Table.Briefing: China

Ende der Zivilgesellschaft + Interview Isabella Weber

Liebe Leserin, lieber Leser,

entspannt war die Menschenrechtslage in China noch nie. Und seit Xi Jinping das Machtzepter in der Hand hält gar noch weniger. Dass diese Bewertung keine zufällige Momentaufnahme ist, sondern das Ergebnis einer beabsichtigten Entwicklung, zeigte sich im Umgang mit den beiden Bürgerrechtlern Ding Jiaxi und Xu Zhiyong. Die beiden Juristen müssen für ihr bürgerliches Engagement im Rahmen der chinesischen Verfassung mit Haftstrafen bezahlen, die so lang sind, dass sich die Frage stellt, ob sie jemals wieder lebend aus dem Gefängnis kommen.  

Dabei hatten sie nur das befolgt, wozu Xi Jinping zu Beginn seiner Amtszeit selbst aufgerufen hatte: zum Kampf gegen die Korruption. Die Bürgerrechtler hatten 2012 die neue Parteispitze lediglich aufgefordert, Vermögenswerte von Top-Funktionären offenzulegen. Keine besonders radikale Forderung. Und doch kamen sie hinter Gittern. Weggefährten prophezeien nun, dass sich Chinas Bürgerrechtsbewegung von diesem Schlag in absehbarer nicht mehr erholen wird, schreibt Marcel Grzanna.

Ein Problem, das fast die ganze Welt derzeit plagt: die rasant steigenden Preise. Und auch der Inflationsdruck in China wird zunehmen, ist sich die Ökonomin Isabella Weber im Gespräch mit Frank Sieren sicher: Und “zwar in dem Maß, in dem die Konjunktur anspringt”. Weber, die zu Chinas wirtschaftlicher Transformation ab Anfang der 1980er-Jahre promoviert hat, weist im Umgang mit hoher Inflation jedoch auf einen Unterschied hin: China hat schon lange kein Problem damit, in Bereichen des täglichen Bedarfs oder in solchen, die in irgendeiner Weise systemrelevant sind, rechtzeitig die Preise zu deckeln. Isabella Weber ist denn auch die Architektin des deutschen Gaspreisdeckels – und hat sich dabei nicht zuletzt von den Erfahrungen, die man in China machte, inspirieren lassen. 

Einen guten Start in die Woche! 

Ihr
Felix Lee
Bild von Felix  Lee

Analyse

Das Ende des Traums von Bürgerrechten in China

Amnesty International organisierte im Januar weltweite Demonstrationen (hier in Taipeh), um die Freilassung von Bürgerrechtlern in China zu fordern – darunter Xu Zhiyong und Ding Jiaxi.

Das Schicksal des Aktivisten Ding Jiaxi nahm im Jahr 2011 eine entscheidende Wendung. Ein Freund hatte den Anwalt damals zu einem konspirativen Treffen in eine Privatwohnung in Peking eingeladen. Eine Gruppe Gleichgesinnter wollte dort über Bürgerrechte in China sprechen. Einer derjenigen, die Ding an diesem Abend kennen lernte, hieß Xu Zhiyong.

Zwölf Jahre danach sitzen beide Männer zum wiederholten Male in Haft. Dieses Mal schlug die Justiz mit ihren Urteilen so hart zu, dass alte Weggefährten befürchten, dass sich Chinas Bürgerrechtsbewegung von diesem Schlag auf Jahre hinaus nicht mehr erholen wird. Xu, der bis 2017 bereits vier Jahre abgesessen hatte, muss noch einmal für 14 Jahre hinter Gitter, Ding nach einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe für weitere zwölf. Ob sie die Haftzeit überleben, ist ungewiss. Wo sie einsitzen, wissen nicht einmal die engsten Angehörigen.

“Xu Zhiyong und mein Mann haben nichts anderes getan, als ihre verfassungsgemäßen Rechte auszuüben”, sagt Luo Shengchun im Gespräch mit China.Table. Luo ist seit 1994 mit Ding Jiaxi verheiratet und lebt seit 2013 mit den zwei Töchtern des Paares im US-Exil. Sie sagt, die Kommunistische Partei Chinas fürchte wenig mehr als das Gedankengut der beiden Bürgerrechtler. Deshalb hätten die Prozesse ohne Ankündigung und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. “Ding Jiaxi hat immer zu mir gesagt, es sei das Richtige, was er tut. Er hat nie akzeptiert, dass der Staat ihm vorwarf, das Gesetz zu brechen”, sagt Luo.

Ding hat nie den Vorwurf akzeptiert, das Gesetz zu brechen

Dem Staat stand Ding schon seit Jahrzehnten kritisch gegenüber. 1989 protestierte er mit Zehntausenden anderen auf dem Platz des Himmlischen Friedens und entkam dem Massaker am 4. Juni nur durch Zufall, weil er sich an diesem Abend an der Uni etwas Geld verdiente. “Sein Traum war es immer, Gutes für die Gesellschaft zu tun. Schon als Kind in der Schule hat er sich für Schwächere eingesetzt”, sagt Luo.

Kurz vor seiner Verurteilung am 10. April hatte Dings Anwalt eine Stellungnahme seines Mandanten veröffentlicht, die er ihm bei einem seiner letzten Besuche diktiert hatte. Ding selbst standen weder Stift noch Papier zur Verfügung. “Wie viele auch immer an mir gezweifelt haben, ungeachtet der vielen Schwierigkeiten und Rückschläge, denen ich begegnet bin, einschließlich der körperlichen Folter, die ich erlitten habe, werde ich nicht von meinen unerschütterlichen Überzeugungen abweichen“, sagte er.

Nach seinem Ingenieurs-Examen schulte Ding um und wurde Jurist. Doch anstatt mit Menschenrechten befasste er sich anderthalb Jahrzehnte lang mit Wirtschaftsrecht. Sein Traum aber ließ ihn nicht los. 2010 ging er für mehrere Monate in die USA, um sich dort inspirieren zu lassen und rückzubesinnen auf das, was er wirklich wollte. Zurück in Peking entschied er, Chinas Gesellschaft verändern zu wollen. Die Einladung zum Treffen in Peking der Gruppe um Xu Zhiyong nahm Ding Jiaxi dankend an.

Luo Shengchun und Ding Jiaxi: Dem Menschenrechtsanwalt droht lange Haft.
Luo Shengchun mit ihrem Mann Ding Jiaxi

Xu war der geistige Kopf einer Idee, die er “Bürgerliches Engagement” (公民承诺) taufte. Ein Gedankenmodell, das der Jurist schon Jahre zuvor entworfen hatte, und mit dem er die Sinne seiner chinesischen Mitbürger für deren staatsbürgerlichen Pflichten spitzen wollte. Pflichten, die seiner Meinung nach Chinas Verfassung mit Leben füllen würden: sich eine eigene Meinung zu bilden und sie frei zu äußern, sich mit anderen zu konstituieren und beliebig zu versammeln.

“Ding Jiaxi war gleich Feuer und Flamme, und er hat sich binnen kürzester Zeit zu einem der führenden Kräfte in dieser Gruppe entwickelt”, sagt der chinesische Anwalt Teng Biao, der an diesem Abend ebenfalls zu Gast war in der Pekinger Wohnung. Ding gehörte fortan zum inneren Zirkel der Gruppe und verbreitete ihre Ideen über ein Netzwerk im ganzen Land. Er bereiste zahlreiche Provinzen, traf alte Weggefährten und Kommilitonen, aber vor allem Dutzende chinesische Bürger, die sich gegen unfaire Gerichtsurteile wehren wollten.

Die Neue Bürgerbewegung griff ein altes Konzept auf

Im Frühjahr 2012 gaben die Mitglieder der Gruppe ihrem Engagement einen Namen: Neue Bürgerbewegung (新公民运动). Neu, weil sie ein altes Konzept aufgriff, aber dazu eine Satzung mit ambitionierteren Zielen formulierte: Gleichheit bei der Bildung, Offenlegung der Vermögen von Parteifunktionären und das sogenannte gemeinsame Bürger-Abendessen, ein politisches Forum, das die Ideen der Bewegung multiplizieren und weiterentwickeln sollte. “Diese Abendessen haben wir zum Teil über das Internet gestreamt und andere dazu aufgefordert, es uns gleichzutun. Wir wollten mehr und mehr Menschen von unserem Konzept begeistern”, sagt Anwalt Teng, der heute ebenfalls in den USA im Exil lebt.

