Table.Briefing: China

G20-Gipfel + WTO im Zollstreit

Liebe Leserin, lieber Leser,

Xi Jinping hat seinen Besuch beim G20-Gipfel in Indien kommende Woche abgesagt. Warum – darüber wird wild spekuliert. Abgesehen von seinen möglichen Gründen ist auch interessant, was sein Fernbleiben für den Gipfel bedeutet. Die westlichen Staaten weisen ihm eine hohe Symbolik zu, schreibt Christiane Kühl. Für den indischen Premierminister Modi wird es als Gastgeber ohnehin nicht einfach, eine gemeinsame Abschlusserklärung zu erreichen. Bei einem Scheitern droht das Treffen, an Relevanz zu verlieren.

Ebenfalls an Relevanz verlieren Entscheidungen der WTO, wenn die Beschlüsse keine Konsequenzen haben, schreibt Amelie Richter. Die Welthandelsorganisation hat zwar entschieden, dass die gegenseitigen Zusatzzölle zwischen den USA und China regelwidrig sind. Als Nächstes würde das Berufungsgremium der WTO, der Appellate Body, zum Einsatz kommen. Doch dieses ist seit 2019 nicht beschlussfähig. Am Ende ist das ohnehin ein Nebenkriegsschauplatz. Der Fokus im Handelskrieg liegt inzwischen zum Beispiel bei Export- und Investitionsrestriktionen sowie der Einschränkung von Technologietransfer. Und dafür existiert kein internationales Regelwerk.

Kein Zugang für Hunde und Chinesen” – diese Aufschrift soll Ende des 19. Jahrhunderts am Eingang eines Shanghaier Parks geprangt haben. Ein Mythos, der sich seit mehr als 100 Jahren hält. Wahr ist die Geschichte nicht, doch das will Peking nicht hören – denn für den Nationalismus hat die Mär durchaus einen Nutzen. Das berichtet Johnny Erling und enthüllt einen weiteren, hartnäckigen Mythos.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Wochenausklang!

Ihre
Julia Fiedler
Bild von Julia  Fiedler

Analyse

G20-Gipfel der globalen Krisen – ohne Xi

“Welcome to G20 2023 India”: In Delhi hängen tausende Plakate, die die Gäste willkommen heißen.

Kurz vor Beginn eines der wichtigsten Gipfeltreffen spekuliert die Welt noch immer über die kürzliche Absage von Chinas Staatschef Xi Jinping. Ist der 70-Jährige etwa erschöpft vom vielen Reisen? Möchte Xi vermeiden, beim G20-Gipfel in Neu-Delhi auf US-Präsident Joe Biden zu treffen? Oder solidarisiert er sich mit Russlands Wladimir Putin, der ebenfalls zu Hause bleibt? Die japanische Zeitung Nikkei Asia mutmaßt über innenpolitische Gründe. Xi könnte in die Kritik von Parteiveteranen geraten sein, weil die Wirtschaft nicht läuft.

Wir werden es vermutlich nie so genau erfahren. Doch bekannt ist, dass Xi gern im Mittelpunkt steht und das Geschehen dirigiert. Beim Brics-Gipfel kürzlich in Johannesburg hatte Xi sich noch mit der Erweiterung um sechs neue Mitglieder gegenüber Indiens Premier Narendra Modi durchsetzen können. In Neu-Delhi steht aber Indien im Rampenlicht – nicht China. Xi habe inzwischen eine Art “Kaiser-Mentalität” und erwarte, dass Würdenträger zu ihm kommen, zitierte Bloomberg Alfred Wu, Politikprofessor an der National University of Singapore. “Auf dem Brics-Gipfel erhielt er eine Sonderbehandlung. Das wäre bei G20 unwahrscheinlich gewesen.”

Indien sieht Xis Absage nicht als Problem

Noch ist unklar, wie sehr Xis Absage das Gipfeltreffen verändern wird. Immerhin ist mit Ministerpräsident Li Qiang der Regierungschef anwesend, der für die bei G20 vorrangig diskutierten Wirtschaftsfragen verantwortlich ist – und ohnehin auf Weisung seines Chefs agieren wird. “Wir sind bereit, mit allen Parteien für den Erfolg des G20-Gipfels zusammenzuarbeiten”, sagte Außenamtssprecherin Mao Ning.

Xis Fernbleiben sei nicht ungewöhnlich und habe nichts mit Indien zu tun, beschwichtigte denn auch am Mittwoch der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar. Es werde die Verhandlungen über ein Konsens-Kommuniqué nicht beeinträchtigen. Reuters zitierte einen französischen Diplomaten, Indien unternehme “sehr ernsthafte Anstrengungen”, um den beim letzten G20-Gipfel auf Bali erzielten Konsens über die Ukraine zu bewahren.

Kritik aus Deutschland an Xis Fernbleiben

Ob Narendra Modi derweil die Absage seines Rivalen Xi als Affront sieht, ist nicht bekannt. Vor allem die westlichen Staaten weisen Xis Absage eine hohe Symbolik zu. “Präsident Xis Entscheidung, ohne triftigen Grund dem G20-Gipfel in Neu-Delhi fernzubleiben, ist ein weiterer Weckruf für den Westen”, sagt etwa Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. “Die chinesische Führung sendet damit zwei klare Signale: Erstens soll damit offenkundig verhindert werden, dass Chinas Rivale Indien einen erfolgreichen Gipfel organisiert. Zweitens untergräbt die chinesische Führung so die Glaubwürdigkeit der G20 als zentrales Format für das Management der globalen Ordnung”, sagte der SPD-Politiker Table.Media.

Der außenpolitische Sprecher der FDP Ulrich Lechte meint, Xis Fernbleiben könne “als deutliches Zeichen gegenüber den G20-Staaten verstanden werden, dass Chinas Prioritäten sich verschoben haben und sich Xi augenscheinlich verstärkt alternativen internationalen Foren wie dem Brics-Format zuwenden möchte”. Zudem weiche Xi auf diese Weise unangenehmen Gesprächsthemen aus, “wie dem eigenen politischen und wirtschaftlichen Lavieren zwischen Russland und dem Westen”, so Lechte zu Table.Media.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) werden nach Neu-Delhi reisen, ebenso wie alle wichtigen Staats- und Regierungschefs des Westens. Der G20-Gipfel bleibe trotz der Abwesenheit von Russland und dem chinesischen Staatschef wichtig, sagte Scholz Ende vergangener Woche im Interview mit dem Deutschlandfunk.

G20-Gipfel: Niedrige Erwartungen

Generell sind die Erwartungen sehr gering, dass es zu einem konsensfähigen Abschlussdokument kommt. In den Vorgesprächen der vergangenen Tage sind laut Reuters zudem neue Streitpunkte beim Klimaschutz aufgetaucht, die das Ringen um die Abschlusserklärung zusätzlich erschwerten. Und wie auf Bali will Russland jedwede Kritik an seiner Ukraine-Invasion aus Debatten und Dokumenten heraushalten. Schon bei vorangegangenen Treffen auf Ministerebene lehnten China und Russland jeweils Passagen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ab und verhinderten damit gemeinsame Kommuniqués. Die verfahrene Lage dürfte das gesamte Verhandlungsgeschick Modis erfordern. Wie gut er dieser Rolle gewachsen ist, ist völlig offen. Und damit auch das Ergebnis des Gipfels.

Kommt eine substanzielle Abschlusserklärung zustande, gehen Indien und die G20 gestärkt aus dem Gipfel hervor. Scheitert ein Kommuniqué am Streit zwischen dem Westen und dem Rest, oder zwischen einzelnen Großmächten, verliert das Format wohl an Relevanz. Es wäre das erste Mal in der Geschichte der G20. “Dies wäre ein schwerer Schlag für Modi, der gehofft hatte, den Gipfel zu nutzen, um Indiens Platz an der Weltspitze zu festigen”, schreibt Tristen Naylor, G20-Experte an der Universität Cambridge, in einem Gastbeitrag für Nikkei Asia. Auch wäre es “ein starkes Signal dafür, dass die geopolitischen Spaltungen auf absehbare Zeit bestehen bleiben werden”.

Indiens Erfolg hängt nicht nur an der Abschlusserklärung

Modi dürfte in jedem Fall auch aus Eigeninteresse alles unternehmen, um ein respektables Ergebnis zu erzielen. Dazu gehören neben dem Kommuniqué schließlich auch noch andere, vom Gastgeber selbst gesetzte Themen. Auch für den indischen Außenpolitik-Experten und Journalisten Shashank Mattoo ist die Abschlusserklärung aus Sicht Indiens nicht der einzige Maßstab für den Gipfelerfolg. Modi wolle die G20 um die Afrikanische Union (AU) erweitern – nach dem Modell der EU-Mitgliedschaft – sowie schnellere Schuldennachlässe für arme Länder und eine Reform der Weltbank erreichen. Erfolge bei diesen Themen würden Indiens Ruf als Sprachrohr der Entwicklungsländer stärken, glaubt Mattoo.

Die G20 sei gerade wegen der vielen globalen Krisen – Pandemie, Krieg, hohe Getreide- und Energiepreise – derzeit relevant: “Ein Wort definiert die G20: Krise”, schrieb Mattoo auf X (früher Twitter). Denn gegründet wurde die G20-Gruppe 1999 als Reaktion auf die Asienkrise; regelmäßige Gipfeltreffen gibt es seit der globalen Finanzkrise von 2008. Ziel der G20 ist es, die Weltwirtschaft zu stabilisieren. “Da es bei G20 um Krisen geht, sind sie gerade jetzt wieder wichtig.” Für Indien ist Mattoo der Meinung: “Allein die Anwesenheit wichtiger internationaler Persönlichkeiten in Delhi wird ein großer PR-Gewinn sein.” Auch wenn dann eben Li statt Xi auf dem Bild ist.

