbeagenturen angenommen zu haben.

Ein Sprecher des weltweit zweitgrößten Sportartikelherstellers bestätigte am Sonntag, das anonyme Schreiben erhalten zu haben, das “auf mögliche Verstöße gegen die Verhaltensregeln hindeute”. Adidas gehe der Angelegenheit intensiv nach, auch mithilfe externer Juristen. Man nehme Compliance-Vorwürfe sehr ernst und bekenne sich in allen Märkten zur Einhaltung von Gesetzen und ethischen Standards.

Der mit “Mitarbeiter von Adidas China” unterzeichnete Brief war laut Financial Times kurzzeitig auch auf der chinesischen Social-Media-Plattform Xiaohongshu zu sehen. Dort werden mehrere Mitarbeiter namentlich genannt, darunter eine Managerin, die für das 250 Millionen Euro schwere Marketingbudget von Adidas in China mitverantwortlich sei. Die genannten Mitarbeiter hätten Rückvergütungen (Kickbacks) von Dienstleistern angenommen, die sie beauftragt hatten. Ein zweiter hochrangiger Mitarbeiter in einer anderen Sparte werde beschuldigt, “Millionen als Bargeld und als Sachleistungen wie Immobilien von Lieferanten” erhalten zu haben.

Adidas eigentlich wieder im Aufwind in China

Die Vorwürfe kommen zur Unzeit. Adidas ist nach schwierigen Zeiten in China gerade erst wieder auf dem aufsteigenden Ast. Das Unternehmen hatte – wie andere westliche Textilhersteller – dort nicht nur unter den Folgen der Corona-Pandemie gelitten, sondern auch unter Boykottaufrufen wegen der westlichen Kritik am Umgang Pekings mit der Minderheit der Uiguren in Xinjiang.

Für 2024 aber rechnet Adidas auf seinem einst größten und lukrativsten Markt wieder mit zweistelligen Wachstumsraten. Das Unternehmen führt den Aufschwung auch darauf zurück, dass sich die China-Tochter unter der Leitung des 2022 angeheuerten Landes-Chefs Adrian Siu stärker auf den chinesischen Modegeschmack ausgerichtet habe. rtr

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Klima-Dialog: Deshalb geht es auch um die EU-Strafzölle

Die EU und China treffen sich in dieser Woche zum Umwelt- und Klimadialog. Vizepremier Ding Xuexiang werde von Montag bis Freitag in Brüssel sein, um an dem fünften hochrangigen Klima-Dialog teilzunehmen, teilte das chinesische Außenministerium mit. Ding wird mit EU-Klimakommissar Wope Hoekstra zusammentreffen und danach weiter nach Luxemburg reisen. Nähere Details der Agenda des Treffens wurden zunächst nicht bekannt gegeben.

Es ist davon auszugehen, dass neben Themen wie der CO₂-Grenzabgabe CBAM auch die jüngst beschlossenen EU-Zölle auf chinesische E-Fahrzeuge eine Rolle bei den Gesprächen spielen werden. Peking versucht, das EU-Vorhaben der Green Transition als Hebel zu nutzen, um die Zölle auf E-Autos abzuwenden. Beide Seiten treffen sich regelmäßig zum Austausch über Klimathemen, zuletzt fand der Dialog im Juli 2023 statt. ari

  • EU
  • Klimapolitik

Presseschau

G7 kritisieren China für Handelspraktiken und Waffenhilfen an Russland SPIEGEL
Anthony Albanese to meet China”s Premier Li Qiang for high-level talks in Canberra ABC
Chinese stocks with some of the biggest global upside CNBC
Europe must work out what role China will play in its decarbonisation agenda FT
China views Taiwan”s “elimination” as national cause, Taiwan president says REUTERS
Taiwan’s Lai Ching-te calls on army to shed nationalist legacy to meet China threat FT
Darum wird China auf die EU-Strafzölle auf E-Autos weniger aggressiv reagieren, als viele denken BUSINESS INSIDER
Adidas prüft mögliche Korruption in China SÜDDEUTSCHE
Analyse von Behörden-Dokumenten: China macht in Entwicklungsländern Propaganda für autoritäres Regieren TAGESSPIEGEL
Betrugsmasche mit Klimazertifikaten FAZ
Beijing offers pandas as ties with Australia thaw BBC

Personalien

Wan Zhi ist seit Mai Critical Risk and Investigation Manager bei TK Elevator. TK Elevator (früher: thyssenkrupp Aufzüge) ist ein Hersteller und Servicedienstleister von Aufzugsanlagen mit Sitz in Düsseldorf. Wan arbeitet von Shanghai aus für den deutschen Konzern.  

Alexander Hirschle wechselt für die Außenwirtschaftsförderung GTAI Ende Juni von Taipeh nach Singapur. Dort verantwortet er den neuen Hubstandort für Südostasien. Sein Nachfolger wird Dr. Jürgen Maurer, der am 1.8.2024 in Taipeh starten wird. 

Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

  • GTAI

Zur Sprache

Das Schaf rauslassen

放羊  – fàngyáng – das Schaf rauslassen

Sie sind im Job eingezäunt von Leitz-Ordnern und Büroablagen, grasen nur fade Salatblätter aus der Kantine, tränken sich in der kargen Kaffeeküche und der Chef schert Ihnen mit seinen strikten Zeitplänen und dem mickrigen Gehalt ordentlich den Pelz? Dann wird es Zeit, dass Sie schuftendes Schäfchen mal wieder auf die Weide gelassen werden! 

