Table.Briefing: China

Folgen der Proteste + Covid-Chaos

  • Bemerkenswerte Erfahrung für junge Demonstranten
  • Führung kapituliert vor Omikron
  • Europaparlament stellt sich hinter Weißblatt-Proteste
  • Parlamentskreis Hongkong gegründet
  • Erneutes Urteil gegen Jimmy Lai
  • Manchester: Diplomaten entziehen sich Zugriff
  • Peking leugnet Polizeistationen
  • USA sanktionieren Tibet-Kader
  • ICT will Tibet als Thema der Strategien
  • Staatssekretärin Kofler über das EU-Lieferkettengesetz
Liebe Leserin, lieber Leser,

etliche Teilnehmer der Weißblatt-Proteste haben in den vergangenen Tagen Besuch von Polizisten erhalten. Einige wurden anhand von Videoaufnahmen identifiziert. Doch auch Posts in sozialen Netzwerken weisen den Weg zu den Demonstranten. Das Internet vergisst nichts. Ihre digitale Spur kann den vor allem jungen Teilnehmern nun gefährlich werden.

Doch diese junge Generation hat zugleich erfahren, dass sie etwas bewegen kann. Wie werden sich die Demonstrationen auf das Politikverständnis der Chinesinnen und Chinesen auswirken? Marcel Grzanna hat darüber mit dem chinesischen Exilanten Wang Longmeng gesprochen, der 1989 als Student die Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens erlebt hat. Wang ist sich sicher: “Wir sehen neue Hoffnung am Horizont eines autokratischen Chinas.” Auch die Verhöre und Festnahmen können diesen Prozess nicht aufhalten, so Wang.

Derweil suchen Chinas Behörden nach dem plötzlichen Ende der Null-Covid-Politik nun nach Möglichkeiten, zumindest den Anschein zu erwecken, auf die Omikron-Welle zu reagieren. So sollen hastig hochgezogene Fieberkliniken helfen, die Warteschlangen vor den bestehenden Behandlungszentren zu verkürzen.

Bei der Unterbrechung der Infektionsketten haben die Behörden dagegen kapituliert. Das genaue Ausmaß des Geschehens lässt sich allerdings nicht mehr beurteilen. Denn die Behörden veröffentlichen keine Fallzahlen mehr, wie Finn Mayer-Kuckuk berichtet.

Versinkt das Land nun nach der extremen Zero-Covid-Politik nun im Covid-Chaos? Bilder von überlasteten Kliniken deuten zumindest darauf hin. Und das bevorstehende Neujahrsfest in der zweiten Januarhälfte könnte die Situation noch weiter verschlimmern.

Ihr
Marcel Grzanna
Bild von Marcel  Grzanna

Analyse

Peking nach den Protesten: Verhaftungen und Veränderungen

Nach Protesten in China: Die Teilnehmer der Proteste waren vor allem junge Menschen.
Die Teilnehmer der Proteste waren vor allem junge Menschen.

Chinas Regierung hat dem Druck der Straße nachgegeben. Es ging zwar nur um ein Thema, die Null-Covid-Politik. Doch der Erfolg der Weißblatt-Proteste bedeutet mehr als das Ende städteweiter Lockdowns. Eine junge Generation hat in den vergangenen Tagen eine bemerkenswerte Erfahrung gesammelt: Sie kann Einfluss nehmen auf die Politik der autoritären Staatsmacht.

Wächst nun eine Generation heran, die künftig lautstark ihre Stimme erhebt, um politischen Dissens zu äußern? Wird sie gar eine Gefahr für das Machtmonopol der Kommunistischen Partei? “Was wir sehen, ist das Erwachen und der Reifeprozess einer Generation. Wir sehen neue Hoffnung am Horizont eines autokratischen Chinas“, sagt der chinesische Exilant Wang Longmeng, der 1989 als Student die Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens erlebt hatte und später nach Frankreich flüchtete.

Exilanten hoffen auf eine neue Demokratiebewegung

Wang ist sich sicher, dass die Festnahmen von Teilnehmern der Proteste lediglich eine Entwicklung verzögert, die letztendlich aber nicht aufzuhalten sei. “Die Wellen der Demokratie sind wie die Wellen der Ozeane. Wenn sich eine zurückzieht, rauscht eine noch größerer heran”, so Wang. Er zieht noch einen weiteren Vergleich heran: “Das China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei steht bereits am Rande des Kraters und kann jederzeit hineinstürzen.”

Um genau das zu verhindern, haben die Sicherheitskräfte in den vergangenen Tagen allerdings bereits zahlreiche Protest-Anführer ausgemacht und verhaftet. Polizei und Staatssicherheit nutzen die technischen Möglichkeiten durch öffentliche Überwachung und Gesichtserkennung. Sie durchsuchen Mobiltelefone nach verräterischen Fotos oder Nachrichten, um umstürzlerische Absichten nachzuweisen.

Harte Strafen als Abschreckung

Diejenigen, die nicht das Ende der Corona-Politik, sondern auch das Ende von Xi Jinping und der KP-Herrschaft forderten, haben die Konsequenzen bereits zu spüren bekommen. Etliche Teilnehmer der Proteste erhielten in den vergangenen Tagen Besuch von der Polizei zu Hause oder mussten auf die Wache zum Verhör. Von einer Studentin aus Nanjing, die sich als erste mit einem weißen Blatt Papier als Symbol fotografierte, fehlt laut Medienberichten nun jede Spur.

Der Hongkonger Aktivist Ray Wong rechnet mit harten Strafen für die Verhafteten. Ray Wong hat wie einst Wang Longmeng das gnadenlose Vorgehen der chinesischen Regierung gegen Oppositionelle kennengelernt. Er selbst spielte 2014 bei den Regenschirm-Protesten in seiner Heimat eine tragende Rolle und entging nur durch seine Flucht nach Deutschland einer Haftstrafe. Deshalb glaubt Wong, dass die Einschüchterung durch die Behörden das Erfolgserlebnis junger Demonstranten schnell überschatten wird.

Erfolgreiche Proteste gab es bereits zuvor

Allerdings hofft Wong auf eine langfristige Wirkung. “Junge Chinesen auf der ganzen Welt haben an Universitäten gegen die Regierung protestiert oder die Proteste zumindest wahrgenommen. Viele von ihnen werden irgendwann nach China zurückgehen und hoffentlich neu gewonnene liberale Ideen in das Land importieren”, sagt Wong.

Dabei sind erfolgreiche Proteste in der Volksrepublik nichts Außergewöhnliches. Allerdings waren sie immer auf lokale Konflikte begrenzt. Wenn örtliche Behörden einknickten, schlug sich Peking meist sogar auf die Seite der Demonstranten, um die eigene Integrität auf Kosten lokaler Machtstrukturen zu bewahren. Vergangene Woche aber richtete sich die geballte Wut direkt gegen den Zentralstaat und die Partei. Das macht sie so gefährlich für das Regime.

Ai Weiwei sieht ein ermutigendes Zeichen

Dass die staatlichen Zugeständnisse Xi Jinping kurzfristig ins Wanken bringen, scheint einerseits höchst unwahrscheinlich. Andererseits tragen die Proteste die Saat des Wandels mit sich, glaubt der Sinologe und frühere australische Premierminister Kevin Rudd. Allerdings nicht in Form eines Regimewechsels, sondern in Form einer Korrektur von Xis Ideologisierung von Politik und Wirtschaft. “Es bedeutet, dass wir mittel- bis langfristig, wahrscheinlich in der Zeit nach Xi, zu einem pragmatischeren Mittelweg zurückkehren werden”, prognostiziert Rudd im Interview mit Nikkei Asia.