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WTO-Entscheidung bleibt ohne Folgen

Die Zoll-Schlacht zwischen den USA und China, die im Jahr 2018 begonnen hat, ist seit vergangenem Monat offiziell auf beiden Seiten ein Verstoß gegen die Handelsregeln der Welthandelsorganisation (WTO). Im August urteilte das WTO-Streitbeilegungsgremium, dass Chinas “zusätzliche Zollmaßnahmen” unvereinbar mit mehreren Artikeln des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) seien. Die Entscheidung über die Zölle wird aller Voraussicht nach aber ohne konkrete Folgen bleiben – wie auch schon im Fall der USA. Nicht zuletzt auch durch die dysfunktionale WTO wird der Handelskrieg zwischen den beiden Wirtschaftsmächten mittlerweile in ganz andere Bereiche gedrängt.

Rückblick: Der damalige US-Präsident Donald Trump führte 2018 Zölle auf Stahl- und Aluminiumimporte aus China ein, 25 Prozent auf Stahl, zehn Prozent auf Aluminium. Auch entsprechende Produkte aus der Europäischen Union, Norwegen, der Schweiz und der Türkei fielen unter Trumps Zollerhöhung. Begründet wurde das mit einer Gefahr für die nationale Sicherheit, weil die USA zu abhängig von den Importen seien. Peking begann deshalb ein Streitschlichtungsverfahren bei der WTO, das wegen der Corona-Pandemie und anderer Gründe aber erstmal nicht wirklich vorankam.

Während des laufenden Verfahrens beschloss China, als Vergeltungsmaßnahme für die US-Zölle ebenfalls weitere Zollabgaben zu verlangen. Davon betroffen waren Einfuhren im Wert von rund drei Milliarden US-Dollar – insgesamt 128 US-Produkte, darunter auch Obst und Schweinefleisch.

WTO: China verstößt gegen zwei Punkte

Im vergangenen Jahr entschied dann das Streitbeilegungsgremium der WTO, dass die trumpschen Zölle auf Stahl und Aluminium gegen mehrere Bestimmungen des GATT verstießen. Das Gremium stellte außerdem fest, dass die Zölle nicht durch die in dem Abkommen vorgesehenen Sicherheitsausnahmen gerechtfertigt seien, da sie nicht in Kriegszeiten oder in Zeiten schwerwiegender internationaler Spannungen eingeführt worden seien. Washington legte Einspruch gegen die Entscheidung ein.

Im August entschied das WTO-Gremium nun, dass auch die chinesischen Zölle nicht rechtens waren, und gab dafür zwei Gründe an, wie Rolf Langhammer, Senior Researcher am Kiel Institut für Weltwirtschaft, erklärt: Zum einen seien die Zusatzzölle höher als die in den normalen Zoll-Listen angegeben Abgaben für gebundene Zölle, zum anderen werde damit gegen die Meistbegünstigungsklausel der WTO verstoßen. Von gebundenen Zöllen kann nicht einfach abgewichen werden. Dass die Zusatzzölle höher ausfallen, ist ein Regelverstoß.

Hinzu kommt: “Wenn ich also jetzt Vergeltungszölle erhebe gegen die USA, dann begünstige ich indirekt die Importe aus anderen Ländern bei den gleichen Produkten”, erklärt Langhammer. Dass die USA diesen Vorteil nicht bekommen, widerspricht den WTO-Regeln des Meistbegünstigungsprinzips (most favoured nation). Demnach müssen Handelsvorteile, die einem Vertragspartner gewährt werden, im Zuge der Gleichberechtigung allen WTO-Vertragspartnern gewährt werden. Peking will das WTO-Urteil nun prüfen lassen.

“Ein juristisches Niemandsland”

Ökonom Langhammer spricht von einem “Hornberger Schießen”, also viel Getöse ohne Ergebnis – denn das Berufungsgremium der WTO (Appellate Body), das jetzt in beiden Fällen zum Einsatz kommen müsste, ist seit 2019 nicht beschlussfähig. “Insofern hängt man da in einem juristischen Niemandsland“, sagt der Experte. So sind die US-Zusatzzölle auf Stahl und Aluminium aus China weiterhin in Kraft. Trotz der Rüge der WTO berufen sich die USA weiterhin auf die nationale Sicherheit.

Mit der EU war im Oktober 2021 eine Einigung gefunden und der WTO-Rechtsstreit über die Zölle ausgesetzt worden: Beide Seiten legten ihren Handelsstreit über Stahl- und Aluminiumzölle aus der Trump-Ära vorübergehend bei, indem sie eine gemeinsame Erklärung über eine “Globale Vereinbarung über nachhaltigen Stahl und Aluminium” unterzeichneten. Damit wurden die gegenseitigen Zölle abgeschafft und vereinbart, gemeinsam auf einen dekarbonisierten Stahlsektor hinzuarbeiten. Bis Ende Oktober muss hier ein Abkommen unterzeichnet werden, sonst treten die Zölle wieder in Kraft.

Bei den Auseinandersetzungen vor der WTO gehe es ohne die Entscheidungsfähigkeit des Appellate Body ohnehin nur noch um Gesichtswahrung, sagt Ökonom Langhammer. Ein Nebenkrieg. Der Hauptschauplatz liege bereits an ganz anderer Stelle: “Die entscheidenden Konflikte verschieben sich von der Handelsebene auf den Kapitalverkehr.” Darunter fallen beispielsweise Export- und Investitionsrestriktionen sowie die Einschränkung von Technologietransfer, erklärt Langhammer. “Und dafür haben wir kein internationales Regelwerk. Das ist das Problem.”

Im Fokus: Investitionen und Wissenstransfer

Die Regierung unter Joe Biden erließ neue Beschränkungen für den Verkauf sensibler Halbleitertechnologie und will US-Investitionen in China in sensiblen Bereichen wie Halbleitern, künstlicher Intelligenz und Quanten-Computing begrenzen. Brüssel denkt ebenfalls über ein Outbound Investment Screening nach, also über die Überprüfung ausgehender Investitionen als Teil der Strategie für wirtschaftliche Sicherheit. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck betonte zuletzt in dieser Woche, dass darüber gesprochen werden müsse, wie in Europa die Outbound-Kontrollen in strategischen Bereichen Teil der Politik werden können und das Abfließen von Wissen verhindert werden kann.

Das nächste Kapitel für den Handelskrieg zwischen USA und China ist also bereits aufgeschlagen – der Zollstreit bei der WTO sei angesichts dessen eigentlich schon fast “Old School”, sagt Langhammer. Die Patt-Situation wird sich zuletzt aber auch wegen der anstehenden Präsidentschaftswahl in den USA 2024 nicht auflösen. Die WTO wieder funktionsfähig zu machen, ist derzeit keine Priorität für Biden. Und die Zölle zurückzunehmen, wäre politisch zu riskant.

Trump provoziert mit Zoll-Thema

Auch weil ein guter Bekannter das Zoll-Thema für den Wahlkampf nutzt: Donald Trump kündigte Ende August an, dass er bei einer Wiederwahl Zölle für in die USA eingeführte Produkte in Betracht zieht. “Ich denke, wenn Unternehmen hier reinkommen und ihre Produkte in den Vereinigten Staaten abladen, sollten sie automatisch, sagen wir, eine Steuer von zehn Prozent zahlen”, sagte Trump in einem Interview. Er argumentierte, dass der Zehn-Prozent-Zoll auf Importe das Geschäft nicht zum Erliegen bringen, sondern “wirklich viel Geld bringen würde”.

Ein Sprecher des Weißen Haus erklärte dazu, ein solcher “universeller Basiszoll” würde das Wirtschaftswachstum bremsen und die Inflation anheizen. Ein automatischer Zoll käme “einem Rückzug der USA aus dem gesamten System der Regeln des Welthandels gleich“, schrieb der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom Paul Krugman.

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Termine

11.-12.09., 9:00-13:00 (15:00 Uhr Beijing time)
Agora Energiewende, Seminar (Präsenz und Online): The 3rd Europe-China conference on clean energy transition Mehr

13.09., 10:00 Uhr (16:00 Uhr Beijing time)
PwC, Webinar: China Compass Spezial “Automobilindustrie” Mehr

14.09., 18:00 Uhr
Chinaforum Bayern, Vortrag und Get-together (in München): De-Risking China – Risiken im Chinageschäft identifizieren und verringern Mehr

15.09., 14:00 Uhr
Konfuzius-Institut Nürnberg-Erlangen, Comic-Ausstellung (in Erlangen): Yu Zhen – Unter leuchtender Oberfläche Mehr

News

Nordkorea-Besuch vor Kims Russland-Reise

Kurz vor der voraussichtlichen Reise von Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un nach Russland will Peking eine hochrangige Delegation nach Nordkorea entsenden – die zweite innerhalb von weniger als zwei Monaten.

Die Gruppe unter Leitung des Politbüromitglieds Liu Guozhong soll am Samstag nach Nordkorea reisen, um an den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Gründung des Landes teilzunehmen, berichtet Bloomberg unter Bezug auf die offizielle nordkoreanische Nachrichtenagentur. Die erste Delegation aus China seit Beginn der Pandemie war Anfang Juli nach Nordkorea gereist. An dieser Reise hatten auch Vertreter Russlands teilgenommen.