Im chinesischen Neusprech heißt das 放羊 fàngyáng – ein Schaf / die Schafe weiden lassen (von 放 fàng wie in 解放 jiěfàng “freilassen, befreien” und 羊 yáng “Schaf” oder “Ziege”). Das Schaf rauslassen ist also ein Synonym dafür, Auslauf zu haben beziehungsweise sich frei austoben zu können – zum Beispiel, wenn der Chef außer Haus ist. Dann tanzen ja die Mäuse bekanntlich auf dem Tisch (oder springen eben die Schäfchen und Geißlein auf der Wiese). Vergessen Sie also ab und an drohende Deadlines und alle Alltagsabläufe und springen Sie stattdessen über sattgrüne Hügel.

Auf Chinesisch lässt sich übrigens noch so einiges andere mit dem Verb 放 fàng kombinieren und damit los- oder freilassen. Zum Beispiel Drachen (放风筝 fàng fēngzheng “einen Drachen steigen lassen”) oder Feuerwerkskracher (放鞭炮 fàng biānpào, kurz 放炮 fàngpào). Wer richtig Getöse machen will, der lässt gleich fette Böller los (放大炮 fàng dàpào), im übertragenen Sinne heißt das “spuckt große Töne”. 

Aber auch die Schulbank und das Lernen kann man in China “loslassen”, das heißt dann 放学 fàngxué “Unterrichtsschluss haben”. Die arbeitende Bevölkerung lässt derweil gerne den Ferien “freien Lauf” (放假 fàngjià “Ferien machen, Urlaub haben”). Und machen wir uns nicht vor: Auch ein Lüftchen kann sich im Büro mal Bahn brechen (放屁 fàngpì “einen fahren lassen, pupsen”) oder – noch unangenehmer – ein “kalter Wind” in Umlauf kommen (放冷风 fàng lěngfēng “Gerüchte streuen”). An der Tischtennisplatte wird im Pingpong-Paradies China derweil auch schon mal “Wasser abgelassen” (放水 fàngshuǐ), sprich man spielt auf Sparflamme und lässt dem weit unterlegenen Gegner hin und wieder auch ein paar Gnadenpünktchen, um ihn nicht ganz so alt aussehen zu lassen. Kurzum: Man verwässert sein eigenes Spiel. 

Wenn Sie das nächste Mal beim Büro-Nickerchen eine Einschlafblockade haben, erweitern Sie statt Schäfchen zu zählen doch einfach ihre Mandarin-Vokabelherde mit zusätzlichen scha(r)fen Sprachblüten. Zum Warmwerden vielleicht zunächst ein paar Mal “yǎng yáng” sagen, um die Lippen zu lockern. Das heißt nämlich “Schafe züchten” (noch mal: 养羊 yǎng yáng). Vorausgesetzt, Sie treffen die Töne richtig. Sonst wird daraus nämlich irrtümlich ein “Jucken” (痒痒yǎngyang). Aber Sie wollten sich wahrscheinlich ohnehin gerade verzweifelt am Kopf kratzen. 

Selbst mit einem resignierten “Mäh!” kann man sich als Langnase in China übrigens bei Aussprachehängern nicht aus der Affäre ziehen. Denn “Mäh!” verstehen in China weder Menschen noch Schafe, weil letztere auf den Weiden im Reich der Mitte “miē!” machen. Für diese tierische Lautmalerei gibt es im Mandarin mit 咩 sogar ein eigenes Schriftzeichen! 

Zum Abschluss noch ein paar wollige Vokabeln, mit deren Beherrschung Sie Ihre Chinesisch-Schäfchen definitiv ins Trockene bringen: 

  • 十羊九牧 shí yáng jiǔ mù – zu viele Köche verderben den Brei; wörtlich: für zehn Schafe (十羊 shí yáng) neun Hirten (九牧 jiǔ mù) bereitstellen 
  • 多歧亡羊 duō qí wáng yáng – auf zu vielen Hochzeiten tanzen; wörtlich: Weil es viele (多duō) Abzweigungen (歧 qí) gibt, seine Schafe (羊 yáng) verlieren (亡 wáng) 
  • 羊群里头出骆驼 yángqún lǐtou chū luòtuo – auffallen wie ein bunter Hund / sich aus der Menge abheben; wörtlich: in der Schafsherde (羊群里头 yángqún lǐtou) taucht ein Kamel auf (出骆驼 chū luòtuo) 
  • 亡羊补牢 wáng yáng bǔ láo – besser spät als nie; wörtlich: Nachdem die Schafe verloren gegangen sind (亡羊 wáng yáng), ihr Gehege (牢 láo) reparieren (补 bǔ); will heißen: Auch wenn ein Unglück schon geschehen ist (Schafe weg), können zur Schadensbegrenzung (oder fürs nächste Mal) Maßnahmen ergriffen werden 
  • 羊毛出在羊身上 yángmáo chū zài yángshēnshàng – alles hat seinen Preis / irgendwann bekommt man die Rechnung präsentiert; wörtlich: Die Schafswolle (羊毛 yángmáo) sprießt auf (出在 chū zài) dem Körper des Schafs (羊身上 yángshēnshàng); sprich: Wer am Schluss geschoren wird, ist immer das Schaf! 