Der Künstler Ai Weiwei ist derweil skeptisch. Die Demonstrationen seien bemerkenswert, räumte Ai gegenüber der Nachrichtenagentur AP ein. Allerdings warnte Ai davor, die Proteste überzubewerten. Dennoch hält er sie für ein ermutigendes Zeichen. Der neuen Generation sei klar, welche Regierungsform im Land herrsche. Sie könne durchaus an den Punkt kommen, einen politischen Wandel zu fordern. “Aber das wird eine lange Zeit dauern”, sagt Ai.

  • Ai Weiwei
  • Menschenrechte
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  • Weißblatt-Proteste
  • Zivilgesellschaft

Der Covid-Tsunami trifft China unvorbereitet

Ein Patient in Peking wird im Rettungswagen abgeholt.

In Peking zeigt sich, wie unvorbereitet und hastig die Regierung die Öffnung des Landes eingeleitet hat: Die letzte Bastion von Null-Covid hat sich in nur wenigen Tagen zum weltweit größten Corona-Hotspot entwickelt. Medien beschreiben die Corona-Welle in China zu Recht als “wütenden Tsunami”. Sie hat sich enorm schnell aufgebaut und verursacht erhebliche Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft.

Die politischen Folgen der überhasteten Öffnung werden der Führung um den KP-Generalsekretär Xi Jinping nun erhebliche Probleme bereiten. Schließlich hat sie sich als Beschützer des Volkes vor Corona stilisiert. In den kommenden Wochen und Monaten werden jedoch auch nach konservativen Schätzungen hunderttausende Menschen an dem Virus sterben (China.Table berichtete).

Hoher Krankenstand in der Hauptstadt

In Krankenhäusern von Peking über Chengdu bis nach Guangzhou zeigen sich erste Anzeichen für eine Gesundheitskatastrophe. Ärztinnen und Ärzte müssen Corona-positiv zur Arbeit gehen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Selbst das kann nicht verhindern, dass die Leute vor den Notaufnahmen mehrere Stunden auf Einlass warten müssen. Ausgerechnet in Wuhan ist die Situation derart kritisch, dass ein Krankenhaus seinen Patienten intravenöse Infusionen in geparkten Autos am Straßenrand verabreicht.

Die Angestellte eines Staatsunternehmens im Stadtzentrum berichtet, dass in ihrer Abteilung derzeit über die Hälfte ihrer Kollegen an Corona-Symptomen leiden. Ein ausländischer Rechtsanwalt bestätigt: In seiner Kanzlei sei derzeit mindestens ein Drittel des Personals entweder positiv oder habe einen Covid-Fall im Haushalt. Die Berichte vom hohen Krankenstand häufen sich aus allen Branchen. Sogar die Versorgung der Haushalte durch Lieferkuriere auf ihren bunten E-Scootern könnte bald kippen: Im zentralen Bezirk Dongcheng liegen bereits Paketberge am Straßenrand.

Die Reise-App ist entmachtet

Doch neben einer tiefen Verunsicherung macht sich auch ein Gefühl des Aufatmens unter vielen Chinesen breit: Nachdem die Regierung bereits zu Beginn des Monats ihre rigiden Lockdown-Maßnahmen aufgegeben hat, verabschiedet sie sich nun auch noch von der sogenannten Reise-App (Tongxin), die in der Nacht auf Dienstag deaktiviert wurde. Die bereits gespeicherten Bewegungsprofile sollen gelöscht werden. Jeder im Land musste sie verpflichtend vorzeigen, um Zugang zu Hotels, Bahnhöfen und dergleichen zu erhalten. Die Bürger fürchteten den Moment, in dem der grüne Pfeil der Reise-App auf Rot umgesprungen ist.

Die örtlichen Gesundheits-Apps bleiben jedoch weiterhin im Einsatz. Jede Provinz und sogar jede größere Stadt hat zusätzlich zur Reise-App ihre eigene Smartphone-Anwendung entwickelt. Deren Datenbanken sind nicht untereinander vernetzt und ihr Einsatz liegt in der Kontrolle der örtlichen Regierungen.

Einreise soll ausgerechnet jetzt einfacher werden

Nun also können die Chinesen in ihrem Land wieder ohne Angst vor Zwangsquarantäne andere Provinzen besuchen. Und schon bald soll auch der internationale Reiseverkehr nachziehen, wie Chinas US-Botschafter Qin Gang in einer Rede in Chicago andeutet: “Ich glaube, dass in der nahen Zukunft weitere Anpassungen vorgenommen werden, die auch den internationalen Reiseverkehr betreffen.”

In Fachkreisen kursiert das Gerücht, dass China spätestens Mitte Januar die verpflichtende Einreisequarantäne durch ein dreitägiges Gesundheitsmonitoring ersetzen könnte. Doch derzeit ist an Reisen noch nicht zu denken. Momentan trauen sich die meisten Pekinger nicht einmal vor die eigene Haustür. Zu groß ist die Angst vor einer Infektion. Damit passiert nun freiwillig, was vorher befohlen war.

Es mangelt an Tests, Masken und Impfungen

In der Volksrepublik treten dieser Tage die Schwachstellen des Systems offen zutage. Der Vergleich mit Japan, Taiwan und Südkorea legt zumindest nahe, dass sich mit guter Vorbereitung eine stufenweise Lockerung auch ohne schlimme Folgen bewerkstelligen lässt. Doch die KP-Führung war so in der Null-Covid-Denke gefangen, dass diese Vorbereitungen ausgeblieben sind.

Erst jetzt, Monate zu spät, beginnen die Staatsunternehmen wieder mit der Produktion von hochwertigen N95-Masken, dem Gegenstück zu FFP-Masken. Bislang waren in China vorwiegend OP-Masken üblich. Auch Antigen-Tests und fiebersenkende Medikamente sind derzeit Mangelware. Und auch die überfällige Zulassung ausländischer mRNA-Vakzine ist nicht absehbar. Dabei könnten diese viele Todesfälle abwenden. Bei den über 80-Jährigen liegt die Booster-Rate nach wie vor unter 40 Prozent (China.Table berichtete). 

Die Regierung untergräbt ihre Glaubwürdigkeit

Vor allem aber zeigt sich, wie schwierig es für das chinesische System ist, gesundheitspolitische Transparenz zuzulassen. Am Montagmorgen meldete die nationale Gesundheitskommission für die vergangenen 24 Stunden weniger als 9.000 neue Ansteckungen und null Virustote landesweit, für Peking sind es sogar nur rund 1.000 Fälle. Die absurd irreführenden Zahlen könnten Senioren in falscher Sicherheit wiegen, statt Anreize zu schaffen, sich endlich impfen zu lassen.

Es ist jedoch zu befürchten, dass auch künftig die hohen Sterbezahlen nicht offiziell berichtet werden, um einen Gesichtsverlust zu vermeiden. “Wir werden einen vollständigen Bankrott des Vertrauens in die kommunistische Partei erleben”, spekuliert Desmond Shum, Immobilienentwickler und Regime-Kritiker im Londoner Exil, auf Twitter. Fabian Kretschmer

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News

Unterstützung für Proteste aus dem EU-Parlament

Das Europaparlament hat sich hinter die Weißblatt-Proteste in China gestellt und sich damit als erste Brüsseler Institution zu den Protesten in der Volksrepublik Ende November positioniert. Die Europa-Abgeordneten brachten ihre Unterstützung für die Demonstranten in einer am Donnerstag angenommenen Resolution zum Ausdruck. Besorgnis gebe es darüber, wie mit den Teilnehmern der Proteste nun verfahren werde. Berichte über Polizeikontrollen und Verhöre von Demo-Teilnehmern hatten zuletzt für Aufsehen gesorgt (China.Table berichtete).

Angesichts der zeitweisen Festnahme eines britischen Journalisten während der Proteste in Shanghai forderten die EU-Abgeordneten einen freien Zugang zu China für Medienschaffende und internationale Beobachter. Die Resolutionen des EU-Parlaments sind Standpunkte zu Themen, sie sind nicht bindend für andere EU-Institutionen. Das Europaparlament vertritt generell eine schärfere China-Politik als die EU-Kommission oder EU-Rat, was auch regelmäßig in den Entschließungsanträgen sichtbar ist.