Es ist unklar, warum Liu, der auch den Titel des Vizepremiers trägt, nach Nordkorea reist, obwohl er sich mit Gesundheits- und Landwirtschaftsfragen befasst. Die Delegation könnte der chinesischen Regierung Gelegenheit geben, sich mit Kim zu beraten, bevor der nordkoreanische Staatschef nächste Woche zu einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin nach Russland reist. Beamte des Weißen Hauses erklärten, sie glaubten, dass sich die Gespräche zwischen Kim und Putin auf Waffenlieferungen aus Nordkorea konzentrieren werden, um den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu unterstützen. Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, warnte Pjöngjang, es werde für die Lieferung von Waffen “einen Preis zahlen”. cyb

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EU-Ausschuss: Mehr Recycling bei kritischen Rohstoffen

Das Europaparlament möchte bei der Sicherung strategischer Rohstoffe noch mehr auf Recycling setzen. Der Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie des Europaparlaments stimmte am Donnerstag mit großer Mehrheit für einen Bericht der zuständigen EU-Parlamentarierin Nicola Beer (FDP) zu EU-Rohstoff-Initiative, dem Critical Raw Materials Act (CRMA). In dem Papier wird auf ein weitaus stärkeres Recycling von Abfällen gedrängt, um sicherzustellen, dass die EU über Rohstoffe wie Lithium, Nickel und Kobalt verfügt und dadurch weniger von Drittländern wie China abhängig ist. Der Text schlägt vor, dass die EU die Recyclingkapazität für jeden der 16 als strategisch eingestuften Rohstoffe bis 2030 um zehn Prozent erhöhen soll. Außerdem sollen dem Papier zufolge jeweils drei Viertel dieser im EU-Abfall enthaltenen Materialien gesammelt und verarbeitet werden, technische und wirtschaftliche Machbarkeit vorausgesetzt.

“Der Industrieausschuss hat heute das Fundament für stabile europäische Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit gelegt”, sagte Beer. “Der abgestimmte Bericht liefert einen klaren Bauplan hin zu europäischer Versorgungssicherheit mit einer Forschungs- und Innovationsoffensive entlang der gesamten Wertschöpfungskette.” Bei der Einfuhr soll bis 2030 kein Drittland mehr als 65 Prozent des jährlichen Verbrauchs des Rohstoffes liefern. Dabei soll “der Verringerung der Abhängigkeit von unzuverlässigen Partnern, die die Werte der EU, die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit nicht teilen, Vorrang eingeräumt werden”, heißt es in dem Text.

Über den Bericht muss noch im EU-Parlament abgestimmt werden, er ist dann die Verhandlungsposition für das Gespräch mit den anderen EU-Institutionen (Trilog). Die Abstimmung im Europaparlament soll bereits in der kommenden Woche bei der Plenarsitzung in Straßburg erfolgen. ari

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90 Zusagen für BRI-Treffen

90 Länder haben ihre Teilnahme an der im Oktober stattfindenden Konferenz zur “Belt and Road-Initiative” (BRI) bestätigt. Das teilte die Regierung in Peking am Donnerstag mit. Zum dritten “Belt and Road Forum for International Cooperation” (BRF) werden mehrere ausländische Staatsoberhäupter erwartet, darunter der serbische Präsident Aleksandar Vucic und der argentinische Präsident Alberto Fernandez. 2023 wird das 10-jährige Bestehen der BRI gefeiert. rtr

  • Neue Seidenstraße

Verdacht: Wähler-Beeinflussung durch KI

Mit einem Netzwerk von gefakten Konten in sozialen Medien und dem Einsatz künstlicher Intelligenz soll China versucht haben, Wähler in den USA zu beeinflussen. Diesen Verdacht äußerten Wissenschaftler von Microsoft am Donnerstag. Ein Sprecher der chinesischen Botschaft in Washington entgegnete, die Anschuldigungen, China nutze KI, um gefälschte Social-Media-Konten zu erstellen, seien “voller Vorurteile und böswilliger Spekulationen”. China trete für die sichere Nutzung von KI ein.

In einem neuen Bericht erklärte Microsoft, dass die Social-Media-Konten Teil einer mutmaßlich chinesischen Operation seien. Die Kampagne weise Ähnlichkeiten mit Aktivitäten auf, die das US-Justizministerium “einer Elitegruppe innerhalb des chinesischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit” zuschreibe, so Microsoft. Die Autoren gaben nicht an, welche Social-Media-Plattformen betroffen waren, aber die Screenshots in ihrem Bericht zeigten Beiträge von Facebook und X (zuvor Twitter).

Der Bericht unterstreicht die angespannte Lage in den sozialen Medien vor den Präsidentschaftswahlen 2024. Die US-Regierung hatte bereits Russland beschuldigt, sich mit einer verdeckten Social-Media-Kampagne in die Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 eingemischt zu haben. Washington hat China, Russland und den Iran mehrmals davor gewarnt, die US-amerikanischen Wähler zu beeinflussen. rtr

  • Künstliche Intelligenz
  • USA

Presseschau

China proklamiert einen Teil Russlands für sich – warum Putin nichts dagegen tut RND
Expansive Territorialansprüche: China zieht seine Grenzen neu RP-ONLINE
Neue Daten – Folge der Sanktionen: Russland exportiert so viel nach China wie noch nie BERLINER-ZEITUNG
China entkoppelt sich zunehmend von USA FINANZMARKTWELT
Joe Biden’s visit to Hanoi is a signal to China ECONOMIST
Suspected Chinese operatives using AI generated images to spread disinformation among US voters, Microsoft says CNN
ASEAN makes deals but no progress on South China Sea, Myanmar NIKKEI
Wie China Journalisten in Haft hält: Unmenschliche Bedingungen FAZ
Menschenrechte: China und die Schattenseiten der Sonnenenergie DERSTANDARD
China: Informationspflicht gibt Hackern womöglich Zugriff auf Sicherheitslücken HEISE
KI in China: Etwas late to the show ZEIT
Sachsens Energieminister Wolfram Günther hält Photovoltaik für eine “strategische Achillesferse” Europas TAG24
Chinas Infrastruktur-Großprojekt: Die “neue Seidenstraße” – vom Westen unterschätzt? TAGESSCHAU
Sinkende Exporte: Chinas Außenhandel schrumpft weiter TAGESSCHAU
Anhaltender Preisrückgang: Kippt China in die Verschuldungsspirale? N-TV
This Is the China New Normal. Get Used to It BLOOMBERG
China-Elektroautobauer haben deutlichen Kostenvorteil gegenüber westlichen Herstellern ECOMENTO
E-Autos aus China wollen europäischen Herstellern Konkurrenz machen DERSTANDARD
Fernost-Stars der IAA: Diese neuen Autos aus China sollte man kennen N-TV
BYD greift in Deutschland an – und stürzt in China ab WIWO
Dumping aus China gefährdet Solarindustrie in Sachsen ZEIT
China’s major banks to lower rates on existing first-home mortgages REUTERS
Norway’s $1 Trillion Sovereign-Wealth Fund Will Close Its China Office WSJ
Chinas große Staatsbanken senken Zinsen für bestimmte Immobilienkredite HANDELSBLATT

Standpunkt

Chinas politische Mythen

Von Johnny Erling
Johnny Erling schreibt die Kolumne für die China.Table Professional Briefings

Hongkongs Kungfu-Superstar Bruce Lee (Li Xiaolong) machte sich auch als chinesischer Patriot einen Namen. Im Actionfilm “Fist of Fury” (精武門), der in Deutschland unter dem Titel “Todesgrüße aus Shanghai” in die Kinos kam, spielt er einen Karatekämpfer im Shanghai der 1920er Jahre. Als er einen Park in der britischen Niederlassung am Bund besuchen will, verwehrt ihm ein indischer Torwächter im Dienst der Konzessionspolizei den Zutritt und deutet auf das hoch an der Mauer angebrachte Verbotsschild: “Chinesen und Hunde dürfen hier nicht hinein.” Währenddessen spaziert eine Ausländerin mit ihrem Schoßhund unbehelligt in den Park ebenso wie japanische Rabauken. Sie provozieren Lee, er hätte als Chinese hier nichts zu suchen. Darauf verprügelt er sie, springt in die Höhe und zertrümmert mit einem Fußtritt das Holzschild. Die Wiederholung in Zeitlupe macht die Aktion noch effektvoller.

Der Kungfu-Kick ging in die cineastische Geschichte ein. Das Publikum in Hongkong applaudierte, als es den Film 1972 sah. Nach der Kulturrevolution wurde er auch in der Volksrepublik gezeigt und verschaffte Bruce Lee einen Ehrenplatz im Olymp chinesischer Nationalisten.

Die Story war erfunden, der Drehort ein Fake, ebenso wie das Eintrittsverbot für “Chinesen und Hunde”. Aus Kostengründen ließ Hongkong die Szene nicht am Shanghaier Bund, sondern vor Macaos ältestem Park “Jardin Luís de Camões” drehen. “Es gibt keinen Beleg dafür, dass diese Aufschrift tatsächlich existierte. Sie wird heute für einen Mythos gehalten”, schrieben die Sinologen Robert Bickers und Jeffrey Wasserstrom, die nach aufwändigen Recherchen 1995 eine Abhandlung darüber für “China Quarterly” schrieben. “Praktisch jedes Lehrbuch, jede Populärgeschichte, jede wissenschaftliche Arbeit und jeder Reiseführer, die zwischen den frühen 1950er und frühen 1980er Jahren in der Volksrepublik veröffentlicht wurden und sich mit Shanghai befassten, enthielten mindestens ein paar Zeilen über das Schild.”

“Kein Zugang für Hunde und Chinesen”:  Screenshot des gefakten Park-Eingangsschilds für den 1972 gedrehten patriotischen Bruce Lee-Kung-Fu-Film “Fist of Fury”.

Peking ließ die erniedrigende Gleichsetzung von Chinesen mit Hunden politisch instrumentalisieren. Seit über 100 Jahren wird die Mär vom Park als Tatsache nacherzählt, auch im Ausland. Sie dient als anschauliches Beispiel, wie menschenverachtend die früheren Kolonialmächte mit China umgingen und untermauert das Narrativ von der Partei, die ihr unterjochtes Volk befreite.

Historisch stimmt, dass die Shanghaier diskriminiert wurden. Der Zugang zu dem im August 1868 unter dem Namen “Public Garden” von den Briten in ihrem Konzessionsgebiet angelegten Park blieb mehr als 60 Jahre nur Ausländern vorbehalten. Erst 1928 wurde der Park als “The Bund Garden” (外滩公园) für die Allgemeinheit geöffnet.