Wer denkt, das war’s jetzt, und wir seien als deutsche Chinesischlerner in Sachen Schafs-Jargon noch einmal ungeschoren davongekommen, für den habe ich leider noch eine sprachliche Hiobsbotschaft. Insbesondere für all diejenigen, die in den Jahren 1955, 1967, 1979 oder 1991 geboren sind und damit im Jahr des Schafs (羊年 yángnián) … oder doch eher im Jahr der Ziege? An dieser Übersetzungsfrage scheiden sich nämlich selbst in China die Geister, da nicht eindeutig geklärt ist, ob das Tierkreiszeichen 羊 nun auf die Ziege (山羊 shānyáng) oder das Schaf (绵羊 miányáng) verweist

Wie dem auch sei: Glücklicherweise steht das nächste Yang-Jahr ja erst 2027 an. Es bleibt also noch genügend Zeit für sprachliche Feldforschung und Übersetzungsknobelei. Und letztlich macht es am Ende wohl auch keinen Unterschied, ob man nun als drahtige Bergziege oder als wolliges Weideschaf auf saftigem Grün “das Schaf rauslässt” – Hauptsache ist doch, man hat im Alltag genügend Auslauf. 

Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    die Debatte um die von der EU angekündigten Strafzölle gegen Elektroauto-Importe aus China beschäftigt nun auch deutsche Unternehmen in China. Diese haben sich in einer Blitzumfrage gegen die Strafzölle ausgesprochen. Denn die Firmen sehen in den aktuellen chinesischen Subventionen keine unfairen Praktiken, wie Jörn Petring erläutert. Denn Steueranreize für den Kauf von E-Autos in China kommen auch diesen ausländischen Firmen zugute, ebenso wie vergünstigter Strom.

    Das Problem der Überkapazitäten ist aus Sicht der Firmen allerdings real, etwa drei Viertel stellten sie in der Umfrage fest. Sie sehen allerdings nicht staatliche Subventionen als Hauptgrund dafür, sondern vor allem eine Überschätzung der Nachfrage durch die chinesischen Unternehmen. Manche Ökonomen teilen diese Sichtweise. Die Handelskammer Ostchina fordert Brüssel daher auf, lieber in die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu investieren, anstatt die Autoindustrie durch Zölle zu schützen.

    Der US-Technologieexperte und Buchautor Chris Miller äußert sich im Interview mit Michael Radunski kritisch über den heftigen Wettstreit um die kleinsten und leistungsstärksten Halbleiter zwischen den USA und China. Er stellt in beiden Ländern eine Eskalation des Chipkriegs fest – und zwar sowohl bei den Subventionen für die eigene Industrie als auch bei den Beschränkungen gegen den Rivalen, mit dem Ziel, dessen High-End-Entwicklungen zu behindern.

    Miller ist der Ansicht, dass dabei die Bedeutung der älteren Technologien – die sogenannten Legacy-Chips – unterschätzt werden. Das stellt nach Ansicht Millers auch die westliche Autoindustrie und ihre Lieferketten vor mögliche Risiken.

    Wir wünschen Ihnen einen guten Start in die Woche!

    Ihre
    Christiane Kühl
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    Chris Miller: Warum der Fokus auf High-End-Chips falsch ist

    Chris Miller, Autor von “Chip War: The Fight for the World’s Most Critical Technology”

    Sie haben in ihrem sehr lesenswerten Buch einen “Chipkrieg” zwischen China und den USA ausgerufen. Um im Bild zu bleiben, wie ist die aktuelle Situation auf dem Schlachtfeld?

    Sie eskaliert, was vor allem zeigt, dass Halbleiter im Mittelpunkt des Technologiewettbewerbs zwischen China und den USA stehen. In beiden Ländern erleben wir Eskalationen bei den Subventionen, für den Versuch, die fortschrittlichsten Chips zu entwickeln. Und wir erleben Eskalationen bei den Beschränkungen, die beide Länder verhängt haben, um die Entwicklung des jeweils anderen zu begrenzen.

    Wie weit liegt China bei der Herstellung hochmoderner Chips zurück?

    Es gibt eine Reihe verschiedener Möglichkeiten, dies zu messen. In Bezug auf die Fertigungstechnologie besteht der Unterschied nicht wirklich zwischen den USA und China, sondern zwischen Taiwan und China. Das führende taiwanische Unternehmen TSMC ist Chinas führendem Unternehmen SMIC bei der Herstellung von High-End-Chips rund fünf Jahre voraus. Wenn Sie sich das Design ansehen, ist es schwieriger, einen klaren Maßstab dafür zu haben, wie weit ein Land dem anderen voraus ist. Mit Blick auf die Lieferketten sieht man, dass Chinas High-End-Halbleiter noch immer größtenteils mit importierten Werkzeugen aus den USA, aus Japan und vor allem aus den Niederlanden hergestellt werden.

    Welche Rolle spielt Europa?

    Europas spielt vor allem bei der Produktion der Lithografiewerkzeuge eine wichtige Rolle. ASML ist nach wie vor der einzige Hersteller von High-End-Lithografiegeräten weltweit. Und diese Rolle wird noch wichtiger, da die niederländische Regierung Beschränkungen beim Verkauf dieser Werkzeuge durch ASML erlassen hat. Ich fand es bemerkenswert, dass bei dem Treffen des niederländischen Premierministers mit Xi Jinping im vergangenen Monat diese Technologiebeschränkungen eine wichtige Rolle gespielt haben.