Indes brach auch der erste chinesische Auslands-Diplomat das Schweigen zu den Protesten. Diese seien zunächst durch das Versagen lokaler Behörden bei der Umsetzung der Covid-Politik der Zentralregierung verursacht worden, sagte Chinas Botschafter in Frankreich, Lu Shaye, bei einem Gespräch mit Pressevertretern Anfang Dezember. “Aber die Proteste wurden bald von ausländischen Kräften ausgenutzt”, sagte Lu. “Ich denke, die ‘echten Proteste’ fanden nur am ersten Tag statt. Bereits am zweiten Tag kamen ausländische Streitkräfte ins Spiel“, erklärte Lu laut des Transkripts, das auf der Website der Botschaft veröffentlicht wurde. Lu gilt als typischer Wolfskrieger-Diplomat. Er fällt in Frankreich regelmäßig mit extremen ideologischen Äußerungen auf. ari

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Abgeordnete gründen Hongkong-Parlamentskreis

Bundestagsabgeordnete der FDP, CDU, SPD und der Grünen haben einen neuen Parlamentskreis gegründet, der sich explizit mit den Verhältnissen in und um Hongkong beschäftigt. “Damit wollen wir zeigen, dass unsere Solidarität mit den Menschen in Hongkong ungebrochen ist”, sagte FDP-Außenpolitiker Frank Müller-Rosentritt. “Es gibt so viele Hongkonger, die ihre freie Stadt nicht aufgeben wollen und werden.” Er und die anderen Parlamentarier wollten ein Zeichen setzen und darauf aufmerksam machen, dass Hongkong nicht von der politischen Agenda verschwunden ist.

Dieser Parlamentskreis solle auch eine zentrale Anlaufstelle im Bundestag für Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft in Hongkong beziehungsweise im Exil sein, kündigte der FDP-Außenpolitiker an. Er wolle unter anderem den Hongkonger Aktivisten Ray Wong unterstützen, der 2017 nach Deutschland gekommen war und der erste anerkannte politische Geflüchtete aus Hongkong ist.

Zu den Gründungsmitgliedern des Parlamentskreises gehören neben weiteren FDP-Bundestagsabgeordneten auch Roderich Kiesewetter von der CDU, Boris Mijatovic und Paula Piechotta (beide Grüne) sowie Frank Schwabe und Daniela de Ridder (beide SPD). flee

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Jimmy Lai bleibt jahrelang in Haft

Der Hongkonger Verleger Jimmy Lai muss langfristig hinter Gittern bleiben. Am Samstag wurde der 75-Jährige in seiner Heimatstadt zu einer weiteren Haftstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Ihm wird vorgeworfen, auf betrügerische Art gegen den Mietvertrag für die Büros seiner mittlerweile eingestellten Zeitung “Apple Daily” verstoßen zu haben.

Lai gilt als Hongkongs prominentester Demokratieaktivist. Bereits seit Ende Dezember 2020 sitzt er wegen seiner Rolle bei der Einberufung unerlaubter Versammlungen für 20 Monate in Haft. Ein weiterer Prozess wegen Verstoßes gegen das Nationale Sicherheitsgesetz Gesetz steht noch aus (China.Table berichtete). Hier droht ihm lebenslange Haft.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fordert Lais Freilassung. Das Strafverfahren gegen ihn sei “ein Rachefeldzug gegen einen führenden Verfechter von Demokratie und Medienfreiheit in Hongkong“, erklärte Maya Wang, die Asien-Direktorin der Organisation. rtr/fpe

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Manchester: Diplomaten fliehen aus Großbritannien

Nach dem gewaltsamen Zwischenfall am chinesischen Konsulat in Manchester haben sechs chinesische Diplomaten Großbritannien verlassen, darunter der Generalkonsul. Die Regierung in Peking habe die Ausreise der Diplomaten veranlasst, teilte der britische Außenminister James Cleverly mit.

Eigentlich hatte die Polizei in Manchester die Aufhebung der Immunität der Diplomaten erwirken wollen, um diese zu dem gewaltsamen Zwischenfall im Oktober befragen zu können – und dafür ein Ultimatum bis Mittwoch gesetzt. Sie entziehen sich daher durch die Ausreise der britischen Justiz.

Bei einer Demonstration für Demokratie in Hongkong im Oktober war ein Aktivist von Mitarbeitern des chinesischen Konsulats auf das Gelände gezerrt und verprügelt worden (China.Table berichtete). Londons Außenminister hatte daraufhin den Stellvertreter des außer Landes weilenden chinesischen Botschafters einbestellt. flee

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Peking dementiert Existenz von Polizeistationen

Die chinesische Regierung bestreitet, in anderen Staaten “Polizeidienststellen” zu betreiben. Allerdings räumte sie ein, dass es an sogenannte “Service-Stationen” für die eigenen Staatsbürger im Ausland gebe. Wie ein Sprecher des Außenministeriums in einem Schreiben mitteilte, würden “engagierte Auslandschinesen” damit Landsleute bei Behördenangelegenheiten helfen. Das Schreiben liegt der Nachrichtenagentur dpa vor. Sicherheitsbehörden in Deutschland und anderen Ländern gehen hingegen davon aus, dass solche Einrichtungen auch der Verfolgung von Regimekritikern dienten. 

Das Schreiben stellt die Aktivitäten dagegen als harmlos dar. Die Servicestellen dienten dazu, chinesischen Staatsbürgern zu helfen, die während Covid-19 nicht heimreisen können. Dabei gehe es um medizinische Untersuchungen, Führerscheinanträge und dergleichen. Die Freiwilligen seien “engagierte Auslandschinesen, keine chinesischen Polizeibeamten”, so das Schreiben. China mische sich nicht in innere Angelegenheiten ein und respektiere die rechtliche Souveränität anderer Länder. Die “Service-Stationen” verstießen nicht gegen Recht und “verfolgten auch keine strafrechtlichen Aktivitäten”. 

Nach Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders mit Sitz in Madrid soll es rund 100 “Zentren chinesischer Überseepolizei” in mehr als 50 Ländern geben (China.Table berichtete). Deutsche Behörden gehen davon aus, dass China in Deutschland zwei solcher Polizeistationen betreibt. flee

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ICT wünscht sich Tibet in der China-Strategie

Die Organisation International Campaign for Tibet (ICT) ruft die Bundesregierung dazu auf, den Tibet-Konflikt mit in ihre China-Strategie aufzunehmen. “Eine kohärente China-Politik der Bundesregierung sollte die Frage der Menschenrechte und die Rechte ganzer Volksgruppen wie der Tibeter als einen zentralen Bestandteil ihrer Beziehungen zur Volksrepublik China verstehen”, forderte Kai Müller, Geschäftsführer von ICT.

Zumindest Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) will die wirtschaftliche Kooperation mit China stärker als bisher von der dortigen Menschenrechtslage abhängig machen. Das geht aus dem Entwurf für eine neue China-Strategie der Bundesregierung hervor. Das Papier hat das Auswärtige Amt Mitte November an die anderen Ministerien verteilt und befindet sich in der Abstimmung. Es wird damit gerechnet, dass insbesondere das Kanzleramt unter Olaf Scholz (SPD) allzu scharfe Kritik an China herausnehmen wird. flee

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Sanktionen gegen Tibet-Funktionäre

Die US-Regierung hat den früheren Generalsekretär der Kommunistischen Partei und den Polizeichef der autonomen Region Tibet sanktioniert. Washington beschuldigt Wu Yingjie und Zhang Hongbo schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen ihrer Amtsausführung. Beiden ist unter Executive Order 13818 die Einreise in die USA ab sofort untersagt. Etwaige Vermögenswerte der beiden werden eingefroren.