Der größer werdende zivile Raum während der Ära Hu Jintao hatte die Aktivisten ermutigt. Ob sie die Gefahr kommen sahen, weiß Luo Shengchun nicht. “Irgendwann im Laufe des Jahres 2012 bemerkte ich, dass unser Haus regelmäßig von irgendwelchen Leuten belagert wurde”, erinnert sie sich. “Ich war besorgt, aber mir war nie bewusst, wie weit der Aktivismus meines Mannes schon fortgeschritten war.” Ding beruhigte sie, empfahl ihr aber gleichzeitig, sich für einen Posten ihres französischen Arbeitgebers in den USA zu bewerben.

Offener Brief an die Parteispitze mit 7.000 Unterschriften

Als Xi Jinping im Herbst 2012 beim Parteitag die Macht in China übernahm, hofften die Bürgerrechtler auf eine liberalere Zukunft. In einem Brief vom 9. Dezember forderten sie die neue Parteispitze dazu auf, Vermögenswerte von Top-Funktionären offenzulegen. 7.000 Menschen aus ganz China unterzeichneten das Dokument. Es war der aktivistische Höhepunkt der Neuen Bürgerbewegung – und ihr Anfang vom Ende.

Kurz nach dem Volkskongress, als die neue Regierung die Amtsgeschäfte übernahm und die Machtübernahme vom Nachfolgeregime um Xi Jinping abgeschlossen war, schlugen die Sicherheitskräfte gnadenlos zu: dutzende Festnahmen, Hausarreste, Anklagen, Prozesse, Haftstrafen. Ding Jiaxi wurde im April verhaftet. Noch am Tag zuvor war er mit seiner Frau in der US-Botschaft in Peking gewesen, um die Visa für sie und ihre beiden Töchter abzuholen.

Alte Weggefährten stehen alle unter Beobachtung

Als Ding und Xu 2017 aus ihrer Haft entlassen wurden, setzten sie ihren Aktivismus gebremst fort. Es gab kaum noch physische Treffen, ihr Engagement neue Mitglieder für ihre Bewegung zu gewinnen, war deutlich gedrosselt. Doch selbst das war dem Staat zu viel. Die erneuten Festnahmen der beiden Bürgerrechtler und die langen Haftstrafen wertet Anwalt Teng als klares Signal. “Xi Jinping will auch die letzten Reste der Zivilgesellschaft in China zerstören, weil er und seine Gefolgsleute große Angst davor haben, die Macht zu verlieren”, sagt er. Die wachsenden wirtschaftliche Probleme des Landes erhöhten den Druck und die Sorge vor sozialen Unruhen.

Nur noch wenige Mitglieder und Sympathisanten der Neuen Bürgerbewegung seien überhaupt noch als Aktivisten oder Menschenrechtsanwälte aktiv, sagt Teng. Die Repressionen treffen auch die Familien der Verurteilten. Die Schwester von Xu Zhiyong steht seit dem Urteil rund um die Uhr unter Beobachtung. Sie wurde gewarnt, sich mit Luo Shengchun in den USA in Verbindung zu setzen. In einer Kurznachricht bat sie Luo darum, sie nicht mehr zu kontaktieren. Andernfalls drohe ihr Haft.

Luo Shengchun hat sich vorgenommen, den Rest ihres Lebens dem Kampf gegen das “Verbrecherregime” in Peking zu widmen. Sie hofft darauf, dass die demokratische Welt die Urteile als Warnsignal versteht. “Dieses Regime ist nicht einmal bereit, die eigene Verfassung zu respektieren. Sie wird überall auf der Welt die Regeln missachten”, sagt sie.

  • Menschenrechte
  • Teng Biao

Interview

“KP war Pionier in der Wiedererschaffung von Märkten”

Isabella M. Weber ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst.

Sie gelten als die Erfinderin des Gaspreisdeckels, den Sie mit einem Essay im Guardian im Dezember 2021 angestoßen hatten. Auf die Idee dazu sind Sie gekommen, weil Sie ein Buch geschrieben haben, dass sich mit der Öffnungspolitik Chinas beschäftigt. Ein höchst aktueller Titel: “Das Gespenst der Inflation”. Was haben Chinas Kommunisten mit dem deutschen Gaspreisdeckel zu tun?

Wie Deutschland heute angesichts des Krieges gegen die Ukraine befand sich China in den 1980er-Jahren in einer Zeit außergewöhnlicher Umbrüche. In China ging es um den Übergang von einer Plan- hin zu einer Marktwirtschaft. Als Reaktion auf die Pandemie griffen Staaten plötzlich sehr weitgehend in das Wirtschaftsgeschehen ein und es kam aufgrund von Krieg und Shutdowns zu Strukturbrüchen. In beiden Fällen, China in den 1980er-Jahren und Deutschland heute, ist die Gefahr einer galoppierenden Inflation groß.

Und dann ist die Therapie auch ähnlich?

Der Kontext ist sehr unterschiedlich, aber es gibt dennoch Lektionen aus der Geschichte. Damals hatte China von Ludwig Erhards Wirtschaftspolitik gelernt. In allen drei Fällen wurde in unterschiedlichem Ausmaß direkte Preisstabilisierung von wichtigen Gütern eingesetzt, um Inflation und gesellschaftlicher Destabilisierung entgegenzuwirken.

Also eine Mischung aus Plan- und Marktwirtschaft?

Im chinesischen Falle, ja. Plan für den Kern und Markt für alles andere. Und der Kern sind nicht einmal ganze Sektoren einer Wirtschaft, sondern können zum Beispiel auch nur die drei größten Stahlwerke des Landes sein. Die Reformkader haben eben damals eine Lösung gewählt, die nicht alles auf einmal riskiert.

Also eine neue Wirtschaftspolitik?

Nein, diese Krisenpolitik haben die Chinesen nicht erfunden, sie haben sie nur adaptiert. Ähnliche Vorschläge gab es auch schon nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA. Das Land musste sich aus der Kriegs- in eine Marktwirtschaft entwickeln und um dieser Herausforderung gerecht zu werden, empfahlen Amerikas wichtigste Ökonomen damals wichtige Preise stabil zu halten. China hat nicht einfach aus dem Ausland kopiert, sondern historische Erfahrungen genau studiert und für eigene Zwecke genutzt. Heute haben wir dagegen die Erfahrungen unserer eigenen Geschichte oft vergessen, die den Chinesen zum Erfolg verholfen haben.

Allerdings hat die Politik in China nicht funktioniert. Ende der 1980er-Jahre gab es eine Inflation von über 30 Prozent, einer der Gründe für die Proteste am Platz des Himmlischen Friedens, die dann blutig niedergeschlagen wurden.

Ja, aber es ging mir auch nicht darum, von China zu lernen, nach dem Motto: China hat alles richtig gemacht, und jetzt nehmen wir deren Konzept aus der Schublade und dann wird alles gut. 

Sondern?

Die Chinesen haben damals die Dinge nicht nur aus einer makroökonomischen Perspektive betrachtet, sondern auch großes Augenmerk auf wichtige einzelne Preise gelegt. Sie waren unter den kommunistischen Ländern in den 1980ern Pioniere in der Wiedererschaffung von Märkten. Die Länder der Sowjetunion sollten erst ein Jahrzehnt später gezwungenermaßen nachziehen – mit sehr gemischtem Erfolg.

Und dann haben Sie einen Text in der britischen Zeitung Guardian geschrieben, mit dem denkwürdigen Satz: “Wir brauchen eine ernsthafte Debatte über strategische Preiskontrollen – so wie nach dem Krieg”. Von China, dem zentralen Thema Ihres Buches war darin aber nicht die Rede.

Ich wollte nicht, dass der Vorschlag vor dem Hintergrund des Weltmachtkonflikts zwischen China und den USA zerrieben wird. Also habe ich mich auf die Nachkriegszeit in den USA bezogen, die ich auch in meinem Buch bespreche. Hilfreich dabei: Auch der White House Council of Economic Advisers, also die höchsten Priester der US-Wirtschaftspolitik, hatten bereits nach Covid, aber noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine diesen historischen Vergleich gemacht.

Ihr Satz hatte auch so genug Sprengstoff.

Wenn man es an dem Shitstorm misst, der dann losbrach, kann man das durchaus so formulieren. Dieser Weg passte einerseits Ökonomen nicht, die wie Larry Summers denken. Deren Therapie war es, sofort die Zinsen zu erhöhen – ungezielt wie ein Breitbandantibiotikum. Das ist mir ein viel zu massiver Eingriff. Er belastet die gesamte Wirtschaft, statt Preisexplosionen in spezifischen Bereichen zu bekämpfen.

Aber auch den progressiven Marktliberalen passte es nicht.