    Meist konzentrieren sich die Diskussionen auf High-End-Chips. Sie sagen jedoch: Das ist der falsche Fokus.

    Richtig. Wir haben sogenannte get-all-around chips und wir haben sogenannte legacy chips. Und legacy chips sind weitaus wichtiger, als viele denken. Man muss sich nur die Verteilung der Chips in der Wirtschaft ansehen: Die Allround-Chips werden nur in hoch entwickelten KI-Systemen verwendet; das ist jedoch noch ein sehr begrenzter Bereich. Der größte Teil der Wirtschaft hängt hingegen von den grundlegenden Chips ab. Nur mit diesen Chips funktionieren all unsere Geräte: Autos, Smartphones, Kühlschränke oder medizinische Geräte. Und im Hinblick auf die aktuellen politischen Spannungen: Raketen, Drohnen und Marschflugkörper.

    In diesem Zusammenhang haben Sie westliche Regierungen ermahnt, sich Chinas Strategie genau anzuschauen. Warum?

    Wir sollten uns Sorgen machen, dass Chinas Investitionen in Produktionsanlagen dieser grundlegenden Chips dramatisch gestiegen sind. Heute werden die meisten legacy chips entweder im Westen oder in Taiwan hergestellt. Aber China ist gerade dabei, eine sehr große Anzahl neuer Produktionsanlagen zu bauen, was erhebliche Auswirkungen auf die Märkte haben wird.

    Welche Art von Auswirkungen konkret?

    Verzerrende Auswirkungen. Fragen traditioneller Handelsbedenken werden auf den Tisch kommen, wie wir es bei Solarmodulen oder kürzlich bei Autos gesehen haben: Werden unsere Märkte dadurch verzerrt? Wenn ja, welche Auswirkungen hat dies auf unsere Unternehmen? Auf ganze Industriezweige? Ich denke, diese Debatte hat auch einen wirtschaftlichen Sicherheitsaspekt.

    Geben Sie uns ein Beispiel?

    Wenn die westliche Produktionsbasis stärker auf Komponenten aus China angewiesen ist, könnte dies China politische Druckmittel verleihen. Gegenüber Taiwan, Korea, Australien oder Japan verhält sich China schon so und hat immer wieder den Export bestimmter Materialien beschränkt. Die Gefahr besteht darin, dass westliche Produktion anfälliger wird für diese Art von Druck. Deshalb sollten sich politische Entscheidungsträger auch mit legacy chips und Chinas wachsender Rolle bei deren Produktion befassen.

    Die Automobilindustrie spielt in Deutschland eine wichtige Rolle. Die EU hat gerade zusätzliche Zölle auf Elektroautos aus China beschlossen. Und Chips spielen in Autos eine wichtige Rolle.

    Man muss auch hier perspektivisch analysieren. Noch werden in chinesischen Autos größtenteils westliche Chips verbaut. China hat gerade das Ziel angekündigt, 25 Prozent der Chips in chinesischen Autos im Inland zu produzieren. Das bedeutet: 75 Prozent der Chips werden noch immer von westlichen Lieferanten importiert. Aber das ändert sich. Und die Richtung ist klar: China will mehr im Inland produzieren und sich weniger auf den Westen verlassen. Viele Arten von Chips, die in Autos verwendet werden, sind einfacher Bauart. Es gibt also keinen Grund, warum chinesische Firmen sie nicht produzieren können. Es ist davon auszugehen, dass China sehr schnell Erfolge erzielen wird bei seinen Bemühungen, die Produktion dieser Chips zu domestizieren.

    Die Automobilkonzerne müssen also auf der Hut sein.

    Nicht nur die Autohersteller. Das wird auch für sämtliche Zulieferer dieser Konzerne zu einem Problem. Wenn man sich die gesamte Auto-Lieferkette ansieht, nicht nur die fertigen Autos, sondern alle Komponenten, die darin verbaut sind, sehen wir zunehmend, dass China entweder aufholt oder im Fall der autonomen Fähigkeiten viele etablierte Autohersteller überholt. Dies wird weitere wirtschaftliche und politische Sorgen hervorrufen.

    Deutschland hat viel Geld ausgegeben, um TSMC nach Deutschland zu locken. Das Problem: TSMC wird in Dresden mit 22-Nanometer relativ simple Chips produzieren. Ist das also Geldverschwendung?

    Das glaube ich nicht. Diese Chips sind vielleicht nicht fortschrittlich genug für einen GPU-Prozessor in einem KI-System, aber sie sind fortschrittlich genug für viele Autos oder andere Industriesysteme. Man darf nicht übersehen, dass die europäische und deutsche Industriebasis in der Tat eine sehr, sehr große Anzahl von Halbleitern dieses Kalibers benötigt. Man kann nicht leugnen, dass Europa stark auf importierte Komponenten aus Asien angewiesen ist, um seine Industriesysteme, Autos, im Grunde die gesamte europäische Produktionsbasis am Laufen zu halten. Das ist eine riskante Schwachstelle. Und daher ist es für Europa sinnvoll, eine eigene Produktion dieser Art von Chips anzukurbeln.

    Wie geht es weiter im Kampf um Halbleiter?