Inzwischen durchstöberten japanische Forscher, chinesische und ausländische Historiker Lokalarchive, städtische Akten und zeitgenössische Zeitungen. Sie fanden heraus, dass die englischsprachigen Parkordnungen zwischen 1881 und 1917 mehrfach überarbeitet wurden. Die Fassung von 1903 nennt noch ausdrücklich das Wort “Chinesen”, die nur in den Park eintreten dürften, wenn sie als Bedienstete Ausländer begleiteten. Die Bezeichnung “Chinese” wird danach nicht mehr verwendet. In der bekanntesten Fassung der Parkordnung von 1917 steht unter Punkt Eins, der Park sei “reserved for the Foreign Community”. Punkt 4 untersagt die Mitnahme von Hunden und Fahrrädern. Doch nirgends findet sich die beleidigende Konnotation: Eintritt verboten “für Chinesen und Hunde”.

Screenshot aus der Verfilmung des epischen Sing- und Tanzschauspiels “Der Osten ist Rot”.

Die Shanghaier nahmen die Verbote nicht einfach so hin. Die Forscher entdeckten Petitionen und Protestbriefe in englischer Sprache aus den Jahren 1881 und 1885. Gutsituierte Bürger warfen dem Städtischen Rat in der Internationalen Niederlassung Diskriminierung vor und verlangten gleichberechtigte Nutzung des Freizeitparks: “Wir zahlen Steuern – welches Gesetz verbietet uns den Eintritt?” Die britischen Verwalter behaupteten, der Park sei zu klein für alle, oder verlangten “zivilisierte Kleidung”. Um den wachsenden Unmut zu besänftigen, bot die Verwaltung zwischen 1886 und 1889 Eintrittskarten für Einheimische an. 1889 wurden 183 Karten verkauft. Die Kritik ebbte nicht ab: Denn Ausländer brauchten keine Karten zu kaufen.

Längst war die Aufregung um den Park in- und außerhalb Chinas zum Politikum geworden, vor allem, nachdem sich eine vermutlich von jungen Patrioten erfundene Behauptung verbreitet hatte, auf den Schildern stünde: “Zugang für Chinesen und Hunde verboten”. Prominente Zeitzeugen vom bürgerlichen Revolutionär Sun Yat-sen (孙中山) bis zu Chinas Universalgelehrten Guo Moruo (郭沫若) entrüsteten sich über die schmachvolle Beleidigung aller Chinesen. 1923 schrieb Guo: Ihm sei geraten worden, westliche Kleidung zu tragen, um den Park besuchen zu können. Das wäre, als ob er vorgäbe, ein “Orient-Ausländer” mit “dem Status eines Hundes” (穿洋服去是假充东洋人,生就了的狗命) zu sein. Auch Ausländer solidarisierten sich, der deutsche China-Gelehrte Richard Wilhelm verurteilte in seinem 1928 erschienenen Buch “Ostasien” (Potsdam, S.123) die Sonderrechte der Niederlassungen.

Der Abgeordnete der englischen Arbeiterpartei C. Malone fotografierte in Shanghai im Mai 1926 das Schild mit der Parkordnung von 1917 und veröffentlichte das Foto in seinem Buch “Das neue China” (Berlin 1928, S. 36). Darunter schrieb er, es sei ein “Dokument der Fremdherrschaft” mit der Aufschrift Eintritt “für Chinesen, Hunde und Fahrräder verboten”. Dumm nur, dass das nicht so auf dem Schild stand.

Die tatsächliche Shanghaier Parkordnung aus dem Jahre 1917. Unter Punkt 1 steht: “Reserved for the foreign community”, unter Punkt 4 “Dogs and bicycles are not admitted”.

Chinesische Forscher, die in der liberalen Atmosphäre der 1990er Jahre dem Mythos nachrecherchierten, mussten erfahren, dass ihre neuen Erkenntnisse über die Parkregeln nicht willkommen waren. Im Zuge der Re-Ideologisierung Chinas durch den seit 2012 amtierenden Parteichef Xi Jinping machten sie sich des historischen Nihilismus verdächtig, wenn sie revolutionäre Legenden auf den Prüfstand stellten. Die Partei duldete keine Zweifel, ob an angeblichen Heldentaten etwa des Mustersoldaten Lei Feng oder der Volksbefreiungsarmee im Koreakrieg. Aber an kaum einer anderen Mär hielt Peking so hartnäckig fest, wie an der Story vom Shanghaier Park und seinem Schild “Kein Zugang für Hunde und Chinesen.”

Schließlich wurde das Schild Teil des Bühnenbilds von Chinas berühmtestem epischen Sing- und Tanzschauspiel “Der Osten ist Rot” (东方红). Das 1964 inszenierte gigantische Bühnenschauspiel zur Verherrlichung des Sieges der chinesischen Revolution und ihres Führers Mao Zedong prägte eine ganze Generation. So wichtig war der Pekinger Führung das mehrstündige Propaganda-Spektakel, dass Premier Zhou Enlai die Regie führte.

Der britische Abgeordnete und China-Reisende C. Malone druckte in seinem 1928 erschienenen Buch “Das neue China” den ersten fotografischen “Beweis” für das Parkverbot. Doch das Bild zeigt schlicht die Parkordnung von 1917.

Und auch Mao griff ein, enthüllten Reporter der Nachrichtenagentur China News (中新网). Nachdem er am 2. Oktober 1964 die Uraufführung gesehen hatte, verlangte er, das Bühnenbild zu ändern und schon im ersten Akt das Verbotsschild des Shanghaier Parks aufzustellen, “um realistischer darzustellen, wie das alte China von den imperialistischen Mächten schikaniert wurde”. Kein Wunder, dass Peking bis heute an diesem Narrativ festhält.

Noch weniger lässt die Partei an einem anderen politischen Mythos rütteln, den heute auch im westlichen Ausland viele unterschreiben, wonach Chinesen ein besonders friedliebendes Volk und Pazifisten nach innen wie nach außen sind. Schon vor hundert Jahren nannte der deutsche Marxist und bekannte China-Experte Karl August Wittfogel solche Bekundungen “nichtsnutzige Märchen”. In seinem 1925 erschienenen Buch “Das erwachende China” (Agis Verlag Wien) kritisierte er: “Die Chinesen (‘die’ Chinesen) werden mit Vorliebe als ein idyllisches, friedfertiges, ‘pazifistisches’ Volk bezeichnet … Was den lämmerhaften, ‘zahmen’ Charakter des chinesischen Volkes anbetrifft, so ist das ein nichtsnutziges Märchen. … China ist das klassische Land der inneren Wirren, der Empörungen und Bürgerkriege. … Kaum ein Jahrzehnt ohne einen inneren Aufstand … Das macht uns dafür aber die national-revolutionäre Energie, die heute drüben aufgebracht wird, leichter verständlich, als die Theorie vom chinesischen ‘Idyll’.”

Historische Illustration des Shanghaier “Public Garden” am Bund. “Der Platz, wo Chinesen und Hunde nicht hineindurften” steht als Überschrift über dem Artikel, der 2008 in der Pekinger Zeitschrift “Blick auf die Geschichte” (看历史 2008年第10期) erschien und sich kritisch mit dem Mythos auseinandersetzt.

Für Chinas Parteichef Xi ist es Kalkül, wenn er heute Chinas Friedfertigkeit als Alleinstellungsmerkmal seiner Nation anpreist. Wörtlich sagt er gerade in einer Rede über Chinas kulturelles Erbe, die in der Septemberausgabe der ZK-Zeitschrift Qiushi erschien: “Die chinesische Zivilisation zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Friedlichkeit aus. Frieden, friedliche Beziehungen und Harmonie sind die Konzepte, die die chinesische Zivilisation sich seit mehr als 5000 Jahren vererbt hat. Die Friedlichkeit der chinesischen Zivilisation bestimmt im Wesentlichen, dass China von Anfang bis heute Erbauer des Weltfriedens ist.” (中华文明具有突出的和平性。和平、和睦、和谐是中华文明五千多年来一直传承的理念,….。中华文明的和平性,从根本上决定了中国始终是世界和平的建设者)

Pekinger Parteizeitungen schreiben sogar vom chinesischen “Friedens-Gen” (和平基因). Dass es so etwas gibt, darf heute in China noch weniger angezweifelt werden, als die Mär vom Shanghaier Park. Die Partei legitimiert sich über ihre politischen Mythen.

Personalien

Der Staatsrat hat die Neubesetzung einiger Positionen im Staatsapparat bekannt gegeben:

Li Yang ist neuer Vizeminister für Verkehr. Wang Hongzhi wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission für die Überwachung und Verwaltung staatseigener Vermögenswerte des Staatsrats ernannt.

Ding Chibiao löst Zhang Tao als Vizepräsident der Chinesischen Akademie der Wissenschaften ab. Zhang Zi übernimmt die Position als stellvertretender Leiter der Staatlichen Verwaltung für Wissenschaft, Technologie und Industrie für die Landesverteidigung.

Li Li ist künftig Leiter der Nationalen Verwaltung für Medizinprodukte und löst damit Jiao Hong ab. Chen Xiaojun ist nicht länger stellvertretender Leiter der chinesischen Erdbebenbehörde.

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Dessert

Von der höchsten Brücke der Welt springen? Bloß nicht! Würde man ein Gebäude von 200 Stockwerken neben die Beipanjiang-Brücke stellen, könnte man von der Fahrbahn aufs Dach schauen – so wahnsinnig hoch spannt sich die Fahrbahn in Liupanshui, Guizhou, über ein Tal. Extremsportler brauchen den Adrenalinschub bekanntlich, und so haben sich einige die furchteinflößenden 565 Meter beim “2023 International High Bridge Extreme Sports Invitational Tournament” in die Tiefe gestürzt. Guten Flug!