Die Amerikaner werfen Wu und Zhang vor, verantwortlich zu sein für “außergerichtliche Tötungen, körperliche Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen und Massenverhaftungen“. Weitere Verstöße seien Zwangssterilisationen und -abtreibungen, Einschränkungen der religiösen und politischen Freiheiten und die Folterung von Gefangenen.

Peking wies die Anschuldigungen am Montag zurück und bezeichnete die Sanktionen als illegal und schädlich für die Beziehungen beider Länder. Die International Campaign for Tibet (ICT) forderte die Bundesregierung auf, sich für vergleichbare Maßnahmen durch die EU einzusetzen. “Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Europäische Union, sollte dem Beispiel der USA folgen und gerade auch KP-Funktionäre in Tibet zur Verantwortung ziehen. Die Bundesregierung sollte sich dafür auf EU-Ebene einsetzen”, sagte ICT-Geschäftsführer Kai Müller. grz

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Standpunkt

EU-Lieferkettenrichtlinie muss vor Ort wirken

Von Bärbel Kofler
Bärbel Kofler ist seit Dezember 2021 Parlamentarische Staatssekretärin im BMZ.

Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt am 01. Januar 2023 in Kraft – ein Meilenstein für die Stärkung und den Schutz von Menschenrechten und Umweltstandards entlang globaler Lieferketten. Gleichzeitig laufen die Verhandlungen für eine EU-weite Lieferkettenregulierung – der Corporate Sustainability Due Diligence Directive – auf Hochtouren. Unternehmerische Sorgfaltspflichten werden damit nun endlich verbindlich – ein schon lange überfälliger Schritt.

In der aktuellen Debatte rund um die gesetzlichen Regelungen stehen jedoch vor allem die möglichen Herausforderungen für deutsche und europäische Unternehmen im Fokus. Oft rückt dabei in den Hintergrund, worum es bei den Entwicklungen wirklich geht: die Lebensbedingungen entlang globaler Lieferketten zu verbessern und die Rechte der Betroffenen zu stärken. Diesem Anspruch müssen wir gerecht werden – sowohl mit dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz als auch im Hinblick auf die geplante EU-Lieferkettenrichtlinie.

EU-Lieferkettengesetz: gegen Missstände

Denn die Missstände in den globalen Wertschöpfungsketten mit über 450 Millionen Beschäftigten sind groß. Viele der Produkte und Rohstoffe für den deutschen und europäischen Markt werden unter untragbaren Umwelt- und Arbeitsbedingungen, für Hungerlöhne oder sogar mithilfe ausbeuterischer Kinderarbeit hergestellt oder abgebaut. Laut neuesten Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) leisten weltweit 27,6 Millionen Menschen Zwangsarbeit, davon mehr als 3,3 Millionen Kinder.

Vor allem vulnerable und marginalisierte Gruppen wie Frauen und Mädchen erleben in allen Sektoren oftmals mehrfache Diskriminierung und geschlechtsspezifische Formen der Gewalt – ob als Näherinnen in Textilfabriken, als Bäuerinnen auf dem Feld oder im Dienstleistungssektor. Die Covid-19-Pandemie hat diese geschlechtsbasierte Ungleichbehandlung weiter verschlechtert.

EU-Lieferkettengesetz: Umweltschutz weiteres Ziel

Auch die negativen Auswirkungen auf die Umwelt sind enorm: Bei der Textilproduktion etwa werden pro Jahr 43 Millionen Tonnen Chemikalien eingesetzt. Leiten Fabriken diese direkt über ihr Abwasser in umliegende Gewässer, gefährden sie damit auch die Gesundheit der Menschen in den angrenzenden Gemeinden. Der Textilsektor verursacht zudem mehr als ein Drittel des Mikroplastiks in den Weltmeeren.

Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden finden aber nicht nur weit entfernt, sondern auch in Europa statt, etwa in Form von Ausbeutung der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in deutschen Schlachthöfen.

Effektivität im EU-Lieferkettengesetz

Alle diese Beispiele verdeutlichen: Gesetze über unternehmerische Sorgfaltspflichten müssen vor allem dort Wirkung entfalten, wo die Verletzungen von Mensch und Umwelt stattfinden. Doch wie erreichen wir diese gewünschte Effektivität – vor allem mit Blick auf die EU-Richtlinie?

  1. Betroffene von Menschenrechtsverletzungen brauchen effektive Klagemöglichkeiten. Eine zivilrechtliche Haftung in der EU-Regulierung ist also essenziell. Davon werden ganz besonders Personen vulnerabler oder marginalisierter Gruppen wie Frauen profitieren, die am meisten unter niedrigen Löhnen und Gewalt am Arbeitsplatz leiden. Entscheidend ist dabei auch die Ausgestaltung der Haftungsnormen: Wir brauchen eine faire Beweislastverteilung: Es kann nicht sein, dass Betroffene nachweisen müssen, dass ein internationales Unternehmen seinen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen ist – das wird in den meisten Fällen überhaupt nicht möglich sein. Außerdem muss, wie auch im deutschen Lieferkettengesetz vorgesehen, sichergestellt werden, dass Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften die Rechte der Betroffenen im Zivilprozess im eigenen Namen durchsetzen können – eine wichtige Regelung, um rechtliche Hürden abzubauen.
  2. Beschwerdemechanismen als Teil der unternehmerischen Sorgfaltspflicht müssen für alle potenziell betroffenen Rechteinhabenden leicht zugänglich sein. Das gilt auch für zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften. Gleichzeitig muss der Schutz der Hinweisgebenden vor Repressalien gegeben sein. Nur so können wirkungsvolle Abhilfe und Wiedergutmachung gelingen.
  3. Der Geltungsbereich des Entwurfs für die EU-Lieferkettenrichtlinie darf im Bereich der mittelbaren Zulieferer nicht auf “etablierte Geschäftsbeziehungen” beschränkt sein. Dieses Konstrukt schafft falsche Anreize. Gerade informelle oder kurzfristige Geschäftsbeziehungen stellen ein höheres Risiko für Menschenrechtsverletzungen dar. Das wird besonders im Textilsektor deutlich, wo schnell wechselnde Vertragsbeziehungen gang und gäbe sowie gleichzeitig Ausbeutung der Näherinnen und Nähern keine Seltenheit sind. Wir brauchen daher einen risikobasierten Ansatz, wie er international bekannt und anerkannt ist.
  4. Wichtig ist, dass auch der Schutz des Klimas und der Umwelt umfassend in die Sorgfaltspflichten einbezogen werden. Vor allem für die Menschen in Entwicklungsländern, die schon heute am meisten unter den Folgen des Klimawandels leiden, ist das überlebenswichtig. Der Übergang zu einer umwelt- und klimagerechten Wirtschaftsweise kann aber nur gelingen, wenn sich alle an dieser “Just Transition” beteiligen – und vor allem europäische Unternehmen spielen dabei eine zentrale Rolle.

Für das, worum es tatsächlich geht – um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen entlang globaler Wertschöpfungsketten – brauchen wir also staatliches und unternehmerisches Engagement sowie klare und wirkungsvolle gesetzliche Rahmenbedingungen. Das geht aber natürlich nicht ohne die erforderliche Unterstützung. Das BMZ weitet daher derzeit bestehende nationale Angebote für Unternehmen und Zivilgesellschaft auf die EU-Ebene aus. Denn sicher ist: Wirksamkeit werden wir nur erzielen, wenn private und freiwillige Instrumente einerseits sowie staatliche und verbindliche Instrumente anderseits ineinandergreifen – ganz im Sinne der Betroffenen in unseren Wertschöpfungsketten.