    Aufgrund der außerordentlichen Investitionen in die Chipproduktion wird China bis zum Ende des Jahrzehnts bei der Produktion hochmoderner Chips deutlich autarker sein, vielleicht sogar nahezu autark. Das bedeutet auch, dass China viel weniger auf Taiwan angewiesen sein wird – und gleichzeitig die USA viel stärker auf Taiwan angewiesen sind als China. Das wiederum könnte eine sehr destabilisierende Dynamik in der Taiwanstraße auslösen.

    Chris Miller ist Autor von “Chip War: The Fight for the World’s Most Critical Technology”, einer geopolitischen Geschichte des Computerchips. Er ist außerordentlicher Professor für internationale Geschichte an der Fletcher School, wo sich seine Forschung auf Technologie, Geopolitik, Wirtschaft, internationale Angelegenheiten und Russland konzentriert. Er erhielt seinen Doktortitel und seinen Master an der Yale University und seinen Bachelor in Geschichte an der Harvard University.

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    Analyse

    EU-Strafzölle: Mit diesen Argumenten fordern deutsche Firmen zügige Neuverhandlungen

    Verkauf von chinesischen BYD Autos in Deutschland.

    Deutsche Unternehmen in China drängen auf intensive Gespräche zwischen der EU und China, um die Einführung von Strafzöllen auf Elektroautos doch noch zu verhindern. “Es wäre auch für China eine gute Idee, jetzt Verhandlungen mit der Europäischen Union aufzunehmen, um zu besprechen, wo die Probleme liegen und wie sie gelöst werden können”, sagte Maximilian Butek, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Handelskammer in Ostchina, anlässlich einer am Montag (Ortszeit) veröffentlichten Blitzumfrage zur Stimmung deutscher Firmen vor Ort. “Aus Sicht der Industrie wäre das schlechteste Ergebnis, wenn diese Zölle in Kraft treten”, so Butek.

    Butek argumentierte, dass die EU zwar das Recht habe, eine Untersuchung der Subventionen chinesischer Unternehmen einzuleiten. Allerdings werde die Schlussfolgerung der EU, dass es sich um unfaire Praktiken der Chinesen handele, von den deutschen Firmen vor Ort nicht geteilt. 

    Subventionen sind nicht unfair

    “Im Allgemeinen beschweren sich unsere Unternehmen in diesem Bereich nicht über unfaire Subventionen”, erklärte Butek. Die Förderungen bestünden etwa aus Steueranreizen für den Kauf eines neuen Fahrzeugs, die sowohl für ausländische als auch für lokale Unternehmen gelten. Auch günstiger Strom werde bereitgestellt, von dem ebenfalls jeder profitieren könne. Zudem gebe es Subventionen bei Mietkosten und dem Erwerb von Grundstücken, die ebenfalls nicht auf lokale Unternehmen beschränkt seien.

    Laut der Kammer gibt es zwar eindeutige Überkapazitäten, die zu extrem niedrigen Preisen auch in anderen Industrien führten. Doch unfaire staatliche Subventionen seien hierfür nicht der Hauptgrund. “Wenn man sich die Ursache dieser Überkapazitäten ansieht, liegt es im Wesentlichen daran, dass Unternehmen mehr Kapazitäten aufgebaut haben und die Nachfrage nicht so war, wie sie es erwartet hatten“, so Butek. “Daher haben wir jetzt diese Preiskriege.”

    Überkapazitäten und Preiskrieg

    75 Prozent der befragten Firmen stellten Überkapazitäten in ihrer Branche fest. Fast alle (96 Prozent) dieser Unternehmen gaben an, dass diese Überkapazitäten ihr Geschäft beeinträchtigen. Zudem sind niedrige Preise laut der Kammer-Befragung derzeit die mit Abstand größte Sorge der Firmen. Das Ranking ihrer Herausforderungen sieht wie folgt aus:

    • Für 61 Prozent der Firmen ist der Preisdruck das größte Problem.
    • 51 Prozent klagen über geringe Nachfrage in China.
    • 37 Prozent sehen geopolitische Spannungen als Herausforderung.
    • 25 Prozent beklagen eine schwache globale Nachfrage.

    Butek zeigte sich jedoch überzeugt, dass der Markt selbst die Überkapazitäten regulieren werde. Letztlich werde es zu einer Konsolidierung kommen. Dies sei jedoch ein mittelfristiger Effekt, der nicht “innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre” gelöst werde. Für deutsche Unternehmen heißt es also: Durchhalten und vor allem innovativer werden.

    Chinesen ziehen technologisch davon

    Die Kammer erkannte an, dass chinesische Unternehmen in vielen Bereichen bereits zu Technologieführern geworden seien. Dies sei jedoch keine Überraschung, sondern eine transparente Entwicklung der letzten 20 Jahre. Die chinesische Regierung und der private Sektor hätten über Jahre hinweg strategisch in Forschung und Entwicklung investiert. Diese Entscheidungen trügen nun Früchte.

    Laut Butek sollte die EU auf die Innovationskraft der Chinesen mit strategischen Maßnahmen reagieren, anstatt protektionistische Maßnahmen wie Zölle zu ergreifen. Die EU sollte vielmehr in die eigene Wettbewerbsfähigkeit investieren, anstatt die Autoindustrie durch Zölle zu schützen. Konkret nannte er etwa die Reduzierung der Bürokratie, eine Lösung des Arbeitskräftemangels durch Integration und Bildung sowie mehr Unterstützung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten.