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Xi Jinping hat seinen Besuch beim G20-Gipfel in Indien kommende Woche abgesagt. Warum – darüber wird wild spekuliert. Abgesehen von seinen möglichen Gründen ist auch interessant, was sein Fernbleiben für den Gipfel bedeutet. Die westlichen Staaten weisen ihm eine hohe Symbolik zu, schreibt Christiane Kühl. Für den indischen Premierminister Modi wird es als Gastgeber ohnehin nicht einfach, eine gemeinsame Abschlusserklärung zu erreichen. Bei einem Scheitern droht das Treffen, an Relevanz zu verlieren.

    Ebenfalls an Relevanz verlieren Entscheidungen der WTO, wenn die Beschlüsse keine Konsequenzen haben, schreibt Amelie Richter. Die Welthandelsorganisation hat zwar entschieden, dass die gegenseitigen Zusatzzölle zwischen den USA und China regelwidrig sind. Als Nächstes würde das Berufungsgremium der WTO, der Appellate Body, zum Einsatz kommen. Doch dieses ist seit 2019 nicht beschlussfähig. Am Ende ist das ohnehin ein Nebenkriegsschauplatz. Der Fokus im Handelskrieg liegt inzwischen zum Beispiel bei Export- und Investitionsrestriktionen sowie der Einschränkung von Technologietransfer. Und dafür existiert kein internationales Regelwerk.

    Kein Zugang für Hunde und Chinesen” – diese Aufschrift soll Ende des 19. Jahrhunderts am Eingang eines Shanghaier Parks geprangt haben. Ein Mythos, der sich seit mehr als 100 Jahren hält. Wahr ist die Geschichte nicht, doch das will Peking nicht hören – denn für den Nationalismus hat die Mär durchaus einen Nutzen. Das berichtet Johnny Erling und enthüllt einen weiteren, hartnäckigen Mythos.

    Ich wünsche Ihnen einen schönen Wochenausklang!

    Ihre
    Julia Fiedler
    Bild von Julia  Fiedler

    Analyse

    G20-Gipfel der globalen Krisen – ohne Xi

    “Welcome to G20 2023 India”: In Delhi hängen tausende Plakate, die die Gäste willkommen heißen.

    Kurz vor Beginn eines der wichtigsten Gipfeltreffen spekuliert die Welt noch immer über die kürzliche Absage von Chinas Staatschef Xi Jinping. Ist der 70-Jährige etwa erschöpft vom vielen Reisen? Möchte Xi vermeiden, beim G20-Gipfel in Neu-Delhi auf US-Präsident Joe Biden zu treffen? Oder solidarisiert er sich mit Russlands Wladimir Putin, der ebenfalls zu Hause bleibt? Die japanische Zeitung Nikkei Asia mutmaßt über innenpolitische Gründe. Xi könnte in die Kritik von Parteiveteranen geraten sein, weil die Wirtschaft nicht läuft.

    Wir werden es vermutlich nie so genau erfahren. Doch bekannt ist, dass Xi gern im Mittelpunkt steht und das Geschehen dirigiert. Beim Brics-Gipfel kürzlich in Johannesburg hatte Xi sich noch mit der Erweiterung um sechs neue Mitglieder gegenüber Indiens Premier Narendra Modi durchsetzen können. In Neu-Delhi steht aber Indien im Rampenlicht – nicht China. Xi habe inzwischen eine Art “Kaiser-Mentalität” und erwarte, dass Würdenträger zu ihm kommen, zitierte Bloomberg Alfred Wu, Politikprofessor an der National University of Singapore. “Auf dem Brics-Gipfel erhielt er eine Sonderbehandlung. Das wäre bei G20 unwahrscheinlich gewesen.”

    Indien sieht Xis Absage nicht als Problem

    Noch ist unklar, wie sehr Xis Absage das Gipfeltreffen verändern wird. Immerhin ist mit Ministerpräsident Li Qiang der Regierungschef anwesend, der für die bei G20 vorrangig diskutierten Wirtschaftsfragen verantwortlich ist – und ohnehin auf Weisung seines Chefs agieren wird. “Wir sind bereit, mit allen Parteien für den Erfolg des G20-Gipfels zusammenzuarbeiten”, sagte Außenamtssprecherin Mao Ning.

    Xis Fernbleiben sei nicht ungewöhnlich und habe nichts mit Indien zu tun, beschwichtigte denn auch am Mittwoch der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar. Es werde die Verhandlungen über ein Konsens-Kommuniqué nicht beeinträchtigen. Reuters zitierte einen französischen Diplomaten, Indien unternehme “sehr ernsthafte Anstrengungen”, um den beim letzten G20-Gipfel auf Bali erzielten Konsens über die Ukraine zu bewahren.

    Kritik aus Deutschland an Xis Fernbleiben

    Ob Narendra Modi derweil die Absage seines Rivalen Xi als Affront sieht, ist nicht bekannt. Vor allem die westlichen Staaten weisen Xis Absage eine hohe Symbolik zu. “Präsident Xis Entscheidung, ohne triftigen Grund dem G20-Gipfel in Neu-Delhi fernzubleiben, ist ein weiterer Weckruf für den Westen”, sagt etwa Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. “Die chinesische Führung sendet damit zwei klare Signale: Erstens soll damit offenkundig verhindert werden, dass Chinas Rivale Indien einen erfolgreichen Gipfel organisiert. Zweitens untergräbt die chinesische Führung so die Glaubwürdigkeit der G20 als zentrales Format für das Management der globalen Ordnung”, sagte der SPD-Politiker Table.Media.

    Der außenpolitische Sprecher der FDP Ulrich Lechte meint, Xis Fernbleiben könne “als deutliches Zeichen gegenüber den G20-Staaten verstanden werden, dass Chinas Prioritäten sich verschoben haben und sich Xi augenscheinlich verstärkt alternativen internationalen Foren wie dem Brics-Format zuwenden möchte”. Zudem weiche Xi auf diese Weise unangenehmen Gesprächsthemen aus, “wie dem eigenen politischen und wirtschaftlichen Lavieren zwischen Russland und dem Westen”, so Lechte zu Table.Media.

    Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) werden nach Neu-Delhi reisen, ebenso wie alle wichtigen Staats- und Regierungschefs des Westens. Der G20-Gipfel bleibe trotz der Abwesenheit von Russland und dem chinesischen Staatschef wichtig, sagte Scholz Ende vergangener Woche im Interview mit dem Deutschlandfunk.

    G20-Gipfel: Niedrige Erwartungen

    Generell sind die Erwartungen sehr gering, dass es zu einem konsensfähigen Abschlussdokument kommt. In den Vorgesprächen der vergangenen Tage sind laut Reuters zudem neue Streitpunkte beim Klimaschutz aufgetaucht, die das Ringen um die Abschlusserklärung zusätzlich erschwerten. Und wie auf Bali will Russland jedwede Kritik an seiner Ukraine-Invasion aus Debatten und Dokumenten heraushalten. Schon bei vorangegangenen Treffen auf Ministerebene lehnten China und Russland jeweils Passagen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ab und verhinderten damit gemeinsame Kommuniqués. Die verfahrene Lage dürfte das gesamte Verhandlungsgeschick Modis erfordern. Wie gut er dieser Rolle gewachsen ist, ist völlig offen. Und damit auch das Ergebnis des Gipfels.

    Kommt eine substanzielle Abschlusserklärung zustande, gehen Indien und die G20 gestärkt aus dem Gipfel hervor. Scheitert ein Kommuniqué am Streit zwischen dem Westen und dem Rest, oder zwischen einzelnen Großmächten, verliert das Format wohl an Relevanz. Es wäre das erste Mal in der Geschichte der G20. “Dies wäre ein schwerer Schlag für Modi, der gehofft hatte, den Gipfel zu nutzen, um Indiens Platz an der Weltspitze zu festigen”, schreibt Tristen Naylor, G20-Experte an der Universität Cambridge, in einem Gastbeitrag für Nikkei Asia. Auch wäre es “ein starkes Signal dafür, dass die geopolitischen Spaltungen auf absehbare Zeit bestehen bleiben werden”.

    Indiens Erfolg hängt nicht nur an der Abschlusserklärung

    Modi dürfte in jedem Fall auch aus Eigeninteresse alles unternehmen, um ein respektables Ergebnis zu erzielen. Dazu gehören neben dem Kommuniqué schließlich auch noch andere, vom Gastgeber selbst gesetzte Themen. Auch für den indischen Außenpolitik-Experten und Journalisten Shashank Mattoo ist die Abschlusserklärung aus Sicht Indiens nicht der einzige Maßstab für den Gipfelerfolg. Modi wolle die G20 um die Afrikanische Union (AU) erweitern – nach dem Modell der EU-Mitgliedschaft – sowie schnellere Schuldennachlässe für arme Länder und eine Reform der Weltbank erreichen. Erfolge bei diesen Themen würden Indiens Ruf als Sprachrohr der Entwicklungsländer stärken, glaubt Mattoo.

    Die G20 sei gerade wegen der vielen globalen Krisen – Pandemie, Krieg, hohe Getreide- und Energiepreise – derzeit relevant: “Ein Wort definiert die G20: Krise”, schrieb Mattoo auf X (früher Twitter). Denn gegründet wurde die G20-Gruppe 1999 als Reaktion auf die Asienkrise; regelmäßige Gipfeltreffen gibt es seit der globalen Finanzkrise von 2008. Ziel der G20 ist es, die Weltwirtschaft zu stabilisieren. “Da es bei G20 um Krisen geht, sind sie gerade jetzt wieder wichtig.” Für Indien ist Mattoo der Meinung: “Allein die Anwesenheit wichtiger internationaler Persönlichkeiten in Delhi wird ein großer PR-Gewinn sein.” Auch wenn dann eben Li statt Xi auf dem Bild ist.