Sie glaubten, man müsse gar nichts tun, weil die Inflation früher oder später schon wieder verschwindet. Auch da habe ich widersprochen: Das ist zu riskant, weil das in weitreichender wirtschaftlicher Destabilisierung münden kann. Deswegen brauchen wir einen dritten Weg: Wenn ein Feuer in der Küche brennt, ist es weder sinnvoll, zu hoffen, dass das Feuer schon wieder ausgeht, noch, das ganze Haus unter Wasser zu setzen. Genau nach diesem Prinzip ist man im China der 1980er und auch im deutschen Jedermann-Programm verfahren: vernünftig und maßvoll in beiden Fällen. In dem Shitstorm taten hingegen manche so, als hätte ich Preiskontrollen sofort, Planwirtschaft am Nachmittag und den Kommunismus morgen früh gefordert.

Durch den Angriff von Putin auf die Ukraine wurden ihre Überlegungen dann plötzlich für Deutschland interessant.

Da habe ich dann nicht mehr abstrakt argumentiert, sondern zusammen mit meinem Kollegen Sebastian Dullien konkret einen Gaspreisdeckel für Deutschland gefordert. Wir haben argumentiert, dass dieser heftige Preisanstieg nicht von den Haushalten gestemmt werden kann und deshalb der Staat bei Grundbedürfnissen helfen muss, während Preissignale erhalten bleiben, wo sie wirken können.

Die Reaktion auf diesen Artikel war anfänglich auch sehr kritisch und ideologisch.

Ja, aber die Debatte wurde schnell konkreter und offener in dem Maße, in dem es schwieriger wurde, den Menschen zu sagen: Stellt euch nicht so an. Ende September 2022 war der Widerstand der Verbraucher und ihrer Verbände immer lauter zu hören. Die Bundesregierung kam unter Druck und musste reagieren. Als sich dann selbst FDP-Chef Christian Lindner hinter den Gaspreisdeckel stellte, wurde klar: Er wird bald kommen.

Und dann musste es sehr schnell gehen.

Ja. Ende September wurde die Gas-Wärme-Kommission der Bundesregierung eingesetzt, deren Mitglied ich wurde. Dann kam der “Doppel-Wumms” – ein starkes Signal in Richtung der Argumentationslinie, die ich vertrete.

Ein gutes Beispiel dafür, wie man voneinander lernen kann in der Globalisierung?

Durchaus, vor allem, wenn wir uns plötzlich in einer radikal neuen Lage befinden und uns mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert sehen. Zu schauen, was die anderen machen, und daraus Strategien für die eigene Entwicklung zu ziehen, hat in China das Ende des Maoismus und den Anfang des wirtschaftlichen Aufstieges bedeutet. Heute besteht in China die Gefahr einer Rückkehr zu einer ideologischeren Herangehensweise.

Deutschland leidet im März noch immer unter einer Inflation von 7,4 Prozent. Sie ist damit zehnmal höher als in China. In der EU liegt sie sogar bei 8,4 Prozent. Ähnlich beim Wachstum in Deutschland: 0,4 Prozent im ersten Quartal, 4,5 Prozent in China, also ebenfalls zehnmal höher. Was schließen Sie daraus?

Die Kuh ist in Europa noch längst nicht vom Eis. Die Internationale Energieagentur hat bereits gewarnt, dass es nochmal große Energiepreisschübe geben könnte. Deshalb ist es gut, dass es die Gaspreisbremse gibt. Dennoch hat die Gaspreisbremse letztlich sehr spät gegriffen. Hohe Preise hatten einigen Unternehmen bereits die Luft genommen und dann kommen noch hohe Zinsen obendrauf. Andere Unternehmen überlegen, abzuwandern. Es gibt aber natürlich auch Krisengewinner, die explodierte Profite eingefahren haben. Die Sparrücklagen der Menschen werden immer geringer. Reallöhne sind gefallen.

Warum ist die Inflation in China so niedrig, trotz einer Wirtschaftskrise 2022?

Ich glaube, dass der Inflationsdruck in China erst noch kommen wird, in dem Maß, in dem die Konjunktur nun anspringt. Aber – und das ist der große Unterschied zu uns – die Chinesen haben ausgiebige jüngere Erfahrungen mit diesen Phänomenen. Sie mussten zwar auch erst aus Schaden klug werden. Allerdings hat Peking inzwischen das Instrumentarium entwickelt, um mit solchen Inflationsschüben frühzeitig und behutsam umzugehen.

Wie genau?

In China werden bis heute einzelne Preise – zum Beispiel im Energiebereich – gesteuert. Dabei gibt es sowohl Instrumente, die so ähnlich wie die amerikanische Strategic Petroleum Reserve funktionieren, als auch direkte Preisbremsen. Trotz dieser Stabilisierungsmaßnahmen ist der marktwirtschaftliche Wettbewerb brutal. Ich mache mir derzeit mehr Sorgen um Inflation und Wachstum in Europa als in China. Viel, sehr viel, hängt von unserer Bereitschaft ab, schnell und ohne Scheuklappen pragmatisch eine Wirtschaftspolitik zu entwickeln, die den Herausforderungen einer Zeitenwende gerecht wird.

Isabella M. Weber, geboren 1987 in Nürnberg, ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst. Sie ist dort die Forschungsleiterin für China Studies am Political Economy Research Institute. Eine überarbeitete Version ihrer Dissertation ist gerade unter dem Titel: “Das Gespenst der Inflation – wie China der Schocktherapie entkam” bei Suhrkamp erschienen.

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News

Ukrainischer Vize-Minister glaubt an Vermittlerrolle Chinas

Der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hält eine friedensstiftende Vermittlerrolle Chinas für möglich. Wie er den Zeitungen der Funke Mediengruppe erklärt, hätten die Chinesen zwar ihre eigenen Interessen. Auf die Frage, ob China dennoch Frieden stiften könne, entgegnet der Diplomat, dass dies nicht unrealistisch sei.

Eine friedliche Lösung und das Ende der Kampfhandlungen würden den Interessen Pekings mehr entsprechen “als dieses gewaltige, nicht enden wollende Erdbeben für die gesamte Weltordnung”, so Melnyk, der jetzt stellvertretender Außenminister in der Ukraine ist. Das Telefonat des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping bewertete er als großen Schritt nach vorn, “um unsere Beziehungen zu China zu stärken und die russische Aggression zu beenden”. grz/rtr

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EU-Politiker Bütikofer kandidiert nicht mehr

Der Grünen-Europapolitiker und China-Experte Reinhard Bütikofer tritt bei der Europawahl im Frühjahr 2024 nicht mehr an. “Ich bin sehr froh, drei Perioden im Europaparlament gewirkt zu haben. Aber ich kann mir auch noch spannende Erfahrungen außerhalb des Europaparlaments vorstellen”, sagte der 70-Jährige zu Table.Media. Bütikofer hatte bereits bei seiner Nominierung vor der letzten Europawahl 2019 angekündigt, nach dieser Wahlperiode aus der Europapolitik auszuscheiden.

Der gebürtige Mannheimer war von 2012 bis 2019 Chef der europäischen Grünen-Partei. Er wurde 2009 das erste Mal ins Europaparlament gewählt, 2014 und 2019 wiedergewählt. Im Europaparlament hat er sich auf Außenpolitik und Handelspolitik konzentriert. Er ist Chef der Delegation für die Beziehungen mit China und Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu den USA. An der derzeit in der EU und auch der Bundesregierung viel diskutierten China-Strategie gilt er als einer der wichtigen Vordenker. Vor seiner Karriere in Europa war Bütikofer von 2002 bis 2008 Co-Chef der Bundespartei. mgr

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Källenius erwartet weiter gute Geschäfte

Mercedes-Benz rechnet mit weiteren Zuwächsen im China-Geschäft. “Unsere Verkaufszahlen in China steigen, und ich bin recht optimistisch, dass wir dort auch im laufenden Jahr wachsen”, sagte Vorstandschef Ola Källenius der Bild am Sonntag. “Während der Corona-Jahre haben besonders die vermögenderen Chinesen außergewöhnlich viel gespart. Diese Kaufkraft dürfte uns zugutekommen.”

Dass sich unter den meistverkauften Elektroautos in China kein deutsches Modell befinde, sei für Mercedes-Benz kein Problem. “Deutlich über 90 Prozent des Absatzes wird mit E-Autos erzielt, die weniger als 53.000 Euro kosten”, sagte Källenius. “In dem Segment treten wir ja gar nicht an. An dem Preiskrieg im Volumen-Markt wollen wir uns auch nicht beteiligen.”