Bärbel Kofler ist Bankkauffrau, Diplom-Informatikerin, promovierte Sprachwissenschaftlerin und SPD-Mitglied. Seit 2004 gehört sie als Abgeordnete dem Deutschen Bundestag an. Von 2016 bis 2021 war sie Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt. Seit dem Start der Ampel-Koalition ist sie parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 

Der Standpunkt ist zuerst bei unseren Kollegen von ESG.Table erschienen.

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China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    • ICT will Tibet als Thema der Strategien
    • Staatssekretärin Kofler über das EU-Lieferkettengesetz
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    etliche Teilnehmer der Weißblatt-Proteste haben in den vergangenen Tagen Besuch von Polizisten erhalten. Einige wurden anhand von Videoaufnahmen identifiziert. Doch auch Posts in sozialen Netzwerken weisen den Weg zu den Demonstranten. Das Internet vergisst nichts. Ihre digitale Spur kann den vor allem jungen Teilnehmern nun gefährlich werden.

    Doch diese junge Generation hat zugleich erfahren, dass sie etwas bewegen kann. Wie werden sich die Demonstrationen auf das Politikverständnis der Chinesinnen und Chinesen auswirken? Marcel Grzanna hat darüber mit dem chinesischen Exilanten Wang Longmeng gesprochen, der 1989 als Student die Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens erlebt hat. Wang ist sich sicher: “Wir sehen neue Hoffnung am Horizont eines autokratischen Chinas.” Auch die Verhöre und Festnahmen können diesen Prozess nicht aufhalten, so Wang.

    Derweil suchen Chinas Behörden nach dem plötzlichen Ende der Null-Covid-Politik nun nach Möglichkeiten, zumindest den Anschein zu erwecken, auf die Omikron-Welle zu reagieren. So sollen hastig hochgezogene Fieberkliniken helfen, die Warteschlangen vor den bestehenden Behandlungszentren zu verkürzen.

    Bei der Unterbrechung der Infektionsketten haben die Behörden dagegen kapituliert. Das genaue Ausmaß des Geschehens lässt sich allerdings nicht mehr beurteilen. Denn die Behörden veröffentlichen keine Fallzahlen mehr, wie Finn Mayer-Kuckuk berichtet.

    Versinkt das Land nun nach der extremen Zero-Covid-Politik nun im Covid-Chaos? Bilder von überlasteten Kliniken deuten zumindest darauf hin. Und das bevorstehende Neujahrsfest in der zweiten Januarhälfte könnte die Situation noch weiter verschlimmern.

    Ihr
    Marcel Grzanna
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    Analyse

    Peking nach den Protesten: Verhaftungen und Veränderungen

    Nach Protesten in China: Die Teilnehmer der Proteste waren vor allem junge Menschen.
    Die Teilnehmer der Proteste waren vor allem junge Menschen.

    Chinas Regierung hat dem Druck der Straße nachgegeben. Es ging zwar nur um ein Thema, die Null-Covid-Politik. Doch der Erfolg der Weißblatt-Proteste bedeutet mehr als das Ende städteweiter Lockdowns. Eine junge Generation hat in den vergangenen Tagen eine bemerkenswerte Erfahrung gesammelt: Sie kann Einfluss nehmen auf die Politik der autoritären Staatsmacht.

    Wächst nun eine Generation heran, die künftig lautstark ihre Stimme erhebt, um politischen Dissens zu äußern? Wird sie gar eine Gefahr für das Machtmonopol der Kommunistischen Partei? “Was wir sehen, ist das Erwachen und der Reifeprozess einer Generation. Wir sehen neue Hoffnung am Horizont eines autokratischen Chinas“, sagt der chinesische Exilant Wang Longmeng, der 1989 als Student die Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens erlebt hatte und später nach Frankreich flüchtete.

    Exilanten hoffen auf eine neue Demokratiebewegung

    Wang ist sich sicher, dass die Festnahmen von Teilnehmern der Proteste lediglich eine Entwicklung verzögert, die letztendlich aber nicht aufzuhalten sei. “Die Wellen der Demokratie sind wie die Wellen der Ozeane. Wenn sich eine zurückzieht, rauscht eine noch größerer heran”, so Wang. Er zieht noch einen weiteren Vergleich heran: “Das China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei steht bereits am Rande des Kraters und kann jederzeit hineinstürzen.”

    Um genau das zu verhindern, haben die Sicherheitskräfte in den vergangenen Tagen allerdings bereits zahlreiche Protest-Anführer ausgemacht und verhaftet. Polizei und Staatssicherheit nutzen die technischen Möglichkeiten durch öffentliche Überwachung und Gesichtserkennung. Sie durchsuchen Mobiltelefone nach verräterischen Fotos oder Nachrichten, um umstürzlerische Absichten nachzuweisen.

    Harte Strafen als Abschreckung

    Diejenigen, die nicht das Ende der Corona-Politik, sondern auch das Ende von Xi Jinping und der KP-Herrschaft forderten, haben die Konsequenzen bereits zu spüren bekommen. Etliche Teilnehmer der Proteste erhielten in den vergangenen Tagen Besuch von der Polizei zu Hause oder mussten auf die Wache zum Verhör. Von einer Studentin aus Nanjing, die sich als erste mit einem weißen Blatt Papier als Symbol fotografierte, fehlt laut Medienberichten nun jede Spur.

    Der Hongkonger Aktivist Ray Wong rechnet mit harten Strafen für die Verhafteten. Ray Wong hat wie einst Wang Longmeng das gnadenlose Vorgehen der chinesischen Regierung gegen Oppositionelle kennengelernt. Er selbst spielte 2014 bei den Regenschirm-Protesten in seiner Heimat eine tragende Rolle und entging nur durch seine Flucht nach Deutschland einer Haftstrafe. Deshalb glaubt Wong, dass die Einschüchterung durch die Behörden das Erfolgserlebnis junger Demonstranten schnell überschatten wird.

    Erfolgreiche Proteste gab es bereits zuvor

    Allerdings hofft Wong auf eine langfristige Wirkung. “Junge Chinesen auf der ganzen Welt haben an Universitäten gegen die Regierung protestiert oder die Proteste zumindest wahrgenommen. Viele von ihnen werden irgendwann nach China zurückgehen und hoffentlich neu gewonnene liberale Ideen in das Land importieren”, sagt Wong.

    Dabei sind erfolgreiche Proteste in der Volksrepublik nichts Außergewöhnliches. Allerdings waren sie immer auf lokale Konflikte begrenzt. Wenn örtliche Behörden einknickten, schlug sich Peking meist sogar auf die Seite der Demonstranten, um die eigene Integrität auf Kosten lokaler Machtstrukturen zu bewahren. Vergangene Woche aber richtete sich die geballte Wut direkt gegen den Zentralstaat und die Partei. Das macht sie so gefährlich für das Regime.

    Ai Weiwei sieht ein ermutigendes Zeichen

    Dass die staatlichen Zugeständnisse Xi Jinping kurzfristig ins Wanken bringen, scheint einerseits höchst unwahrscheinlich. Andererseits tragen die Proteste die Saat des Wandels mit sich, glaubt der Sinologe und frühere australische Premierminister Kevin Rudd. Allerdings nicht in Form eines Regimewechsels, sondern in Form einer Korrektur von Xis Ideologisierung von Politik und Wirtschaft. “Es bedeutet, dass wir mittel- bis langfristig, wahrscheinlich in der Zeit nach Xi, zu einem pragmatischeren Mittelweg zurückkehren werden”, prognostiziert Rudd im Interview mit Nikkei Asia.

    Der Künstler Ai Weiwei ist derweil skeptisch. Die Demonstrationen seien bemerkenswert, räumte Ai gegenüber der Nachrichtenagentur AP ein. Allerdings warnte Ai davor, die Proteste überzubewerten. Dennoch hält er sie für ein ermutigendes Zeichen. Der neuen Generation sei klar, welche Regierungsform im Land herrsche. Sie könne durchaus an den Punkt kommen, einen politischen Wandel zu fordern. “Aber das wird eine lange Zeit dauern”, sagt Ai.