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    WTO-Entscheidung bleibt ohne Folgen

    Die Zoll-Schlacht zwischen den USA und China, die im Jahr 2018 begonnen hat, ist seit vergangenem Monat offiziell auf beiden Seiten ein Verstoß gegen die Handelsregeln der Welthandelsorganisation (WTO). Im August urteilte das WTO-Streitbeilegungsgremium, dass Chinas “zusätzliche Zollmaßnahmen” unvereinbar mit mehreren Artikeln des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) seien. Die Entscheidung über die Zölle wird aller Voraussicht nach aber ohne konkrete Folgen bleiben – wie auch schon im Fall der USA. Nicht zuletzt auch durch die dysfunktionale WTO wird der Handelskrieg zwischen den beiden Wirtschaftsmächten mittlerweile in ganz andere Bereiche gedrängt.

    Rückblick: Der damalige US-Präsident Donald Trump führte 2018 Zölle auf Stahl- und Aluminiumimporte aus China ein, 25 Prozent auf Stahl, zehn Prozent auf Aluminium. Auch entsprechende Produkte aus der Europäischen Union, Norwegen, der Schweiz und der Türkei fielen unter Trumps Zollerhöhung. Begründet wurde das mit einer Gefahr für die nationale Sicherheit, weil die USA zu abhängig von den Importen seien. Peking begann deshalb ein Streitschlichtungsverfahren bei der WTO, das wegen der Corona-Pandemie und anderer Gründe aber erstmal nicht wirklich vorankam.

    Während des laufenden Verfahrens beschloss China, als Vergeltungsmaßnahme für die US-Zölle ebenfalls weitere Zollabgaben zu verlangen. Davon betroffen waren Einfuhren im Wert von rund drei Milliarden US-Dollar – insgesamt 128 US-Produkte, darunter auch Obst und Schweinefleisch.

    WTO: China verstößt gegen zwei Punkte

    Im vergangenen Jahr entschied dann das Streitbeilegungsgremium der WTO, dass die trumpschen Zölle auf Stahl und Aluminium gegen mehrere Bestimmungen des GATT verstießen. Das Gremium stellte außerdem fest, dass die Zölle nicht durch die in dem Abkommen vorgesehenen Sicherheitsausnahmen gerechtfertigt seien, da sie nicht in Kriegszeiten oder in Zeiten schwerwiegender internationaler Spannungen eingeführt worden seien. Washington legte Einspruch gegen die Entscheidung ein.

    Im August entschied das WTO-Gremium nun, dass auch die chinesischen Zölle nicht rechtens waren, und gab dafür zwei Gründe an, wie Rolf Langhammer, Senior Researcher am Kiel Institut für Weltwirtschaft, erklärt: Zum einen seien die Zusatzzölle höher als die in den normalen Zoll-Listen angegeben Abgaben für gebundene Zölle, zum anderen werde damit gegen die Meistbegünstigungsklausel der WTO verstoßen. Von gebundenen Zöllen kann nicht einfach abgewichen werden. Dass die Zusatzzölle höher ausfallen, ist ein Regelverstoß.

    Hinzu kommt: “Wenn ich also jetzt Vergeltungszölle erhebe gegen die USA, dann begünstige ich indirekt die Importe aus anderen Ländern bei den gleichen Produkten”, erklärt Langhammer. Dass die USA diesen Vorteil nicht bekommen, widerspricht den WTO-Regeln des Meistbegünstigungsprinzips (most favoured nation). Demnach müssen Handelsvorteile, die einem Vertragspartner gewährt werden, im Zuge der Gleichberechtigung allen WTO-Vertragspartnern gewährt werden. Peking will das WTO-Urteil nun prüfen lassen.

    “Ein juristisches Niemandsland”

    Ökonom Langhammer spricht von einem “Hornberger Schießen”, also viel Getöse ohne Ergebnis – denn das Berufungsgremium der WTO (Appellate Body), das jetzt in beiden Fällen zum Einsatz kommen müsste, ist seit 2019 nicht beschlussfähig. “Insofern hängt man da in einem juristischen Niemandsland“, sagt der Experte. So sind die US-Zusatzzölle auf Stahl und Aluminium aus China weiterhin in Kraft. Trotz der Rüge der WTO berufen sich die USA weiterhin auf die nationale Sicherheit.

    Mit der EU war im Oktober 2021 eine Einigung gefunden und der WTO-Rechtsstreit über die Zölle ausgesetzt worden: Beide Seiten legten ihren Handelsstreit über Stahl- und Aluminiumzölle aus der Trump-Ära vorübergehend bei, indem sie eine gemeinsame Erklärung über eine “Globale Vereinbarung über nachhaltigen Stahl und Aluminium” unterzeichneten. Damit wurden die gegenseitigen Zölle abgeschafft und vereinbart, gemeinsam auf einen dekarbonisierten Stahlsektor hinzuarbeiten. Bis Ende Oktober muss hier ein Abkommen unterzeichnet werden, sonst treten die Zölle wieder in Kraft.

    Bei den Auseinandersetzungen vor der WTO gehe es ohne die Entscheidungsfähigkeit des Appellate Body ohnehin nur noch um Gesichtswahrung, sagt Ökonom Langhammer. Ein Nebenkrieg. Der Hauptschauplatz liege bereits an ganz anderer Stelle: “Die entscheidenden Konflikte verschieben sich von der Handelsebene auf den Kapitalverkehr.” Darunter fallen beispielsweise Export- und Investitionsrestriktionen sowie die Einschränkung von Technologietransfer, erklärt Langhammer. “Und dafür haben wir kein internationales Regelwerk. Das ist das Problem.”

    Im Fokus: Investitionen und Wissenstransfer

    Die Regierung unter Joe Biden erließ neue Beschränkungen für den Verkauf sensibler Halbleitertechnologie und will US-Investitionen in China in sensiblen Bereichen wie Halbleitern, künstlicher Intelligenz und Quanten-Computing begrenzen. Brüssel denkt ebenfalls über ein Outbound Investment Screening nach, also über die Überprüfung ausgehender Investitionen als Teil der Strategie für wirtschaftliche Sicherheit. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck betonte zuletzt in dieser Woche, dass darüber gesprochen werden müsse, wie in Europa die Outbound-Kontrollen in strategischen Bereichen Teil der Politik werden können und das Abfließen von Wissen verhindert werden kann.

    Das nächste Kapitel für den Handelskrieg zwischen USA und China ist also bereits aufgeschlagen – der Zollstreit bei der WTO sei angesichts dessen eigentlich schon fast “Old School”, sagt Langhammer. Die Patt-Situation wird sich zuletzt aber auch wegen der anstehenden Präsidentschaftswahl in den USA 2024 nicht auflösen. Die WTO wieder funktionsfähig zu machen, ist derzeit keine Priorität für Biden. Und die Zölle zurückzunehmen, wäre politisch zu riskant.

    Trump provoziert mit Zoll-Thema

    Auch weil ein guter Bekannter das Zoll-Thema für den Wahlkampf nutzt: Donald Trump kündigte Ende August an, dass er bei einer Wiederwahl Zölle für in die USA eingeführte Produkte in Betracht zieht. “Ich denke, wenn Unternehmen hier reinkommen und ihre Produkte in den Vereinigten Staaten abladen, sollten sie automatisch, sagen wir, eine Steuer von zehn Prozent zahlen”, sagte Trump in einem Interview. Er argumentierte, dass der Zehn-Prozent-Zoll auf Importe das Geschäft nicht zum Erliegen bringen, sondern “wirklich viel Geld bringen würde”.

    Ein Sprecher des Weißen Haus erklärte dazu, ein solcher “universeller Basiszoll” würde das Wirtschaftswachstum bremsen und die Inflation anheizen. Ein automatischer Zoll käme “einem Rückzug der USA aus dem gesamten System der Regeln des Welthandels gleich“, schrieb der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom Paul Krugman.

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    Termine

    11.-12.09., 9:00-13:00 (15:00 Uhr Beijing time)
    Agora Energiewende, Seminar (Präsenz und Online): The 3rd Europe-China conference on clean energy transition Mehr

    13.09., 10:00 Uhr (16:00 Uhr Beijing time)
    PwC, Webinar: China Compass Spezial “Automobilindustrie” Mehr

    14.09., 18:00 Uhr
    Chinaforum Bayern, Vortrag und Get-together (in München): De-Risking China – Risiken im Chinageschäft identifizieren und verringern Mehr

    15.09., 14:00 Uhr
    Konfuzius-Institut Nürnberg-Erlangen, Comic-Ausstellung (in Erlangen): Yu Zhen – Unter leuchtender Oberfläche Mehr

    News

    Nordkorea-Besuch vor Kims Russland-Reise

    Kurz vor der voraussichtlichen Reise von Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un nach Russland will Peking eine hochrangige Delegation nach Nordkorea entsenden – die zweite innerhalb von weniger als zwei Monaten.

    Die Gruppe unter Leitung des Politbüromitglieds Liu Guozhong soll am Samstag nach Nordkorea reisen, um an den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Gründung des Landes teilzunehmen, berichtet Bloomberg unter Bezug auf die offizielle nordkoreanische Nachrichtenagentur. Die erste Delegation aus China seit Beginn der Pandemie war Anfang Juli nach Nordkorea gereist. An dieser Reise hatten auch Vertreter Russlands teilgenommen.