Die Sorgen vor einem möglichen Angriff Chinas auf Taiwan sieht Källenius nicht als Anlass einer wirtschaftlichen Abkopplung westlicher Staaten von China. “Eine Entflechtung von China ist eine Illusion und auch nicht erstrebenswert”, sagte er. Allerdings müsse man bei fragilen Lieferketten widerstandsfähiger werden. rtr

  • Autoindustrie

Presseschau

Spannungen zwischen China und Taiwan: “Auf jedes Szenario vorbereitet” SPIEGEL
China beschert der Welt ein Atom-Dreieck FRANKFURTER RUNDSCHAU
Biden, Marcos seek ways to check China MANILATIMES
Australia can play “stabilising role” in Asia amid US-China tensions, Singapore ministers say SCMP
Konservative gewinnen: Taiwan kann sich nach Wahl in Paraguay freuen FAZ
Chinesisch-Deutsche Städteallianz – China und Deutschland: Die versuchte Unterwanderung WELT
India’s intriguing trade ties with China THE HINDU BUSINESSLINE
Chinesische Industrie unerwartet geschrumpft FUW
Volkswagen plant in China offenbar neue VW-Marke für Elektro-Autos FINANZEN
Mercedes: Ola Källenius hält mögliche Entflechtung von China für “Illusion” FINANZEN
China’s Midea seeking to buy Electrolux: sources TAIPEI TIMES
Erster Mai in China: Superschlechtes Tauschgeschäft TAZ
Bitkom: ChatGPT könnte Anfang vom Ende von Chinas Tech-Branche sein BERLINER ZEITUNG
Entscheidung erst im Tiebreak: Ding Liren erster Schachweltmeister aus China ZDF

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Heads

Ding Liren – Schach-Weltmeister mit unverschuldetem Makel

Chinas erster Schach-Weltmeister: Ding Liren.

Als sein Gegner die Hand über das Brett streckte, zuckte Ding Liren fast erschrocken zusammen. Er benötigte einen Augenblick, um das eindeutige Signal als solches auch wirklich deuten zu können. Dann begrub er sein Gesicht fast eine halbe Minute lang in der linken Hand und rang nach Fassung: Schach-Weltmeister.

Nach einem dreiwöchigen Kraftakt in Kasachstans Hauptstadt Astana mit einem Gleichstand nach 14 Partien und der Dramatik im vierten und letzten Match des Tiebreaks hatte Ding den Russen Jan Nepomnjaschtschi niedergerungen. Mit einem falschen Damen-Zug unter höchstem Zeitdruck hatte Nepomnjaschtschi seinem Gegenüber die Tür zum Thron des Schach-Weltverbandes aufgestoßen.

Durch diese Tür ging Ding Liren nun als erster Chinese. Die Frauen des Landes sind zwar seit Jahrzehnten schon absolute Weltklasse. 1991 gewann Xie Jun erstmals den WM-Titel für die Volksrepublik. Aber wie in vielen Sportarten wird Erfolg im Schach hauptsächlich über den Erfolg der Männer definiert. Die mediale Aufmerksamkeit ist vornehmlich auf sie gerichtet, weniger auf die Frauen, die ihrerseits aber an den Männer-Wettbewerben teilnehmen dürfen. Umgekehrt geht das nicht.

Dings Qualitäten am Brett sind unbestritten

Medialer Aufmerksamkeit darf sich Ding Liren zukünftig gewiss sein. Nicht nur in China. Auch weil sein WM-Titel einen Makel trägt, den er nicht zu verschulden hat. Denn weder Ding noch Nepomnjaschtschi gelten als die besten Schachspieler der Welt, obwohl sie sich im WM-Turnier gegenüber saßen.

Stattdessen dominiert der Norweger Magnus Carlsen das Spiel der Könige. Carlsen aber hatte nach fünf WM-Titeln in Serie keine Lust mehr verspürt, erneut anzutreten gegen einen Herausforderer und deswegen freiwillig auf seine Teilnahme verzichtet. Ding Liren dürfte so lange mit diesem Makel konfrontiert werden, bis er die Chance bekommt, sich gegen Carlsen zu beweisen.

Dabei sind Dings Qualitäten am Brett unbestritten und schon oft bewiesen. Kein Chinese hat jemals zuvor eine so hohe ELO-Zahl erreicht wie er. Dieser Wert gilt als allgemein gültige Bemessung der Spielstärke. Seit seiner Einführung im Jahr 1970 haben nur 132 Schachspieler die Marke von 2.700 Punkten geknackt. Dings Bestwert liegt bei 2816, der zehnthöchste jemals gemessene Wert. Der von Carlsen liegt bei 2.885 – eine andere Liga. Die stärkste Frau aller Zeiten ist die Chinesin Hou Yifan mit 2.650 Punkten.

Bekanntheitsgrad in China wird drastisch steigen

Seine Spielstärke stellte Ding Liren bereits als Teenager unter Beweis, als er 2009 mit nur 16 Jahren als erster Jugendlicher chinesischer Landesmeister wurde. International sorgte er für große Aufmerksamkeit, als er zwischen August 2017 und November 2018 in 100 Partien im klassischen Schach in Serie ungeschlagen blieb – also in Präsenzpartien, nicht online, und mit einer Bedenkzeit von mindestens 60 Minuten. Nie zuvor hatte ein Schachspieler eine solche Serie produziert. Der Norweger Carlsen jagte ihm den Rekord jedoch nur ein Jahr später ab.

Der WM-Titel wird den Bekanntheitsgrad des 30-jährigen Ding besonders auch in China dramatisch erhöhen. Das Sport-Ministerium setzte nach dem Triumph bereits den Ton und gratulierte zu einem großen Sieg für das Vaterland. Dabei behandelten Chinas Sport-Funktionäre ihre Schach-Spitzentalente eher etwas stiefmütterlich in den vergangenen Jahren. In einem Interview im Jahr 2017 erzählte Ding, dass er die Reisen zu internationalen Turnieren vornehmlich selbst organisierte und aus eigener Tasche bezahlte.

Jura-Studium als zweites Standbein

Allerdings erlebte Schach als Breitensport in China tatsächlich eine Renaissance durch den Triumph von Xie Jun bei den Frauen 1991. Nachdem das Spiel während der Kulturrevolution sogar verboten war, öffneten seit den 1990er-Jahren immer mehr Schachklubs im ganzen Land. In einem davon in seiner Heimatstadt Wenzhou erlernte auch Ding Liren als kleiner Junge das Spiel. Früh dominierte er die Wettkämpfe gegen seine Altersgenossen.

Mit dem Gewinn der Landesmeisterschaft stellte sich schließlich die Frage, ob er es als Profi versuchen wollte. Weil seine Eltern, ein Ingenieur und eine Krankenschwester, Zweifel hegten, fuhr Ding zweigleisig. Neben dem Schachtraining besuchte er die Peking-Universität, um seinen Abschluss in Jura zu machen. Seit einigen Jahren konzentriert sich der 30-Jährige nun gänzlich auf den Sport.

Finanziell hat sich der WM-Titel auf jeden Fall schon ausgezahlt. 1,1 Millionen Dollar bescherte ihm der Triumph, und sein Marktwert für die Teilnahme an kommenden Einladungsturnieren ist drastisch gestiegen. Marcel Grzanna

Personalien

Sebastian Brandes leitet seit April die Geschäftsentwicklung Vertrieb China bei der Audi AG. Der Strategiemanager arbeitet seit acht Jahren für den Autobauer. Sein Einsatzort bleibt bis auf Weiteres Ingolstadt.

Monica Liu ist seit dem 1. April Leiterin des Bereichs Private Markets Greater China bei UBS Global. Liu verfügt über 16 Jahre Erfahrung im Bereich Private-Equity-Fonds und kam im Februar letzten Jahres zu UBS. Zuvor war sie 10 Jahre lang bei der Bank of China tätig und hat auch bei einer Reihe anderer Banken gearbeitet, darunter JP Morgan.

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Dessert

Hosen runter, Bauch raus – protestiert wird leidenschaftlich und vielseitig in Taiwan. Den Tag der Arbeit haben mehr als 5.000 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in der Hauptstadt Taipeh mit Aktionen und Demonstrationen begangen. Sie fordern höhere Löhne und weniger Arbeitszeit. Kommt uns bekannt vor? Kein Wunder. Arbeiterrechte sind universell.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
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    entspannt war die Menschenrechtslage in China noch nie. Und seit Xi Jinping das Machtzepter in der Hand hält gar noch weniger. Dass diese Bewertung keine zufällige Momentaufnahme ist, sondern das Ergebnis einer beabsichtigten Entwicklung, zeigte sich im Umgang mit den beiden Bürgerrechtlern Ding Jiaxi und Xu Zhiyong. Die beiden Juristen müssen für ihr bürgerliches Engagement im Rahmen der chinesischen Verfassung mit Haftstrafen bezahlen, die so lang sind, dass sich die Frage stellt, ob sie jemals wieder lebend aus dem Gefängnis kommen.  