    Lage bessert sich nur langsam

    Aus der Blitzumfrage der Kammer ergaben sich noch weitere Erkenntnisse:

    • Optimismus kehrt nur langsam zurück: 38 Prozent der Befragten erwarten eine Verbesserung in den kommenden sechs Monaten, während 16 Prozent mit einer Verschlechterung der Wirtschaft rechnen. 46 Prozent der Befragten erwarten keine signifikanten Veränderungen in der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas in den nächsten sechs Monaten im Vergleich zu den vorherigen sechs Monaten.
    • Die Geschäftsaussichten erholen sich auf niedrigem Niveau: Nur 38 Prozent der Befragten erwarten eine Verschlechterung der Situation für ihre Branche im Vergleich zu 2023, ein deutlicher Rückgang von 52 Prozent, die dieselbe Frage im letzten Jahr im September bejaht hatten. Gleichzeitig erwarten 29 Prozent, dass sich ihre Branche im Vergleich zum Vorjahr verbessern wird – ein leichter Anstieg um einige Prozentpunkte.
    • Steigender Umsatz, während die Gewinne stagnieren: 39 Prozent der Unternehmen prognostizieren für 2024 einen höheren Umsatz im Vergleich zum Vorjahr. Auf dieselbe Frage im letzten Jahr antworteten nur 13 Prozent, dass sie einen steigenden Umsatz erwarten. Allerdings erwarten nur 25 Prozent, dass ihre Gewinne bis Ende 2024 steigen werden.
    • Eine knappe Mehrheit plant weiter zu investieren: 53 Prozent der Befragten haben vor, ihre Investitionen in China in den nächsten zwei Jahren zu erhöhen; gegenüber noch 61 Prozent im letzten Jahr. 27 Prozent planen keine weiteren Investitionen, während 16 Prozent ihre Investitionen reduzieren wollen.

    Die Kammer war zwar eindeutig in ihrer Forderung, wonach die EU für chinesische Unternehmen keine neuen Schranken errichten soll. Gleichzeitig müsse aber auch China mehr dafür tun, damit fairer Wettbewerb herrscht. “Von Seiten der Politik brauchen deutsche Firmen faire Wettbewerbsbedingungen und ein transparentes rechtliches Umfeld in China”, wiederholte Clas Neumann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Handelskammer in Ostchina, die bereits seit langem bekannte Position der deutschen Unternehmen.

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    News

    G7-Gipfel: Warum auch China am Pranger stand

    Beim zweitägigem G7-Gipfel in Italien haben die Regierungschefs der sieben großen Industriestaaten klare Worte an China gerichtet. Einhellig kritisierten sie Chinas Lieferung von Waffenteilen an Russland und forderten die Führung in Peking auf, jegliche Unterstützung von Russlands Rüstungsindustrie zu beenden. In ihrer Erklärung rufen die G7 China auf, die Lieferung “von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, einschließlich Waffenkomponenten und Ausrüstung, einzustellen”. Die G7 drohten mit Sanktionen gegen Akteure aus China und anderen Ländern, “die Russlands Kriegsmaschinerie materiell unterstützen”.

    “Ernsthaft besorgt” bleiben die G7 auch über das Vorgehen Chinas im Südchinesischen Meer, einschließlich der Taiwanstraße. Sie bezeichneten das Vorgehen von Chinas Küstenwache und Seestreitkräften als “gefährlichen Einsatz”. Die G7-Regierungschefs bekräftigten ihre “entschiedene Ablehnung jeglicher einseitiger Versuche, den Status quo mit Gewalt oder Zwang zu ändern”. flee

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    Korruption bei Adidas: Diese Vorwürfe macht ein anonymer Brief

    Adidas sieht sich in China einem Zeitungsbericht zufolge mit Korruptionsvorwürfen gegen mehrere hochrangige Mitarbeiter konfrontiert. Der Financial Times zufolge werden sie in einem anonymen, angeblich von eigenen Mitarbeitenden stammenden Brief beschuldigt, “Millionen Euro” von Lieferanten und Werbeagenturen angenommen zu haben.

    Ein Sprecher des weltweit zweitgrößten Sportartikelherstellers bestätigte am Sonntag, das anonyme Schreiben erhalten zu haben, das “auf mögliche Verstöße gegen die Verhaltensregeln hindeute”. Adidas gehe der Angelegenheit intensiv nach, auch mithilfe externer Juristen. Man nehme Compliance-Vorwürfe sehr ernst und bekenne sich in allen Märkten zur Einhaltung von Gesetzen und ethischen Standards.

    Der mit “Mitarbeiter von Adidas China” unterzeichnete Brief war laut Financial Times kurzzeitig auch auf der chinesischen Social-Media-Plattform Xiaohongshu zu sehen. Dort werden mehrere Mitarbeiter namentlich genannt, darunter eine Managerin, die für das 250 Millionen Euro schwere Marketingbudget von Adidas in China mitverantwortlich sei. Die genannten Mitarbeiter hätten Rückvergütungen (Kickbacks) von Dienstleistern angenommen, die sie beauftragt hatten. Ein zweiter hochrangiger Mitarbeiter in einer anderen Sparte werde beschuldigt, “Millionen als Bargeld und als Sachleistungen wie Immobilien von Lieferanten” erhalten zu haben.