    Es ist unklar, warum Liu, der auch den Titel des Vizepremiers trägt, nach Nordkorea reist, obwohl er sich mit Gesundheits- und Landwirtschaftsfragen befasst. Die Delegation könnte der chinesischen Regierung Gelegenheit geben, sich mit Kim zu beraten, bevor der nordkoreanische Staatschef nächste Woche zu einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin nach Russland reist. Beamte des Weißen Hauses erklärten, sie glaubten, dass sich die Gespräche zwischen Kim und Putin auf Waffenlieferungen aus Nordkorea konzentrieren werden, um den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu unterstützen. Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, warnte Pjöngjang, es werde für die Lieferung von Waffen “einen Preis zahlen”. cyb

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    • Waffenlieferungen

    EU-Ausschuss: Mehr Recycling bei kritischen Rohstoffen

    Das Europaparlament möchte bei der Sicherung strategischer Rohstoffe noch mehr auf Recycling setzen. Der Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie des Europaparlaments stimmte am Donnerstag mit großer Mehrheit für einen Bericht der zuständigen EU-Parlamentarierin Nicola Beer (FDP) zu EU-Rohstoff-Initiative, dem Critical Raw Materials Act (CRMA). In dem Papier wird auf ein weitaus stärkeres Recycling von Abfällen gedrängt, um sicherzustellen, dass die EU über Rohstoffe wie Lithium, Nickel und Kobalt verfügt und dadurch weniger von Drittländern wie China abhängig ist. Der Text schlägt vor, dass die EU die Recyclingkapazität für jeden der 16 als strategisch eingestuften Rohstoffe bis 2030 um zehn Prozent erhöhen soll. Außerdem sollen dem Papier zufolge jeweils drei Viertel dieser im EU-Abfall enthaltenen Materialien gesammelt und verarbeitet werden, technische und wirtschaftliche Machbarkeit vorausgesetzt.

    “Der Industrieausschuss hat heute das Fundament für stabile europäische Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit gelegt”, sagte Beer. “Der abgestimmte Bericht liefert einen klaren Bauplan hin zu europäischer Versorgungssicherheit mit einer Forschungs- und Innovationsoffensive entlang der gesamten Wertschöpfungskette.” Bei der Einfuhr soll bis 2030 kein Drittland mehr als 65 Prozent des jährlichen Verbrauchs des Rohstoffes liefern. Dabei soll “der Verringerung der Abhängigkeit von unzuverlässigen Partnern, die die Werte der EU, die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit nicht teilen, Vorrang eingeräumt werden”, heißt es in dem Text.

    Über den Bericht muss noch im EU-Parlament abgestimmt werden, er ist dann die Verhandlungsposition für das Gespräch mit den anderen EU-Institutionen (Trilog). Die Abstimmung im Europaparlament soll bereits in der kommenden Woche bei der Plenarsitzung in Straßburg erfolgen. ari

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    90 Zusagen für BRI-Treffen

    90 Länder haben ihre Teilnahme an der im Oktober stattfindenden Konferenz zur “Belt and Road-Initiative” (BRI) bestätigt. Das teilte die Regierung in Peking am Donnerstag mit. Zum dritten “Belt and Road Forum for International Cooperation” (BRF) werden mehrere ausländische Staatsoberhäupter erwartet, darunter der serbische Präsident Aleksandar Vucic und der argentinische Präsident Alberto Fernandez. 2023 wird das 10-jährige Bestehen der BRI gefeiert. rtr

    • Neue Seidenstraße

    Verdacht: Wähler-Beeinflussung durch KI

    Mit einem Netzwerk von gefakten Konten in sozialen Medien und dem Einsatz künstlicher Intelligenz soll China versucht haben, Wähler in den USA zu beeinflussen. Diesen Verdacht äußerten Wissenschaftler von Microsoft am Donnerstag. Ein Sprecher der chinesischen Botschaft in Washington entgegnete, die Anschuldigungen, China nutze KI, um gefälschte Social-Media-Konten zu erstellen, seien “voller Vorurteile und böswilliger Spekulationen”. China trete für die sichere Nutzung von KI ein.

    In einem neuen Bericht erklärte Microsoft, dass die Social-Media-Konten Teil einer mutmaßlich chinesischen Operation seien. Die Kampagne weise Ähnlichkeiten mit Aktivitäten auf, die das US-Justizministerium “einer Elitegruppe innerhalb des chinesischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit” zuschreibe, so Microsoft. Die Autoren gaben nicht an, welche Social-Media-Plattformen betroffen waren, aber die Screenshots in ihrem Bericht zeigten Beiträge von Facebook und X (zuvor Twitter).

    Der Bericht unterstreicht die angespannte Lage in den sozialen Medien vor den Präsidentschaftswahlen 2024. Die US-Regierung hatte bereits Russland beschuldigt, sich mit einer verdeckten Social-Media-Kampagne in die Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 eingemischt zu haben. Washington hat China, Russland und den Iran mehrmals davor gewarnt, die US-amerikanischen Wähler zu beeinflussen. rtr

    • Künstliche Intelligenz
    • USA

    Presseschau

    China proklamiert einen Teil Russlands für sich – warum Putin nichts dagegen tut RND
    Expansive Territorialansprüche: China zieht seine Grenzen neu RP-ONLINE
    Neue Daten – Folge der Sanktionen: Russland exportiert so viel nach China wie noch nie BERLINER-ZEITUNG
    China entkoppelt sich zunehmend von USA FINANZMARKTWELT
    Joe Biden’s visit to Hanoi is a signal to China ECONOMIST
    Suspected Chinese operatives using AI generated images to spread disinformation among US voters, Microsoft says CNN
    ASEAN makes deals but no progress on South China Sea, Myanmar NIKKEI
    Wie China Journalisten in Haft hält: Unmenschliche Bedingungen FAZ
    Menschenrechte: China und die Schattenseiten der Sonnenenergie DERSTANDARD
    China: Informationspflicht gibt Hackern womöglich Zugriff auf Sicherheitslücken HEISE
    KI in China: Etwas late to the show ZEIT
    Sachsens Energieminister Wolfram Günther hält Photovoltaik für eine “strategische Achillesferse” Europas TAG24
    Chinas Infrastruktur-Großprojekt: Die “neue Seidenstraße” – vom Westen unterschätzt? TAGESSCHAU
    Sinkende Exporte: Chinas Außenhandel schrumpft weiter TAGESSCHAU
    Anhaltender Preisrückgang: Kippt China in die Verschuldungsspirale? N-TV
    This Is the China New Normal. Get Used to It BLOOMBERG
    China-Elektroautobauer haben deutlichen Kostenvorteil gegenüber westlichen Herstellern ECOMENTO
    E-Autos aus China wollen europäischen Herstellern Konkurrenz machen DERSTANDARD
    Fernost-Stars der IAA: Diese neuen Autos aus China sollte man kennen N-TV
    BYD greift in Deutschland an – und stürzt in China ab WIWO
    Dumping aus China gefährdet Solarindustrie in Sachsen ZEIT
    China’s major banks to lower rates on existing first-home mortgages REUTERS
    Norway’s $1 Trillion Sovereign-Wealth Fund Will Close Its China Office WSJ
    Chinas große Staatsbanken senken Zinsen für bestimmte Immobilienkredite HANDELSBLATT

    Standpunkt

    Chinas politische Mythen

    Von Johnny Erling
    Johnny Erling schreibt die Kolumne für die China.Table Professional Briefings

    Hongkongs Kungfu-Superstar Bruce Lee (Li Xiaolong) machte sich auch als chinesischer Patriot einen Namen. Im Actionfilm “Fist of Fury” (精武門), der in Deutschland unter dem Titel “Todesgrüße aus Shanghai” in die Kinos kam, spielt er einen Karatekämpfer im Shanghai der 1920er Jahre. Als er einen Park in der britischen Niederlassung am Bund besuchen will, verwehrt ihm ein indischer Torwächter im Dienst der Konzessionspolizei den Zutritt und deutet auf das hoch an der Mauer angebrachte Verbotsschild: “Chinesen und Hunde dürfen hier nicht hinein.” Währenddessen spaziert eine Ausländerin mit ihrem Schoßhund unbehelligt in den Park ebenso wie japanische Rabauken. Sie provozieren Lee, er hätte als Chinese hier nichts zu suchen. Darauf verprügelt er sie, springt in die Höhe und zertrümmert mit einem Fußtritt das Holzschild. Die Wiederholung in Zeitlupe macht die Aktion noch effektvoller.

    Der Kungfu-Kick ging in die cineastische Geschichte ein. Das Publikum in Hongkong applaudierte, als es den Film 1972 sah. Nach der Kulturrevolution wurde er auch in der Volksrepublik gezeigt und verschaffte Bruce Lee einen Ehrenplatz im Olymp chinesischer Nationalisten.

    Die Story war erfunden, der Drehort ein Fake, ebenso wie das Eintrittsverbot für “Chinesen und Hunde”. Aus Kostengründen ließ Hongkong die Szene nicht am Shanghaier Bund, sondern vor Macaos ältestem Park “Jardin Luís de Camões” drehen. “Es gibt keinen Beleg dafür, dass diese Aufschrift tatsächlich existierte. Sie wird heute für einen Mythos gehalten”, schrieben die Sinologen Robert Bickers und Jeffrey Wasserstrom, die nach aufwändigen Recherchen 1995 eine Abhandlung darüber für “China Quarterly” schrieben. “Praktisch jedes Lehrbuch, jede Populärgeschichte, jede wissenschaftliche Arbeit und jeder Reiseführer, die zwischen den frühen 1950er und frühen 1980er Jahren in der Volksrepublik veröffentlicht wurden und sich mit Shanghai befassten, enthielten mindestens ein paar Zeilen über das Schild.”

    “Kein Zugang für Hunde und Chinesen”:  Screenshot des gefakten Park-Eingangsschilds für den 1972 gedrehten patriotischen Bruce Lee-Kung-Fu-Film “Fist of Fury”.

    Peking ließ die erniedrigende Gleichsetzung von Chinesen mit Hunden politisch instrumentalisieren. Seit über 100 Jahren wird die Mär vom Park als Tatsache nacherzählt, auch im Ausland. Sie dient als anschauliches Beispiel, wie menschenverachtend die früheren Kolonialmächte mit China umgingen und untermauert das Narrativ von der Partei, die ihr unterjochtes Volk befreite.

    Historisch stimmt, dass die Shanghaier diskriminiert wurden. Der Zugang zu dem im August 1868 unter dem Namen “Public Garden” von den Briten in ihrem Konzessionsgebiet angelegten Park blieb mehr als 60 Jahre nur Ausländern vorbehalten. Erst 1928 wurde der Park als “The Bund Garden” (外滩公园) für die Allgemeinheit geöffnet.