    Dabei hatten sie nur das befolgt, wozu Xi Jinping zu Beginn seiner Amtszeit selbst aufgerufen hatte: zum Kampf gegen die Korruption. Die Bürgerrechtler hatten 2012 die neue Parteispitze lediglich aufgefordert, Vermögenswerte von Top-Funktionären offenzulegen. Keine besonders radikale Forderung. Und doch kamen sie hinter Gittern. Weggefährten prophezeien nun, dass sich Chinas Bürgerrechtsbewegung von diesem Schlag in absehbarer nicht mehr erholen wird, schreibt Marcel Grzanna.

    Ein Problem, das fast die ganze Welt derzeit plagt: die rasant steigenden Preise. Und auch der Inflationsdruck in China wird zunehmen, ist sich die Ökonomin Isabella Weber im Gespräch mit Frank Sieren sicher: Und “zwar in dem Maß, in dem die Konjunktur anspringt”. Weber, die zu Chinas wirtschaftlicher Transformation ab Anfang der 1980er-Jahre promoviert hat, weist im Umgang mit hoher Inflation jedoch auf einen Unterschied hin: China hat schon lange kein Problem damit, in Bereichen des täglichen Bedarfs oder in solchen, die in irgendeiner Weise systemrelevant sind, rechtzeitig die Preise zu deckeln. Isabella Weber ist denn auch die Architektin des deutschen Gaspreisdeckels – und hat sich dabei nicht zuletzt von den Erfahrungen, die man in China machte, inspirieren lassen. 

    Einen guten Start in die Woche! 

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    Felix Lee
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    Analyse

    Das Ende des Traums von Bürgerrechten in China

    Amnesty International organisierte im Januar weltweite Demonstrationen (hier in Taipeh), um die Freilassung von Bürgerrechtlern in China zu fordern – darunter Xu Zhiyong und Ding Jiaxi.

    Das Schicksal des Aktivisten Ding Jiaxi nahm im Jahr 2011 eine entscheidende Wendung. Ein Freund hatte den Anwalt damals zu einem konspirativen Treffen in eine Privatwohnung in Peking eingeladen. Eine Gruppe Gleichgesinnter wollte dort über Bürgerrechte in China sprechen. Einer derjenigen, die Ding an diesem Abend kennen lernte, hieß Xu Zhiyong.

    Zwölf Jahre danach sitzen beide Männer zum wiederholten Male in Haft. Dieses Mal schlug die Justiz mit ihren Urteilen so hart zu, dass alte Weggefährten befürchten, dass sich Chinas Bürgerrechtsbewegung von diesem Schlag auf Jahre hinaus nicht mehr erholen wird. Xu, der bis 2017 bereits vier Jahre abgesessen hatte, muss noch einmal für 14 Jahre hinter Gitter, Ding nach einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe für weitere zwölf. Ob sie die Haftzeit überleben, ist ungewiss. Wo sie einsitzen, wissen nicht einmal die engsten Angehörigen.

    “Xu Zhiyong und mein Mann haben nichts anderes getan, als ihre verfassungsgemäßen Rechte auszuüben”, sagt Luo Shengchun im Gespräch mit China.Table. Luo ist seit 1994 mit Ding Jiaxi verheiratet und lebt seit 2013 mit den zwei Töchtern des Paares im US-Exil. Sie sagt, die Kommunistische Partei Chinas fürchte wenig mehr als das Gedankengut der beiden Bürgerrechtler. Deshalb hätten die Prozesse ohne Ankündigung und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. “Ding Jiaxi hat immer zu mir gesagt, es sei das Richtige, was er tut. Er hat nie akzeptiert, dass der Staat ihm vorwarf, das Gesetz zu brechen”, sagt Luo.

    Ding hat nie den Vorwurf akzeptiert, das Gesetz zu brechen

    Dem Staat stand Ding schon seit Jahrzehnten kritisch gegenüber. 1989 protestierte er mit Zehntausenden anderen auf dem Platz des Himmlischen Friedens und entkam dem Massaker am 4. Juni nur durch Zufall, weil er sich an diesem Abend an der Uni etwas Geld verdiente. “Sein Traum war es immer, Gutes für die Gesellschaft zu tun. Schon als Kind in der Schule hat er sich für Schwächere eingesetzt”, sagt Luo.

    Kurz vor seiner Verurteilung am 10. April hatte Dings Anwalt eine Stellungnahme seines Mandanten veröffentlicht, die er ihm bei einem seiner letzten Besuche diktiert hatte. Ding selbst standen weder Stift noch Papier zur Verfügung. “Wie viele auch immer an mir gezweifelt haben, ungeachtet der vielen Schwierigkeiten und Rückschläge, denen ich begegnet bin, einschließlich der körperlichen Folter, die ich erlitten habe, werde ich nicht von meinen unerschütterlichen Überzeugungen abweichen“, sagte er.

    Nach seinem Ingenieurs-Examen schulte Ding um und wurde Jurist. Doch anstatt mit Menschenrechten befasste er sich anderthalb Jahrzehnte lang mit Wirtschaftsrecht. Sein Traum aber ließ ihn nicht los. 2010 ging er für mehrere Monate in die USA, um sich dort inspirieren zu lassen und rückzubesinnen auf das, was er wirklich wollte. Zurück in Peking entschied er, Chinas Gesellschaft verändern zu wollen. Die Einladung zum Treffen in Peking der Gruppe um Xu Zhiyong nahm Ding Jiaxi dankend an.

    Luo Shengchun und Ding Jiaxi: Dem Menschenrechtsanwalt droht lange Haft.
    Luo Shengchun mit ihrem Mann Ding Jiaxi

    Xu war der geistige Kopf einer Idee, die er “Bürgerliches Engagement” (公民承诺) taufte. Ein Gedankenmodell, das der Jurist schon Jahre zuvor entworfen hatte, und mit dem er die Sinne seiner chinesischen Mitbürger für deren staatsbürgerlichen Pflichten spitzen wollte. Pflichten, die seiner Meinung nach Chinas Verfassung mit Leben füllen würden: sich eine eigene Meinung zu bilden und sie frei zu äußern, sich mit anderen zu konstituieren und beliebig zu versammeln.

    “Ding Jiaxi war gleich Feuer und Flamme, und er hat sich binnen kürzester Zeit zu einem der führenden Kräfte in dieser Gruppe entwickelt”, sagt der chinesische Anwalt Teng Biao, der an diesem Abend ebenfalls zu Gast war in der Pekinger Wohnung. Ding gehörte fortan zum inneren Zirkel der Gruppe und verbreitete ihre Ideen über ein Netzwerk im ganzen Land. Er bereiste zahlreiche Provinzen, traf alte Weggefährten und Kommilitonen, aber vor allem Dutzende chinesische Bürger, die sich gegen unfaire Gerichtsurteile wehren wollten.

    Die Neue Bürgerbewegung griff ein altes Konzept auf

    Im Frühjahr 2012 gaben die Mitglieder der Gruppe ihrem Engagement einen Namen: Neue Bürgerbewegung (新公民运动). Neu, weil sie ein altes Konzept aufgriff, aber dazu eine Satzung mit ambitionierteren Zielen formulierte: Gleichheit bei der Bildung, Offenlegung der Vermögen von Parteifunktionären und das sogenannte gemeinsame Bürger-Abendessen, ein politisches Forum, das die Ideen der Bewegung multiplizieren und weiterentwickeln sollte. “Diese Abendessen haben wir zum Teil über das Internet gestreamt und andere dazu aufgefordert, es uns gleichzutun. Wir wollten mehr und mehr Menschen von unserem Konzept begeistern”, sagt Anwalt Teng, der heute ebenfalls in den USA im Exil lebt.

    Der größer werdende zivile Raum während der Ära Hu Jintao hatte die Aktivisten ermutigt. Ob sie die Gefahr kommen sahen, weiß Luo Shengchun nicht. “Irgendwann im Laufe des Jahres 2012 bemerkte ich, dass unser Haus regelmäßig von irgendwelchen Leuten belagert wurde”, erinnert sie sich. “Ich war besorgt, aber mir war nie bewusst, wie weit der Aktivismus meines Mannes schon fortgeschritten war.” Ding beruhigte sie, empfahl ihr aber gleichzeitig, sich für einen Posten ihres französischen Arbeitgebers in den USA zu bewerben.