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    Der Covid-Tsunami trifft China unvorbereitet

    Ein Patient in Peking wird im Rettungswagen abgeholt.

    In Peking zeigt sich, wie unvorbereitet und hastig die Regierung die Öffnung des Landes eingeleitet hat: Die letzte Bastion von Null-Covid hat sich in nur wenigen Tagen zum weltweit größten Corona-Hotspot entwickelt. Medien beschreiben die Corona-Welle in China zu Recht als “wütenden Tsunami”. Sie hat sich enorm schnell aufgebaut und verursacht erhebliche Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft.

    Die politischen Folgen der überhasteten Öffnung werden der Führung um den KP-Generalsekretär Xi Jinping nun erhebliche Probleme bereiten. Schließlich hat sie sich als Beschützer des Volkes vor Corona stilisiert. In den kommenden Wochen und Monaten werden jedoch auch nach konservativen Schätzungen hunderttausende Menschen an dem Virus sterben (China.Table berichtete).

    Hoher Krankenstand in der Hauptstadt

    In Krankenhäusern von Peking über Chengdu bis nach Guangzhou zeigen sich erste Anzeichen für eine Gesundheitskatastrophe. Ärztinnen und Ärzte müssen Corona-positiv zur Arbeit gehen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Selbst das kann nicht verhindern, dass die Leute vor den Notaufnahmen mehrere Stunden auf Einlass warten müssen. Ausgerechnet in Wuhan ist die Situation derart kritisch, dass ein Krankenhaus seinen Patienten intravenöse Infusionen in geparkten Autos am Straßenrand verabreicht.

    Die Angestellte eines Staatsunternehmens im Stadtzentrum berichtet, dass in ihrer Abteilung derzeit über die Hälfte ihrer Kollegen an Corona-Symptomen leiden. Ein ausländischer Rechtsanwalt bestätigt: In seiner Kanzlei sei derzeit mindestens ein Drittel des Personals entweder positiv oder habe einen Covid-Fall im Haushalt. Die Berichte vom hohen Krankenstand häufen sich aus allen Branchen. Sogar die Versorgung der Haushalte durch Lieferkuriere auf ihren bunten E-Scootern könnte bald kippen: Im zentralen Bezirk Dongcheng liegen bereits Paketberge am Straßenrand.

    Die Reise-App ist entmachtet

    Doch neben einer tiefen Verunsicherung macht sich auch ein Gefühl des Aufatmens unter vielen Chinesen breit: Nachdem die Regierung bereits zu Beginn des Monats ihre rigiden Lockdown-Maßnahmen aufgegeben hat, verabschiedet sie sich nun auch noch von der sogenannten Reise-App (Tongxin), die in der Nacht auf Dienstag deaktiviert wurde. Die bereits gespeicherten Bewegungsprofile sollen gelöscht werden. Jeder im Land musste sie verpflichtend vorzeigen, um Zugang zu Hotels, Bahnhöfen und dergleichen zu erhalten. Die Bürger fürchteten den Moment, in dem der grüne Pfeil der Reise-App auf Rot umgesprungen ist.

    Die örtlichen Gesundheits-Apps bleiben jedoch weiterhin im Einsatz. Jede Provinz und sogar jede größere Stadt hat zusätzlich zur Reise-App ihre eigene Smartphone-Anwendung entwickelt. Deren Datenbanken sind nicht untereinander vernetzt und ihr Einsatz liegt in der Kontrolle der örtlichen Regierungen.

    Einreise soll ausgerechnet jetzt einfacher werden

    Nun also können die Chinesen in ihrem Land wieder ohne Angst vor Zwangsquarantäne andere Provinzen besuchen. Und schon bald soll auch der internationale Reiseverkehr nachziehen, wie Chinas US-Botschafter Qin Gang in einer Rede in Chicago andeutet: “Ich glaube, dass in der nahen Zukunft weitere Anpassungen vorgenommen werden, die auch den internationalen Reiseverkehr betreffen.”

    In Fachkreisen kursiert das Gerücht, dass China spätestens Mitte Januar die verpflichtende Einreisequarantäne durch ein dreitägiges Gesundheitsmonitoring ersetzen könnte. Doch derzeit ist an Reisen noch nicht zu denken. Momentan trauen sich die meisten Pekinger nicht einmal vor die eigene Haustür. Zu groß ist die Angst vor einer Infektion. Damit passiert nun freiwillig, was vorher befohlen war.

    Es mangelt an Tests, Masken und Impfungen

    In der Volksrepublik treten dieser Tage die Schwachstellen des Systems offen zutage. Der Vergleich mit Japan, Taiwan und Südkorea legt zumindest nahe, dass sich mit guter Vorbereitung eine stufenweise Lockerung auch ohne schlimme Folgen bewerkstelligen lässt. Doch die KP-Führung war so in der Null-Covid-Denke gefangen, dass diese Vorbereitungen ausgeblieben sind.

    Erst jetzt, Monate zu spät, beginnen die Staatsunternehmen wieder mit der Produktion von hochwertigen N95-Masken, dem Gegenstück zu FFP-Masken. Bislang waren in China vorwiegend OP-Masken üblich. Auch Antigen-Tests und fiebersenkende Medikamente sind derzeit Mangelware. Und auch die überfällige Zulassung ausländischer mRNA-Vakzine ist nicht absehbar. Dabei könnten diese viele Todesfälle abwenden. Bei den über 80-Jährigen liegt die Booster-Rate nach wie vor unter 40 Prozent (China.Table berichtete). 

    Die Regierung untergräbt ihre Glaubwürdigkeit

    Vor allem aber zeigt sich, wie schwierig es für das chinesische System ist, gesundheitspolitische Transparenz zuzulassen. Am Montagmorgen meldete die nationale Gesundheitskommission für die vergangenen 24 Stunden weniger als 9.000 neue Ansteckungen und null Virustote landesweit, für Peking sind es sogar nur rund 1.000 Fälle. Die absurd irreführenden Zahlen könnten Senioren in falscher Sicherheit wiegen, statt Anreize zu schaffen, sich endlich impfen zu lassen.

    Es ist jedoch zu befürchten, dass auch künftig die hohen Sterbezahlen nicht offiziell berichtet werden, um einen Gesichtsverlust zu vermeiden. “Wir werden einen vollständigen Bankrott des Vertrauens in die kommunistische Partei erleben”, spekuliert Desmond Shum, Immobilienentwickler und Regime-Kritiker im Londoner Exil, auf Twitter. Fabian Kretschmer

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    Unterstützung für Proteste aus dem EU-Parlament

    Das Europaparlament hat sich hinter die Weißblatt-Proteste in China gestellt und sich damit als erste Brüsseler Institution zu den Protesten in der Volksrepublik Ende November positioniert. Die Europa-Abgeordneten brachten ihre Unterstützung für die Demonstranten in einer am Donnerstag angenommenen Resolution zum Ausdruck. Besorgnis gebe es darüber, wie mit den Teilnehmern der Proteste nun verfahren werde. Berichte über Polizeikontrollen und Verhöre von Demo-Teilnehmern hatten zuletzt für Aufsehen gesorgt (China.Table berichtete).

    Angesichts der zeitweisen Festnahme eines britischen Journalisten während der Proteste in Shanghai forderten die EU-Abgeordneten einen freien Zugang zu China für Medienschaffende und internationale Beobachter. Die Resolutionen des EU-Parlaments sind Standpunkte zu Themen, sie sind nicht bindend für andere EU-Institutionen. Das Europaparlament vertritt generell eine schärfere China-Politik als die EU-Kommission oder EU-Rat, was auch regelmäßig in den Entschließungsanträgen sichtbar ist.