    Adidas eigentlich wieder im Aufwind in China

    Die Vorwürfe kommen zur Unzeit. Adidas ist nach schwierigen Zeiten in China gerade erst wieder auf dem aufsteigenden Ast. Das Unternehmen hatte – wie andere westliche Textilhersteller – dort nicht nur unter den Folgen der Corona-Pandemie gelitten, sondern auch unter Boykottaufrufen wegen der westlichen Kritik am Umgang Pekings mit der Minderheit der Uiguren in Xinjiang.

    Für 2024 aber rechnet Adidas auf seinem einst größten und lukrativsten Markt wieder mit zweistelligen Wachstumsraten. Das Unternehmen führt den Aufschwung auch darauf zurück, dass sich die China-Tochter unter der Leitung des 2022 angeheuerten Landes-Chefs Adrian Siu stärker auf den chinesischen Modegeschmack ausgerichtet habe. rtr

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    Klima-Dialog: Deshalb geht es auch um die EU-Strafzölle

    Die EU und China treffen sich in dieser Woche zum Umwelt- und Klimadialog. Vizepremier Ding Xuexiang werde von Montag bis Freitag in Brüssel sein, um an dem fünften hochrangigen Klima-Dialog teilzunehmen, teilte das chinesische Außenministerium mit. Ding wird mit EU-Klimakommissar Wope Hoekstra zusammentreffen und danach weiter nach Luxemburg reisen. Nähere Details der Agenda des Treffens wurden zunächst nicht bekannt gegeben.

    Es ist davon auszugehen, dass neben Themen wie der CO₂-Grenzabgabe CBAM auch die jüngst beschlossenen EU-Zölle auf chinesische E-Fahrzeuge eine Rolle bei den Gesprächen spielen werden. Peking versucht, das EU-Vorhaben der Green Transition als Hebel zu nutzen, um die Zölle auf E-Autos abzuwenden. Beide Seiten treffen sich regelmäßig zum Austausch über Klimathemen, zuletzt fand der Dialog im Juli 2023 statt. ari

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    Presseschau

    G7 kritisieren China für Handelspraktiken und Waffenhilfen an Russland SPIEGEL
    Anthony Albanese to meet China”s Premier Li Qiang for high-level talks in Canberra ABC
    Chinese stocks with some of the biggest global upside CNBC
    Europe must work out what role China will play in its decarbonisation agenda FT
    China views Taiwan”s “elimination” as national cause, Taiwan president says REUTERS
    Taiwan’s Lai Ching-te calls on army to shed nationalist legacy to meet China threat FT
    Darum wird China auf die EU-Strafzölle auf E-Autos weniger aggressiv reagieren, als viele denken BUSINESS INSIDER
    Adidas prüft mögliche Korruption in China SÜDDEUTSCHE
    Analyse von Behörden-Dokumenten: China macht in Entwicklungsländern Propaganda für autoritäres Regieren TAGESSPIEGEL
    Betrugsmasche mit Klimazertifikaten FAZ
    Beijing offers pandas as ties with Australia thaw BBC

    Personalien

    Wan Zhi ist seit Mai Critical Risk and Investigation Manager bei TK Elevator. TK Elevator (früher: thyssenkrupp Aufzüge) ist ein Hersteller und Servicedienstleister von Aufzugsanlagen mit Sitz in Düsseldorf. Wan arbeitet von Shanghai aus für den deutschen Konzern.  

    Alexander Hirschle wechselt für die Außenwirtschaftsförderung GTAI Ende Juni von Taipeh nach Singapur. Dort verantwortet er den neuen Hubstandort für Südostasien. Sein Nachfolger wird Dr. Jürgen Maurer, der am 1.8.2024 in Taipeh starten wird. 

    Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

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    Zur Sprache

    Das Schaf rauslassen

    放羊  – fàngyáng – das Schaf rauslassen

    Sie sind im Job eingezäunt von Leitz-Ordnern und Büroablagen, grasen nur fade Salatblätter aus der Kantine, tränken sich in der kargen Kaffeeküche und der Chef schert Ihnen mit seinen strikten Zeitplänen und dem mickrigen Gehalt ordentlich den Pelz? Dann wird es Zeit, dass Sie schuftendes Schäfchen mal wieder auf die Weide gelassen werden! 

    Im chinesischen Neusprech heißt das 放羊 fàngyáng – ein Schaf / die Schafe weiden lassen (von 放 fàng wie in 解放 jiěfàng “freilassen, befreien” und 羊 yáng “Schaf” oder “Ziege”). Das Schaf rauslassen ist also ein Synonym dafür, Auslauf zu haben beziehungsweise sich frei austoben zu können – zum Beispiel, wenn der Chef außer Haus ist. Dann tanzen ja die Mäuse bekanntlich auf dem Tisch (oder springen eben die Schäfchen und Geißlein auf der Wiese). Vergessen Sie also ab und an drohende Deadlines und alle Alltagsabläufe und springen Sie stattdessen über sattgrüne Hügel.

    Auf Chinesisch lässt sich übrigens noch so einiges andere mit dem Verb 放 fàng kombinieren und damit los- oder freilassen. Zum Beispiel Drachen (放风筝 fàng fēngzheng “einen Drachen steigen lassen”) oder Feuerwerkskracher (放鞭炮 fàng biānpào, kurz 放炮 fàngpào). Wer richtig Getöse machen will, der lässt gleich fette Böller los (放大炮 fàng dàpào), im übertragenen Sinne heißt das “spuckt große Töne”. 