    Offener Brief an die Parteispitze mit 7.000 Unterschriften

    Als Xi Jinping im Herbst 2012 beim Parteitag die Macht in China übernahm, hofften die Bürgerrechtler auf eine liberalere Zukunft. In einem Brief vom 9. Dezember forderten sie die neue Parteispitze dazu auf, Vermögenswerte von Top-Funktionären offenzulegen. 7.000 Menschen aus ganz China unterzeichneten das Dokument. Es war der aktivistische Höhepunkt der Neuen Bürgerbewegung – und ihr Anfang vom Ende.

    Kurz nach dem Volkskongress, als die neue Regierung die Amtsgeschäfte übernahm und die Machtübernahme vom Nachfolgeregime um Xi Jinping abgeschlossen war, schlugen die Sicherheitskräfte gnadenlos zu: dutzende Festnahmen, Hausarreste, Anklagen, Prozesse, Haftstrafen. Ding Jiaxi wurde im April verhaftet. Noch am Tag zuvor war er mit seiner Frau in der US-Botschaft in Peking gewesen, um die Visa für sie und ihre beiden Töchter abzuholen.

    Alte Weggefährten stehen alle unter Beobachtung

    Als Ding und Xu 2017 aus ihrer Haft entlassen wurden, setzten sie ihren Aktivismus gebremst fort. Es gab kaum noch physische Treffen, ihr Engagement neue Mitglieder für ihre Bewegung zu gewinnen, war deutlich gedrosselt. Doch selbst das war dem Staat zu viel. Die erneuten Festnahmen der beiden Bürgerrechtler und die langen Haftstrafen wertet Anwalt Teng als klares Signal. “Xi Jinping will auch die letzten Reste der Zivilgesellschaft in China zerstören, weil er und seine Gefolgsleute große Angst davor haben, die Macht zu verlieren”, sagt er. Die wachsenden wirtschaftliche Probleme des Landes erhöhten den Druck und die Sorge vor sozialen Unruhen.

    Nur noch wenige Mitglieder und Sympathisanten der Neuen Bürgerbewegung seien überhaupt noch als Aktivisten oder Menschenrechtsanwälte aktiv, sagt Teng. Die Repressionen treffen auch die Familien der Verurteilten. Die Schwester von Xu Zhiyong steht seit dem Urteil rund um die Uhr unter Beobachtung. Sie wurde gewarnt, sich mit Luo Shengchun in den USA in Verbindung zu setzen. In einer Kurznachricht bat sie Luo darum, sie nicht mehr zu kontaktieren. Andernfalls drohe ihr Haft.

    Luo Shengchun hat sich vorgenommen, den Rest ihres Lebens dem Kampf gegen das “Verbrecherregime” in Peking zu widmen. Sie hofft darauf, dass die demokratische Welt die Urteile als Warnsignal versteht. “Dieses Regime ist nicht einmal bereit, die eigene Verfassung zu respektieren. Sie wird überall auf der Welt die Regeln missachten”, sagt sie.

    • Menschenrechte
    • Teng Biao

    Interview

    “KP war Pionier in der Wiedererschaffung von Märkten”

    Isabella M. Weber ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst.

    Sie gelten als die Erfinderin des Gaspreisdeckels, den Sie mit einem Essay im Guardian im Dezember 2021 angestoßen hatten. Auf die Idee dazu sind Sie gekommen, weil Sie ein Buch geschrieben haben, dass sich mit der Öffnungspolitik Chinas beschäftigt. Ein höchst aktueller Titel: “Das Gespenst der Inflation”. Was haben Chinas Kommunisten mit dem deutschen Gaspreisdeckel zu tun?

    Wie Deutschland heute angesichts des Krieges gegen die Ukraine befand sich China in den 1980er-Jahren in einer Zeit außergewöhnlicher Umbrüche. In China ging es um den Übergang von einer Plan- hin zu einer Marktwirtschaft. Als Reaktion auf die Pandemie griffen Staaten plötzlich sehr weitgehend in das Wirtschaftsgeschehen ein und es kam aufgrund von Krieg und Shutdowns zu Strukturbrüchen. In beiden Fällen, China in den 1980er-Jahren und Deutschland heute, ist die Gefahr einer galoppierenden Inflation groß.

    Und dann ist die Therapie auch ähnlich?

    Der Kontext ist sehr unterschiedlich, aber es gibt dennoch Lektionen aus der Geschichte. Damals hatte China von Ludwig Erhards Wirtschaftspolitik gelernt. In allen drei Fällen wurde in unterschiedlichem Ausmaß direkte Preisstabilisierung von wichtigen Gütern eingesetzt, um Inflation und gesellschaftlicher Destabilisierung entgegenzuwirken.

    Also eine Mischung aus Plan- und Marktwirtschaft?

    Im chinesischen Falle, ja. Plan für den Kern und Markt für alles andere. Und der Kern sind nicht einmal ganze Sektoren einer Wirtschaft, sondern können zum Beispiel auch nur die drei größten Stahlwerke des Landes sein. Die Reformkader haben eben damals eine Lösung gewählt, die nicht alles auf einmal riskiert.

    Also eine neue Wirtschaftspolitik?

    Nein, diese Krisenpolitik haben die Chinesen nicht erfunden, sie haben sie nur adaptiert. Ähnliche Vorschläge gab es auch schon nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA. Das Land musste sich aus der Kriegs- in eine Marktwirtschaft entwickeln und um dieser Herausforderung gerecht zu werden, empfahlen Amerikas wichtigste Ökonomen damals wichtige Preise stabil zu halten. China hat nicht einfach aus dem Ausland kopiert, sondern historische Erfahrungen genau studiert und für eigene Zwecke genutzt. Heute haben wir dagegen die Erfahrungen unserer eigenen Geschichte oft vergessen, die den Chinesen zum Erfolg verholfen haben.

    Allerdings hat die Politik in China nicht funktioniert. Ende der 1980er-Jahre gab es eine Inflation von über 30 Prozent, einer der Gründe für die Proteste am Platz des Himmlischen Friedens, die dann blutig niedergeschlagen wurden.

    Ja, aber es ging mir auch nicht darum, von China zu lernen, nach dem Motto: China hat alles richtig gemacht, und jetzt nehmen wir deren Konzept aus der Schublade und dann wird alles gut. 

    Sondern?

    Die Chinesen haben damals die Dinge nicht nur aus einer makroökonomischen Perspektive betrachtet, sondern auch großes Augenmerk auf wichtige einzelne Preise gelegt. Sie waren unter den kommunistischen Ländern in den 1980ern Pioniere in der Wiedererschaffung von Märkten. Die Länder der Sowjetunion sollten erst ein Jahrzehnt später gezwungenermaßen nachziehen – mit sehr gemischtem Erfolg.

    Und dann haben Sie einen Text in der britischen Zeitung Guardian geschrieben, mit dem denkwürdigen Satz: “Wir brauchen eine ernsthafte Debatte über strategische Preiskontrollen – so wie nach dem Krieg”. Von China, dem zentralen Thema Ihres Buches war darin aber nicht die Rede.

    Ich wollte nicht, dass der Vorschlag vor dem Hintergrund des Weltmachtkonflikts zwischen China und den USA zerrieben wird. Also habe ich mich auf die Nachkriegszeit in den USA bezogen, die ich auch in meinem Buch bespreche. Hilfreich dabei: Auch der White House Council of Economic Advisers, also die höchsten Priester der US-Wirtschaftspolitik, hatten bereits nach Covid, aber noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine diesen historischen Vergleich gemacht.

    Ihr Satz hatte auch so genug Sprengstoff.

    Wenn man es an dem Shitstorm misst, der dann losbrach, kann man das durchaus so formulieren. Dieser Weg passte einerseits Ökonomen nicht, die wie Larry Summers denken. Deren Therapie war es, sofort die Zinsen zu erhöhen – ungezielt wie ein Breitbandantibiotikum. Das ist mir ein viel zu massiver Eingriff. Er belastet die gesamte Wirtschaft, statt Preisexplosionen in spezifischen Bereichen zu bekämpfen.

    Aber auch den progressiven Marktliberalen passte es nicht.