    Indes brach auch der erste chinesische Auslands-Diplomat das Schweigen zu den Protesten. Diese seien zunächst durch das Versagen lokaler Behörden bei der Umsetzung der Covid-Politik der Zentralregierung verursacht worden, sagte Chinas Botschafter in Frankreich, Lu Shaye, bei einem Gespräch mit Pressevertretern Anfang Dezember. “Aber die Proteste wurden bald von ausländischen Kräften ausgenutzt”, sagte Lu. “Ich denke, die ‘echten Proteste’ fanden nur am ersten Tag statt. Bereits am zweiten Tag kamen ausländische Streitkräfte ins Spiel“, erklärte Lu laut des Transkripts, das auf der Website der Botschaft veröffentlicht wurde. Lu gilt als typischer Wolfskrieger-Diplomat. Er fällt in Frankreich regelmäßig mit extremen ideologischen Äußerungen auf. ari

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    Abgeordnete gründen Hongkong-Parlamentskreis

    Bundestagsabgeordnete der FDP, CDU, SPD und der Grünen haben einen neuen Parlamentskreis gegründet, der sich explizit mit den Verhältnissen in und um Hongkong beschäftigt. “Damit wollen wir zeigen, dass unsere Solidarität mit den Menschen in Hongkong ungebrochen ist”, sagte FDP-Außenpolitiker Frank Müller-Rosentritt. “Es gibt so viele Hongkonger, die ihre freie Stadt nicht aufgeben wollen und werden.” Er und die anderen Parlamentarier wollten ein Zeichen setzen und darauf aufmerksam machen, dass Hongkong nicht von der politischen Agenda verschwunden ist.

    Dieser Parlamentskreis solle auch eine zentrale Anlaufstelle im Bundestag für Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft in Hongkong beziehungsweise im Exil sein, kündigte der FDP-Außenpolitiker an. Er wolle unter anderem den Hongkonger Aktivisten Ray Wong unterstützen, der 2017 nach Deutschland gekommen war und der erste anerkannte politische Geflüchtete aus Hongkong ist.

    Zu den Gründungsmitgliedern des Parlamentskreises gehören neben weiteren FDP-Bundestagsabgeordneten auch Roderich Kiesewetter von der CDU, Boris Mijatovic und Paula Piechotta (beide Grüne) sowie Frank Schwabe und Daniela de Ridder (beide SPD). flee

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    Jimmy Lai bleibt jahrelang in Haft

    Der Hongkonger Verleger Jimmy Lai muss langfristig hinter Gittern bleiben. Am Samstag wurde der 75-Jährige in seiner Heimatstadt zu einer weiteren Haftstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Ihm wird vorgeworfen, auf betrügerische Art gegen den Mietvertrag für die Büros seiner mittlerweile eingestellten Zeitung “Apple Daily” verstoßen zu haben.

    Lai gilt als Hongkongs prominentester Demokratieaktivist. Bereits seit Ende Dezember 2020 sitzt er wegen seiner Rolle bei der Einberufung unerlaubter Versammlungen für 20 Monate in Haft. Ein weiterer Prozess wegen Verstoßes gegen das Nationale Sicherheitsgesetz Gesetz steht noch aus (China.Table berichtete). Hier droht ihm lebenslange Haft.

    Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fordert Lais Freilassung. Das Strafverfahren gegen ihn sei “ein Rachefeldzug gegen einen führenden Verfechter von Demokratie und Medienfreiheit in Hongkong“, erklärte Maya Wang, die Asien-Direktorin der Organisation. rtr/fpe

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    Manchester: Diplomaten fliehen aus Großbritannien

    Nach dem gewaltsamen Zwischenfall am chinesischen Konsulat in Manchester haben sechs chinesische Diplomaten Großbritannien verlassen, darunter der Generalkonsul. Die Regierung in Peking habe die Ausreise der Diplomaten veranlasst, teilte der britische Außenminister James Cleverly mit.

    Eigentlich hatte die Polizei in Manchester die Aufhebung der Immunität der Diplomaten erwirken wollen, um diese zu dem gewaltsamen Zwischenfall im Oktober befragen zu können – und dafür ein Ultimatum bis Mittwoch gesetzt. Sie entziehen sich daher durch die Ausreise der britischen Justiz.

    Bei einer Demonstration für Demokratie in Hongkong im Oktober war ein Aktivist von Mitarbeitern des chinesischen Konsulats auf das Gelände gezerrt und verprügelt worden (China.Table berichtete). Londons Außenminister hatte daraufhin den Stellvertreter des außer Landes weilenden chinesischen Botschafters einbestellt. flee

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    Peking dementiert Existenz von Polizeistationen

    Die chinesische Regierung bestreitet, in anderen Staaten “Polizeidienststellen” zu betreiben. Allerdings räumte sie ein, dass es an sogenannte “Service-Stationen” für die eigenen Staatsbürger im Ausland gebe. Wie ein Sprecher des Außenministeriums in einem Schreiben mitteilte, würden “engagierte Auslandschinesen” damit Landsleute bei Behördenangelegenheiten helfen. Das Schreiben liegt der Nachrichtenagentur dpa vor. Sicherheitsbehörden in Deutschland und anderen Ländern gehen hingegen davon aus, dass solche Einrichtungen auch der Verfolgung von Regimekritikern dienten. 

    Das Schreiben stellt die Aktivitäten dagegen als harmlos dar. Die Servicestellen dienten dazu, chinesischen Staatsbürgern zu helfen, die während Covid-19 nicht heimreisen können. Dabei gehe es um medizinische Untersuchungen, Führerscheinanträge und dergleichen. Die Freiwilligen seien “engagierte Auslandschinesen, keine chinesischen Polizeibeamten”, so das Schreiben. China mische sich nicht in innere Angelegenheiten ein und respektiere die rechtliche Souveränität anderer Länder. Die “Service-Stationen” verstießen nicht gegen Recht und “verfolgten auch keine strafrechtlichen Aktivitäten”. 

    Nach Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders mit Sitz in Madrid soll es rund 100 “Zentren chinesischer Überseepolizei” in mehr als 50 Ländern geben (China.Table berichtete). Deutsche Behörden gehen davon aus, dass China in Deutschland zwei solcher Polizeistationen betreibt. flee

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    ICT wünscht sich Tibet in der China-Strategie

    Die Organisation International Campaign for Tibet (ICT) ruft die Bundesregierung dazu auf, den Tibet-Konflikt mit in ihre China-Strategie aufzunehmen. “Eine kohärente China-Politik der Bundesregierung sollte die Frage der Menschenrechte und die Rechte ganzer Volksgruppen wie der Tibeter als einen zentralen Bestandteil ihrer Beziehungen zur Volksrepublik China verstehen”, forderte Kai Müller, Geschäftsführer von ICT.

    Zumindest Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) will die wirtschaftliche Kooperation mit China stärker als bisher von der dortigen Menschenrechtslage abhängig machen. Das geht aus dem Entwurf für eine neue China-Strategie der Bundesregierung hervor. Das Papier hat das Auswärtige Amt Mitte November an die anderen Ministerien verteilt und befindet sich in der Abstimmung. Es wird damit gerechnet, dass insbesondere das Kanzleramt unter Olaf Scholz (SPD) allzu scharfe Kritik an China herausnehmen wird. flee

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    Sanktionen gegen Tibet-Funktionäre

    Die US-Regierung hat den früheren Generalsekretär der Kommunistischen Partei und den Polizeichef der autonomen Region Tibet sanktioniert. Washington beschuldigt Wu Yingjie und Zhang Hongbo schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen ihrer Amtsausführung. Beiden ist unter Executive Order 13818 die Einreise in die USA ab sofort untersagt. Etwaige Vermögenswerte der beiden werden eingefroren.

    Die Amerikaner werfen Wu und Zhang vor, verantwortlich zu sein für “außergerichtliche Tötungen, körperliche Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen und Massenverhaftungen“. Weitere Verstöße seien Zwangssterilisationen und -abtreibungen, Einschränkungen der religiösen und politischen Freiheiten und die Folterung von Gefangenen.