    Inzwischen durchstöberten japanische Forscher, chinesische und ausländische Historiker Lokalarchive, städtische Akten und zeitgenössische Zeitungen. Sie fanden heraus, dass die englischsprachigen Parkordnungen zwischen 1881 und 1917 mehrfach überarbeitet wurden. Die Fassung von 1903 nennt noch ausdrücklich das Wort “Chinesen”, die nur in den Park eintreten dürften, wenn sie als Bedienstete Ausländer begleiteten. Die Bezeichnung “Chinese” wird danach nicht mehr verwendet. In der bekanntesten Fassung der Parkordnung von 1917 steht unter Punkt Eins, der Park sei “reserved for the Foreign Community”. Punkt 4 untersagt die Mitnahme von Hunden und Fahrrädern. Doch nirgends findet sich die beleidigende Konnotation: Eintritt verboten “für Chinesen und Hunde”.

    Screenshot aus der Verfilmung des epischen Sing- und Tanzschauspiels “Der Osten ist Rot”.

    Die Shanghaier nahmen die Verbote nicht einfach so hin. Die Forscher entdeckten Petitionen und Protestbriefe in englischer Sprache aus den Jahren 1881 und 1885. Gutsituierte Bürger warfen dem Städtischen Rat in der Internationalen Niederlassung Diskriminierung vor und verlangten gleichberechtigte Nutzung des Freizeitparks: “Wir zahlen Steuern – welches Gesetz verbietet uns den Eintritt?” Die britischen Verwalter behaupteten, der Park sei zu klein für alle, oder verlangten “zivilisierte Kleidung”. Um den wachsenden Unmut zu besänftigen, bot die Verwaltung zwischen 1886 und 1889 Eintrittskarten für Einheimische an. 1889 wurden 183 Karten verkauft. Die Kritik ebbte nicht ab: Denn Ausländer brauchten keine Karten zu kaufen.

    Längst war die Aufregung um den Park in- und außerhalb Chinas zum Politikum geworden, vor allem, nachdem sich eine vermutlich von jungen Patrioten erfundene Behauptung verbreitet hatte, auf den Schildern stünde: “Zugang für Chinesen und Hunde verboten”. Prominente Zeitzeugen vom bürgerlichen Revolutionär Sun Yat-sen (孙中山) bis zu Chinas Universalgelehrten Guo Moruo (郭沫若) entrüsteten sich über die schmachvolle Beleidigung aller Chinesen. 1923 schrieb Guo: Ihm sei geraten worden, westliche Kleidung zu tragen, um den Park besuchen zu können. Das wäre, als ob er vorgäbe, ein “Orient-Ausländer” mit “dem Status eines Hundes” (穿洋服去是假充东洋人,生就了的狗命) zu sein. Auch Ausländer solidarisierten sich, der deutsche China-Gelehrte Richard Wilhelm verurteilte in seinem 1928 erschienenen Buch “Ostasien” (Potsdam, S.123) die Sonderrechte der Niederlassungen.

    Der Abgeordnete der englischen Arbeiterpartei C. Malone fotografierte in Shanghai im Mai 1926 das Schild mit der Parkordnung von 1917 und veröffentlichte das Foto in seinem Buch “Das neue China” (Berlin 1928, S. 36). Darunter schrieb er, es sei ein “Dokument der Fremdherrschaft” mit der Aufschrift Eintritt “für Chinesen, Hunde und Fahrräder verboten”. Dumm nur, dass das nicht so auf dem Schild stand.

    Die tatsächliche Shanghaier Parkordnung aus dem Jahre 1917. Unter Punkt 1 steht: “Reserved for the foreign community”, unter Punkt 4 “Dogs and bicycles are not admitted”.

    Chinesische Forscher, die in der liberalen Atmosphäre der 1990er Jahre dem Mythos nachrecherchierten, mussten erfahren, dass ihre neuen Erkenntnisse über die Parkregeln nicht willkommen waren. Im Zuge der Re-Ideologisierung Chinas durch den seit 2012 amtierenden Parteichef Xi Jinping machten sie sich des historischen Nihilismus verdächtig, wenn sie revolutionäre Legenden auf den Prüfstand stellten. Die Partei duldete keine Zweifel, ob an angeblichen Heldentaten etwa des Mustersoldaten Lei Feng oder der Volksbefreiungsarmee im Koreakrieg. Aber an kaum einer anderen Mär hielt Peking so hartnäckig fest, wie an der Story vom Shanghaier Park und seinem Schild “Kein Zugang für Hunde und Chinesen.”

    Schließlich wurde das Schild Teil des Bühnenbilds von Chinas berühmtestem epischen Sing- und Tanzschauspiel “Der Osten ist Rot” (东方红). Das 1964 inszenierte gigantische Bühnenschauspiel zur Verherrlichung des Sieges der chinesischen Revolution und ihres Führers Mao Zedong prägte eine ganze Generation. So wichtig war der Pekinger Führung das mehrstündige Propaganda-Spektakel, dass Premier Zhou Enlai die Regie führte.

    Der britische Abgeordnete und China-Reisende C. Malone druckte in seinem 1928 erschienenen Buch “Das neue China” den ersten fotografischen “Beweis” für das Parkverbot. Doch das Bild zeigt schlicht die Parkordnung von 1917.

    Und auch Mao griff ein, enthüllten Reporter der Nachrichtenagentur China News (中新网). Nachdem er am 2. Oktober 1964 die Uraufführung gesehen hatte, verlangte er, das Bühnenbild zu ändern und schon im ersten Akt das Verbotsschild des Shanghaier Parks aufzustellen, “um realistischer darzustellen, wie das alte China von den imperialistischen Mächten schikaniert wurde”. Kein Wunder, dass Peking bis heute an diesem Narrativ festhält.

    Noch weniger lässt die Partei an einem anderen politischen Mythos rütteln, den heute auch im westlichen Ausland viele unterschreiben, wonach Chinesen ein besonders friedliebendes Volk und Pazifisten nach innen wie nach außen sind. Schon vor hundert Jahren nannte der deutsche Marxist und bekannte China-Experte Karl August Wittfogel solche Bekundungen “nichtsnutzige Märchen”. In seinem 1925 erschienenen Buch “Das erwachende China” (Agis Verlag Wien) kritisierte er: “Die Chinesen (‘die’ Chinesen) werden mit Vorliebe als ein idyllisches, friedfertiges, ‘pazifistisches’ Volk bezeichnet … Was den lämmerhaften, ‘zahmen’ Charakter des chinesischen Volkes anbetrifft, so ist das ein nichtsnutziges Märchen. … China ist das klassische Land der inneren Wirren, der Empörungen und Bürgerkriege. … Kaum ein Jahrzehnt ohne einen inneren Aufstand … Das macht uns dafür aber die national-revolutionäre Energie, die heute drüben aufgebracht wird, leichter verständlich, als die Theorie vom chinesischen ‘Idyll’.”

    Historische Illustration des Shanghaier “Public Garden” am Bund. “Der Platz, wo Chinesen und Hunde nicht hineindurften” steht als Überschrift über dem Artikel, der 2008 in der Pekinger Zeitschrift “Blick auf die Geschichte” (看历史 2008年第10期) erschien und sich kritisch mit dem Mythos auseinandersetzt.

    Für Chinas Parteichef Xi ist es Kalkül, wenn er heute Chinas Friedfertigkeit als Alleinstellungsmerkmal seiner Nation anpreist. Wörtlich sagt er gerade in einer Rede über Chinas kulturelles Erbe, die in der Septemberausgabe der ZK-Zeitschrift Qiushi erschien: “Die chinesische Zivilisation zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Friedlichkeit aus. Frieden, friedliche Beziehungen und Harmonie sind die Konzepte, die die chinesische Zivilisation sich seit mehr als 5000 Jahren vererbt hat. Die Friedlichkeit der chinesischen Zivilisation bestimmt im Wesentlichen, dass China von Anfang bis heute Erbauer des Weltfriedens ist.” (中华文明具有突出的和平性。和平、和睦、和谐是中华文明五千多年来一直传承的理念,….。中华文明的和平性,从根本上决定了中国始终是世界和平的建设者)

    Pekinger Parteizeitungen schreiben sogar vom chinesischen “Friedens-Gen” (和平基因). Dass es so etwas gibt, darf heute in China noch weniger angezweifelt werden, als die Mär vom Shanghaier Park. Die Partei legitimiert sich über ihre politischen Mythen.

    Personalien

    Der Staatsrat hat die Neubesetzung einiger Positionen im Staatsapparat bekannt gegeben:

    Li Yang ist neuer Vizeminister für Verkehr. Wang Hongzhi wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission für die Überwachung und Verwaltung staatseigener Vermögenswerte des Staatsrats ernannt.

    Ding Chibiao löst Zhang Tao als Vizepräsident der Chinesischen Akademie der Wissenschaften ab. Zhang Zi übernimmt die Position als stellvertretender Leiter der Staatlichen Verwaltung für Wissenschaft, Technologie und Industrie für die Landesverteidigung.

    Li Li ist künftig Leiter der Nationalen Verwaltung für Medizinprodukte und löst damit Jiao Hong ab. Chen Xiaojun ist nicht länger stellvertretender Leiter der chinesischen Erdbebenbehörde.

    Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

    Dessert

    Von der höchsten Brücke der Welt springen? Bloß nicht! Würde man ein Gebäude von 200 Stockwerken neben die Beipanjiang-Brücke stellen, könnte man von der Fahrbahn aufs Dach schauen – so wahnsinnig hoch spannt sich die Fahrbahn in Liupanshui, Guizhou, über ein Tal. Extremsportler brauchen den Adrenalinschub bekanntlich, und so haben sich einige die furchteinflößenden 565 Meter beim “2023 International High Bridge Extreme Sports Invitational Tournament” in die Tiefe gestürzt. Guten Flug!

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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