    Sie glaubten, man müsse gar nichts tun, weil die Inflation früher oder später schon wieder verschwindet. Auch da habe ich widersprochen: Das ist zu riskant, weil das in weitreichender wirtschaftlicher Destabilisierung münden kann. Deswegen brauchen wir einen dritten Weg: Wenn ein Feuer in der Küche brennt, ist es weder sinnvoll, zu hoffen, dass das Feuer schon wieder ausgeht, noch, das ganze Haus unter Wasser zu setzen. Genau nach diesem Prinzip ist man im China der 1980er und auch im deutschen Jedermann-Programm verfahren: vernünftig und maßvoll in beiden Fällen. In dem Shitstorm taten hingegen manche so, als hätte ich Preiskontrollen sofort, Planwirtschaft am Nachmittag und den Kommunismus morgen früh gefordert.

    Durch den Angriff von Putin auf die Ukraine wurden ihre Überlegungen dann plötzlich für Deutschland interessant.

    Da habe ich dann nicht mehr abstrakt argumentiert, sondern zusammen mit meinem Kollegen Sebastian Dullien konkret einen Gaspreisdeckel für Deutschland gefordert. Wir haben argumentiert, dass dieser heftige Preisanstieg nicht von den Haushalten gestemmt werden kann und deshalb der Staat bei Grundbedürfnissen helfen muss, während Preissignale erhalten bleiben, wo sie wirken können.

    Die Reaktion auf diesen Artikel war anfänglich auch sehr kritisch und ideologisch.

    Ja, aber die Debatte wurde schnell konkreter und offener in dem Maße, in dem es schwieriger wurde, den Menschen zu sagen: Stellt euch nicht so an. Ende September 2022 war der Widerstand der Verbraucher und ihrer Verbände immer lauter zu hören. Die Bundesregierung kam unter Druck und musste reagieren. Als sich dann selbst FDP-Chef Christian Lindner hinter den Gaspreisdeckel stellte, wurde klar: Er wird bald kommen.

    Und dann musste es sehr schnell gehen.

    Ja. Ende September wurde die Gas-Wärme-Kommission der Bundesregierung eingesetzt, deren Mitglied ich wurde. Dann kam der “Doppel-Wumms” – ein starkes Signal in Richtung der Argumentationslinie, die ich vertrete.

    Ein gutes Beispiel dafür, wie man voneinander lernen kann in der Globalisierung?

    Durchaus, vor allem, wenn wir uns plötzlich in einer radikal neuen Lage befinden und uns mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert sehen. Zu schauen, was die anderen machen, und daraus Strategien für die eigene Entwicklung zu ziehen, hat in China das Ende des Maoismus und den Anfang des wirtschaftlichen Aufstieges bedeutet. Heute besteht in China die Gefahr einer Rückkehr zu einer ideologischeren Herangehensweise.

    Deutschland leidet im März noch immer unter einer Inflation von 7,4 Prozent. Sie ist damit zehnmal höher als in China. In der EU liegt sie sogar bei 8,4 Prozent. Ähnlich beim Wachstum in Deutschland: 0,4 Prozent im ersten Quartal, 4,5 Prozent in China, also ebenfalls zehnmal höher. Was schließen Sie daraus?

    Die Kuh ist in Europa noch längst nicht vom Eis. Die Internationale Energieagentur hat bereits gewarnt, dass es nochmal große Energiepreisschübe geben könnte. Deshalb ist es gut, dass es die Gaspreisbremse gibt. Dennoch hat die Gaspreisbremse letztlich sehr spät gegriffen. Hohe Preise hatten einigen Unternehmen bereits die Luft genommen und dann kommen noch hohe Zinsen obendrauf. Andere Unternehmen überlegen, abzuwandern. Es gibt aber natürlich auch Krisengewinner, die explodierte Profite eingefahren haben. Die Sparrücklagen der Menschen werden immer geringer. Reallöhne sind gefallen.

    Warum ist die Inflation in China so niedrig, trotz einer Wirtschaftskrise 2022?

    Ich glaube, dass der Inflationsdruck in China erst noch kommen wird, in dem Maß, in dem die Konjunktur nun anspringt. Aber – und das ist der große Unterschied zu uns – die Chinesen haben ausgiebige jüngere Erfahrungen mit diesen Phänomenen. Sie mussten zwar auch erst aus Schaden klug werden. Allerdings hat Peking inzwischen das Instrumentarium entwickelt, um mit solchen Inflationsschüben frühzeitig und behutsam umzugehen.

    Wie genau?

    In China werden bis heute einzelne Preise – zum Beispiel im Energiebereich – gesteuert. Dabei gibt es sowohl Instrumente, die so ähnlich wie die amerikanische Strategic Petroleum Reserve funktionieren, als auch direkte Preisbremsen. Trotz dieser Stabilisierungsmaßnahmen ist der marktwirtschaftliche Wettbewerb brutal. Ich mache mir derzeit mehr Sorgen um Inflation und Wachstum in Europa als in China. Viel, sehr viel, hängt von unserer Bereitschaft ab, schnell und ohne Scheuklappen pragmatisch eine Wirtschaftspolitik zu entwickeln, die den Herausforderungen einer Zeitenwende gerecht wird.

    Isabella M. Weber, geboren 1987 in Nürnberg, ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst. Sie ist dort die Forschungsleiterin für China Studies am Political Economy Research Institute. Eine überarbeitete Version ihrer Dissertation ist gerade unter dem Titel: “Das Gespenst der Inflation – wie China der Schocktherapie entkam” bei Suhrkamp erschienen.

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    News

    Ukrainischer Vize-Minister glaubt an Vermittlerrolle Chinas

    Der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hält eine friedensstiftende Vermittlerrolle Chinas für möglich. Wie er den Zeitungen der Funke Mediengruppe erklärt, hätten die Chinesen zwar ihre eigenen Interessen. Auf die Frage, ob China dennoch Frieden stiften könne, entgegnet der Diplomat, dass dies nicht unrealistisch sei.

    Eine friedliche Lösung und das Ende der Kampfhandlungen würden den Interessen Pekings mehr entsprechen “als dieses gewaltige, nicht enden wollende Erdbeben für die gesamte Weltordnung”, so Melnyk, der jetzt stellvertretender Außenminister in der Ukraine ist. Das Telefonat des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping bewertete er als großen Schritt nach vorn, “um unsere Beziehungen zu China zu stärken und die russische Aggression zu beenden”. grz/rtr

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    EU-Politiker Bütikofer kandidiert nicht mehr

    Der Grünen-Europapolitiker und China-Experte Reinhard Bütikofer tritt bei der Europawahl im Frühjahr 2024 nicht mehr an. “Ich bin sehr froh, drei Perioden im Europaparlament gewirkt zu haben. Aber ich kann mir auch noch spannende Erfahrungen außerhalb des Europaparlaments vorstellen”, sagte der 70-Jährige zu Table.Media. Bütikofer hatte bereits bei seiner Nominierung vor der letzten Europawahl 2019 angekündigt, nach dieser Wahlperiode aus der Europapolitik auszuscheiden.

    Der gebürtige Mannheimer war von 2012 bis 2019 Chef der europäischen Grünen-Partei. Er wurde 2009 das erste Mal ins Europaparlament gewählt, 2014 und 2019 wiedergewählt. Im Europaparlament hat er sich auf Außenpolitik und Handelspolitik konzentriert. Er ist Chef der Delegation für die Beziehungen mit China und Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu den USA. An der derzeit in der EU und auch der Bundesregierung viel diskutierten China-Strategie gilt er als einer der wichtigen Vordenker. Vor seiner Karriere in Europa war Bütikofer von 2002 bis 2008 Co-Chef der Bundespartei. mgr

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    Källenius erwartet weiter gute Geschäfte

    Mercedes-Benz rechnet mit weiteren Zuwächsen im China-Geschäft. “Unsere Verkaufszahlen in China steigen, und ich bin recht optimistisch, dass wir dort auch im laufenden Jahr wachsen”, sagte Vorstandschef Ola Källenius der Bild am Sonntag. “Während der Corona-Jahre haben besonders die vermögenderen Chinesen außergewöhnlich viel gespart. Diese Kaufkraft dürfte uns zugutekommen.”

    Dass sich unter den meistverkauften Elektroautos in China kein deutsches Modell befinde, sei für Mercedes-Benz kein Problem. “Deutlich über 90 Prozent des Absatzes wird mit E-Autos erzielt, die weniger als 53.000 Euro kosten”, sagte Källenius. “In dem Segment treten wir ja gar nicht an. An dem Preiskrieg im Volumen-Markt wollen wir uns auch nicht beteiligen.”