    Aber auch die Schulbank und das Lernen kann man in China “loslassen”, das heißt dann 放学 fàngxué “Unterrichtsschluss haben”. Die arbeitende Bevölkerung lässt derweil gerne den Ferien “freien Lauf” (放假 fàngjià “Ferien machen, Urlaub haben”). Und machen wir uns nicht vor: Auch ein Lüftchen kann sich im Büro mal Bahn brechen (放屁 fàngpì “einen fahren lassen, pupsen”) oder – noch unangenehmer – ein “kalter Wind” in Umlauf kommen (放冷风 fàng lěngfēng “Gerüchte streuen”). An der Tischtennisplatte wird im Pingpong-Paradies China derweil auch schon mal “Wasser abgelassen” (放水 fàngshuǐ), sprich man spielt auf Sparflamme und lässt dem weit unterlegenen Gegner hin und wieder auch ein paar Gnadenpünktchen, um ihn nicht ganz so alt aussehen zu lassen. Kurzum: Man verwässert sein eigenes Spiel. 

    Wenn Sie das nächste Mal beim Büro-Nickerchen eine Einschlafblockade haben, erweitern Sie statt Schäfchen zu zählen doch einfach ihre Mandarin-Vokabelherde mit zusätzlichen scha(r)fen Sprachblüten. Zum Warmwerden vielleicht zunächst ein paar Mal “yǎng yáng” sagen, um die Lippen zu lockern. Das heißt nämlich “Schafe züchten” (noch mal: 养羊 yǎng yáng). Vorausgesetzt, Sie treffen die Töne richtig. Sonst wird daraus nämlich irrtümlich ein “Jucken” (痒痒yǎngyang). Aber Sie wollten sich wahrscheinlich ohnehin gerade verzweifelt am Kopf kratzen. 

    Selbst mit einem resignierten “Mäh!” kann man sich als Langnase in China übrigens bei Aussprachehängern nicht aus der Affäre ziehen. Denn “Mäh!” verstehen in China weder Menschen noch Schafe, weil letztere auf den Weiden im Reich der Mitte “miē!” machen. Für diese tierische Lautmalerei gibt es im Mandarin mit 咩 sogar ein eigenes Schriftzeichen! 

    Zum Abschluss noch ein paar wollige Vokabeln, mit deren Beherrschung Sie Ihre Chinesisch-Schäfchen definitiv ins Trockene bringen: 

    • 十羊九牧 shí yáng jiǔ mù – zu viele Köche verderben den Brei; wörtlich: für zehn Schafe (十羊 shí yáng) neun Hirten (九牧 jiǔ mù) bereitstellen 
    • 多歧亡羊 duō qí wáng yáng – auf zu vielen Hochzeiten tanzen; wörtlich: Weil es viele (多duō) Abzweigungen (歧 qí) gibt, seine Schafe (羊 yáng) verlieren (亡 wáng) 
    • 羊群里头出骆驼 yángqún lǐtou chū luòtuo – auffallen wie ein bunter Hund / sich aus der Menge abheben; wörtlich: in der Schafsherde (羊群里头 yángqún lǐtou) taucht ein Kamel auf (出骆驼 chū luòtuo) 
    • 亡羊补牢 wáng yáng bǔ láo – besser spät als nie; wörtlich: Nachdem die Schafe verloren gegangen sind (亡羊 wáng yáng), ihr Gehege (牢 láo) reparieren (补 bǔ); will heißen: Auch wenn ein Unglück schon geschehen ist (Schafe weg), können zur Schadensbegrenzung (oder fürs nächste Mal) Maßnahmen ergriffen werden 
    • 羊毛出在羊身上 yángmáo chū zài yángshēnshàng – alles hat seinen Preis / irgendwann bekommt man die Rechnung präsentiert; wörtlich: Die Schafswolle (羊毛 yángmáo) sprießt auf (出在 chū zài) dem Körper des Schafs (羊身上 yángshēnshàng); sprich: Wer am Schluss geschoren wird, ist immer das Schaf! 

    Wer denkt, das war’s jetzt, und wir seien als deutsche Chinesischlerner in Sachen Schafs-Jargon noch einmal ungeschoren davongekommen, für den habe ich leider noch eine sprachliche Hiobsbotschaft. Insbesondere für all diejenigen, die in den Jahren 1955, 1967, 1979 oder 1991 geboren sind und damit im Jahr des Schafs (羊年 yángnián) … oder doch eher im Jahr der Ziege? An dieser Übersetzungsfrage scheiden sich nämlich selbst in China die Geister, da nicht eindeutig geklärt ist, ob das Tierkreiszeichen 羊 nun auf die Ziege (山羊 shānyáng) oder das Schaf (绵羊 miányáng) verweist

    Wie dem auch sei: Glücklicherweise steht das nächste Yang-Jahr ja erst 2027 an. Es bleibt also noch genügend Zeit für sprachliche Feldforschung und Übersetzungsknobelei. Und letztlich macht es am Ende wohl auch keinen Unterschied, ob man nun als drahtige Bergziege oder als wolliges Weideschaf auf saftigem Grün “das Schaf rauslässt” – Hauptsache ist doch, man hat im Alltag genügend Auslauf. 

    Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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