    Peking wies die Anschuldigungen am Montag zurück und bezeichnete die Sanktionen als illegal und schädlich für die Beziehungen beider Länder. Die International Campaign for Tibet (ICT) forderte die Bundesregierung auf, sich für vergleichbare Maßnahmen durch die EU einzusetzen. “Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Europäische Union, sollte dem Beispiel der USA folgen und gerade auch KP-Funktionäre in Tibet zur Verantwortung ziehen. Die Bundesregierung sollte sich dafür auf EU-Ebene einsetzen”, sagte ICT-Geschäftsführer Kai Müller. grz

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    Standpunkt

    EU-Lieferkettenrichtlinie muss vor Ort wirken

    Von Bärbel Kofler
    Bärbel Kofler ist seit Dezember 2021 Parlamentarische Staatssekretärin im BMZ.

    Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt am 01. Januar 2023 in Kraft – ein Meilenstein für die Stärkung und den Schutz von Menschenrechten und Umweltstandards entlang globaler Lieferketten. Gleichzeitig laufen die Verhandlungen für eine EU-weite Lieferkettenregulierung – der Corporate Sustainability Due Diligence Directive – auf Hochtouren. Unternehmerische Sorgfaltspflichten werden damit nun endlich verbindlich – ein schon lange überfälliger Schritt.

    In der aktuellen Debatte rund um die gesetzlichen Regelungen stehen jedoch vor allem die möglichen Herausforderungen für deutsche und europäische Unternehmen im Fokus. Oft rückt dabei in den Hintergrund, worum es bei den Entwicklungen wirklich geht: die Lebensbedingungen entlang globaler Lieferketten zu verbessern und die Rechte der Betroffenen zu stärken. Diesem Anspruch müssen wir gerecht werden – sowohl mit dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz als auch im Hinblick auf die geplante EU-Lieferkettenrichtlinie.

    EU-Lieferkettengesetz: gegen Missstände

    Denn die Missstände in den globalen Wertschöpfungsketten mit über 450 Millionen Beschäftigten sind groß. Viele der Produkte und Rohstoffe für den deutschen und europäischen Markt werden unter untragbaren Umwelt- und Arbeitsbedingungen, für Hungerlöhne oder sogar mithilfe ausbeuterischer Kinderarbeit hergestellt oder abgebaut. Laut neuesten Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) leisten weltweit 27,6 Millionen Menschen Zwangsarbeit, davon mehr als 3,3 Millionen Kinder.

    Vor allem vulnerable und marginalisierte Gruppen wie Frauen und Mädchen erleben in allen Sektoren oftmals mehrfache Diskriminierung und geschlechtsspezifische Formen der Gewalt – ob als Näherinnen in Textilfabriken, als Bäuerinnen auf dem Feld oder im Dienstleistungssektor. Die Covid-19-Pandemie hat diese geschlechtsbasierte Ungleichbehandlung weiter verschlechtert.

    EU-Lieferkettengesetz: Umweltschutz weiteres Ziel

    Auch die negativen Auswirkungen auf die Umwelt sind enorm: Bei der Textilproduktion etwa werden pro Jahr 43 Millionen Tonnen Chemikalien eingesetzt. Leiten Fabriken diese direkt über ihr Abwasser in umliegende Gewässer, gefährden sie damit auch die Gesundheit der Menschen in den angrenzenden Gemeinden. Der Textilsektor verursacht zudem mehr als ein Drittel des Mikroplastiks in den Weltmeeren.

    Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden finden aber nicht nur weit entfernt, sondern auch in Europa statt, etwa in Form von Ausbeutung der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in deutschen Schlachthöfen.

    Effektivität im EU-Lieferkettengesetz

    Alle diese Beispiele verdeutlichen: Gesetze über unternehmerische Sorgfaltspflichten müssen vor allem dort Wirkung entfalten, wo die Verletzungen von Mensch und Umwelt stattfinden. Doch wie erreichen wir diese gewünschte Effektivität – vor allem mit Blick auf die EU-Richtlinie?

    1. Betroffene von Menschenrechtsverletzungen brauchen effektive Klagemöglichkeiten. Eine zivilrechtliche Haftung in der EU-Regulierung ist also essenziell. Davon werden ganz besonders Personen vulnerabler oder marginalisierter Gruppen wie Frauen profitieren, die am meisten unter niedrigen Löhnen und Gewalt am Arbeitsplatz leiden. Entscheidend ist dabei auch die Ausgestaltung der Haftungsnormen: Wir brauchen eine faire Beweislastverteilung: Es kann nicht sein, dass Betroffene nachweisen müssen, dass ein internationales Unternehmen seinen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen ist – das wird in den meisten Fällen überhaupt nicht möglich sein. Außerdem muss, wie auch im deutschen Lieferkettengesetz vorgesehen, sichergestellt werden, dass Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften die Rechte der Betroffenen im Zivilprozess im eigenen Namen durchsetzen können – eine wichtige Regelung, um rechtliche Hürden abzubauen.
    2. Beschwerdemechanismen als Teil der unternehmerischen Sorgfaltspflicht müssen für alle potenziell betroffenen Rechteinhabenden leicht zugänglich sein. Das gilt auch für zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften. Gleichzeitig muss der Schutz der Hinweisgebenden vor Repressalien gegeben sein. Nur so können wirkungsvolle Abhilfe und Wiedergutmachung gelingen.
    3. Der Geltungsbereich des Entwurfs für die EU-Lieferkettenrichtlinie darf im Bereich der mittelbaren Zulieferer nicht auf “etablierte Geschäftsbeziehungen” beschränkt sein. Dieses Konstrukt schafft falsche Anreize. Gerade informelle oder kurzfristige Geschäftsbeziehungen stellen ein höheres Risiko für Menschenrechtsverletzungen dar. Das wird besonders im Textilsektor deutlich, wo schnell wechselnde Vertragsbeziehungen gang und gäbe sowie gleichzeitig Ausbeutung der Näherinnen und Nähern keine Seltenheit sind. Wir brauchen daher einen risikobasierten Ansatz, wie er international bekannt und anerkannt ist.
    4. Wichtig ist, dass auch der Schutz des Klimas und der Umwelt umfassend in die Sorgfaltspflichten einbezogen werden. Vor allem für die Menschen in Entwicklungsländern, die schon heute am meisten unter den Folgen des Klimawandels leiden, ist das überlebenswichtig. Der Übergang zu einer umwelt- und klimagerechten Wirtschaftsweise kann aber nur gelingen, wenn sich alle an dieser “Just Transition” beteiligen – und vor allem europäische Unternehmen spielen dabei eine zentrale Rolle.

    Für das, worum es tatsächlich geht – um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen entlang globaler Wertschöpfungsketten – brauchen wir also staatliches und unternehmerisches Engagement sowie klare und wirkungsvolle gesetzliche Rahmenbedingungen. Das geht aber natürlich nicht ohne die erforderliche Unterstützung. Das BMZ weitet daher derzeit bestehende nationale Angebote für Unternehmen und Zivilgesellschaft auf die EU-Ebene aus. Denn sicher ist: Wirksamkeit werden wir nur erzielen, wenn private und freiwillige Instrumente einerseits sowie staatliche und verbindliche Instrumente anderseits ineinandergreifen – ganz im Sinne der Betroffenen in unseren Wertschöpfungsketten.

    Bärbel Kofler ist Bankkauffrau, Diplom-Informatikerin, promovierte Sprachwissenschaftlerin und SPD-Mitglied. Seit 2004 gehört sie als Abgeordnete dem Deutschen Bundestag an. Von 2016 bis 2021 war sie Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt. Seit dem Start der Ampel-Koalition ist sie parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 

    Der Standpunkt ist zuerst bei unseren Kollegen von ESG.Table erschienen.

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    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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