    Die Sorgen vor einem möglichen Angriff Chinas auf Taiwan sieht Källenius nicht als Anlass einer wirtschaftlichen Abkopplung westlicher Staaten von China. “Eine Entflechtung von China ist eine Illusion und auch nicht erstrebenswert”, sagte er. Allerdings müsse man bei fragilen Lieferketten widerstandsfähiger werden. rtr

    • Autoindustrie

    Presseschau

    Spannungen zwischen China und Taiwan: “Auf jedes Szenario vorbereitet” SPIEGEL
    China beschert der Welt ein Atom-Dreieck FRANKFURTER RUNDSCHAU
    Biden, Marcos seek ways to check China MANILATIMES
    Australia can play “stabilising role” in Asia amid US-China tensions, Singapore ministers say SCMP
    Konservative gewinnen: Taiwan kann sich nach Wahl in Paraguay freuen FAZ
    Chinesisch-Deutsche Städteallianz – China und Deutschland: Die versuchte Unterwanderung WELT
    India’s intriguing trade ties with China THE HINDU BUSINESSLINE
    Chinesische Industrie unerwartet geschrumpft FUW
    Volkswagen plant in China offenbar neue VW-Marke für Elektro-Autos FINANZEN
    Mercedes: Ola Källenius hält mögliche Entflechtung von China für “Illusion” FINANZEN
    China’s Midea seeking to buy Electrolux: sources TAIPEI TIMES
    Erster Mai in China: Superschlechtes Tauschgeschäft TAZ
    Bitkom: ChatGPT könnte Anfang vom Ende von Chinas Tech-Branche sein BERLINER ZEITUNG
    Entscheidung erst im Tiebreak: Ding Liren erster Schachweltmeister aus China ZDF

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    Und wenn der Bot den Dalai Lama mag? China will bei künstlichen Intelligenzen an die Spitze und präsentiert eigene Chatbots. Doch Erfolge im digitalen Wettrüsten könnten ausgerechnet an der Kommunistischen Partei scheitern. Mehr 

    Heads

    Ding Liren – Schach-Weltmeister mit unverschuldetem Makel

    Chinas erster Schach-Weltmeister: Ding Liren.

    Als sein Gegner die Hand über das Brett streckte, zuckte Ding Liren fast erschrocken zusammen. Er benötigte einen Augenblick, um das eindeutige Signal als solches auch wirklich deuten zu können. Dann begrub er sein Gesicht fast eine halbe Minute lang in der linken Hand und rang nach Fassung: Schach-Weltmeister.

    Nach einem dreiwöchigen Kraftakt in Kasachstans Hauptstadt Astana mit einem Gleichstand nach 14 Partien und der Dramatik im vierten und letzten Match des Tiebreaks hatte Ding den Russen Jan Nepomnjaschtschi niedergerungen. Mit einem falschen Damen-Zug unter höchstem Zeitdruck hatte Nepomnjaschtschi seinem Gegenüber die Tür zum Thron des Schach-Weltverbandes aufgestoßen.

    Durch diese Tür ging Ding Liren nun als erster Chinese. Die Frauen des Landes sind zwar seit Jahrzehnten schon absolute Weltklasse. 1991 gewann Xie Jun erstmals den WM-Titel für die Volksrepublik. Aber wie in vielen Sportarten wird Erfolg im Schach hauptsächlich über den Erfolg der Männer definiert. Die mediale Aufmerksamkeit ist vornehmlich auf sie gerichtet, weniger auf die Frauen, die ihrerseits aber an den Männer-Wettbewerben teilnehmen dürfen. Umgekehrt geht das nicht.

    Dings Qualitäten am Brett sind unbestritten

    Medialer Aufmerksamkeit darf sich Ding Liren zukünftig gewiss sein. Nicht nur in China. Auch weil sein WM-Titel einen Makel trägt, den er nicht zu verschulden hat. Denn weder Ding noch Nepomnjaschtschi gelten als die besten Schachspieler der Welt, obwohl sie sich im WM-Turnier gegenüber saßen.

    Stattdessen dominiert der Norweger Magnus Carlsen das Spiel der Könige. Carlsen aber hatte nach fünf WM-Titeln in Serie keine Lust mehr verspürt, erneut anzutreten gegen einen Herausforderer und deswegen freiwillig auf seine Teilnahme verzichtet. Ding Liren dürfte so lange mit diesem Makel konfrontiert werden, bis er die Chance bekommt, sich gegen Carlsen zu beweisen.

    Dabei sind Dings Qualitäten am Brett unbestritten und schon oft bewiesen. Kein Chinese hat jemals zuvor eine so hohe ELO-Zahl erreicht wie er. Dieser Wert gilt als allgemein gültige Bemessung der Spielstärke. Seit seiner Einführung im Jahr 1970 haben nur 132 Schachspieler die Marke von 2.700 Punkten geknackt. Dings Bestwert liegt bei 2816, der zehnthöchste jemals gemessene Wert. Der von Carlsen liegt bei 2.885 – eine andere Liga. Die stärkste Frau aller Zeiten ist die Chinesin Hou Yifan mit 2.650 Punkten.

    Bekanntheitsgrad in China wird drastisch steigen

    Seine Spielstärke stellte Ding Liren bereits als Teenager unter Beweis, als er 2009 mit nur 16 Jahren als erster Jugendlicher chinesischer Landesmeister wurde. International sorgte er für große Aufmerksamkeit, als er zwischen August 2017 und November 2018 in 100 Partien im klassischen Schach in Serie ungeschlagen blieb – also in Präsenzpartien, nicht online, und mit einer Bedenkzeit von mindestens 60 Minuten. Nie zuvor hatte ein Schachspieler eine solche Serie produziert. Der Norweger Carlsen jagte ihm den Rekord jedoch nur ein Jahr später ab.

    Der WM-Titel wird den Bekanntheitsgrad des 30-jährigen Ding besonders auch in China dramatisch erhöhen. Das Sport-Ministerium setzte nach dem Triumph bereits den Ton und gratulierte zu einem großen Sieg für das Vaterland. Dabei behandelten Chinas Sport-Funktionäre ihre Schach-Spitzentalente eher etwas stiefmütterlich in den vergangenen Jahren. In einem Interview im Jahr 2017 erzählte Ding, dass er die Reisen zu internationalen Turnieren vornehmlich selbst organisierte und aus eigener Tasche bezahlte.

    Jura-Studium als zweites Standbein

    Allerdings erlebte Schach als Breitensport in China tatsächlich eine Renaissance durch den Triumph von Xie Jun bei den Frauen 1991. Nachdem das Spiel während der Kulturrevolution sogar verboten war, öffneten seit den 1990er-Jahren immer mehr Schachklubs im ganzen Land. In einem davon in seiner Heimatstadt Wenzhou erlernte auch Ding Liren als kleiner Junge das Spiel. Früh dominierte er die Wettkämpfe gegen seine Altersgenossen.

    Mit dem Gewinn der Landesmeisterschaft stellte sich schließlich die Frage, ob er es als Profi versuchen wollte. Weil seine Eltern, ein Ingenieur und eine Krankenschwester, Zweifel hegten, fuhr Ding zweigleisig. Neben dem Schachtraining besuchte er die Peking-Universität, um seinen Abschluss in Jura zu machen. Seit einigen Jahren konzentriert sich der 30-Jährige nun gänzlich auf den Sport.

    Finanziell hat sich der WM-Titel auf jeden Fall schon ausgezahlt. 1,1 Millionen Dollar bescherte ihm der Triumph, und sein Marktwert für die Teilnahme an kommenden Einladungsturnieren ist drastisch gestiegen. Marcel Grzanna

    Personalien

    Sebastian Brandes leitet seit April die Geschäftsentwicklung Vertrieb China bei der Audi AG. Der Strategiemanager arbeitet seit acht Jahren für den Autobauer. Sein Einsatzort bleibt bis auf Weiteres Ingolstadt.

    Monica Liu ist seit dem 1. April Leiterin des Bereichs Private Markets Greater China bei UBS Global. Liu verfügt über 16 Jahre Erfahrung im Bereich Private-Equity-Fonds und kam im Februar letzten Jahres zu UBS. Zuvor war sie 10 Jahre lang bei der Bank of China tätig und hat auch bei einer Reihe anderer Banken gearbeitet, darunter JP Morgan.

    Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

    Dessert

    Hosen runter, Bauch raus – protestiert wird leidenschaftlich und vielseitig in Taiwan. Den Tag der Arbeit haben mehr als 5.000 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in der Hauptstadt Taipeh mit Aktionen und Demonstrationen begangen. Sie fordern höhere Löhne und weniger Arbeitszeit. Kommt uns bekannt vor? Kein Wunder. Arbeiterrechte sind universell.

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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