Table.Briefing: China

Ai Weiwei im Interview + Klima-Aktivismus

Liebe Leserin, lieber Leser,

für seine aktuelle Ausstellung “Know Thyself” hat Ai Weiwei bekannte Werke der Kunstgeschichte aus Lego-Steinen nachgebaut und in irritierend andere Zusammenhänge gestellt. Im Interview mit Fabian Peltsch spart der weltbekannte Konzeptkünstler wie gewohnt nicht mit Kritik – sei es an Berlin oder an den politischen Systemen des Westens. Und er erklärt, warum Cancel Culture schädlich sein kann – dann nämlich, wenn wir aufgrund politischer Korrektheit unsere tatsächlichen Lebensumstände verkennen.

Ums Klima geht es heute im zweiten Stück. Fabian Peltsch beschreibt darin die Angst vor dem Klimawandel, den es auch in China gibt. Kein Wunder: Wetterextreme wie monatelange Hitze und anschließend heftige Überschwemmungen haben die Menschen in der Volksrepublik auch in diesem Sommer heftig geplagt.

Dass es dennoch nur wenig Klimaproteste gibt, geschweige denn Klimakleber auf der Straße, hat weniger mit fehlendem Unmut zu tun, sondern mit der Repression, die dafür sorgt, dass jeglicher Protest sofort im Keim erstickt wird. Und da sind wir wieder bei der Kontrolle, die in China bekanntlich über allem steht.

Viele neue Erkenntnisse beim Lesen!

Ihr
Felix Lee
Bild von Felix  Lee

Analyse

“Im Westen agiert auch Autoritarismus”

Der Künstler Ai Weiwei arbeitet derzeit mit Lego. Er baut damit berühmte Kunstwerke nach.

Für Ihre aktuelle Ausstellung Know Thyself in Berlin haben Sie ikonische Werke der Kunstgeschichte mit Lego-Steinen in Pixel-Optik nachgebaut. Warum haben Sie sich entschieden, kein chinesisches Meisterwerk dabei abzubilden?

Die Arbeiten gehen auf das Jahr 2014 zurück, als ich mich in China in einer Art softem Hausarrest befand. In dieser Zeit wandte ich mich Lego zu, um 176 Porträts von politischen Gefangenen zu erstellen. Dieses Medium ermöglichte es mir nicht nur, diese Personen auf lebendige Weise zu porträtieren, sondern erleichterte auch den Produktionsprozess und die anschließende Ausstellung. Die Auswahl jedes Kunstwerks ist also das Ergebnis sorgfältiger Überlegungen, die sich auf meine persönlichen Erfahrungen in China, aber auch auf Chinas Platz im globalen Kontext erstreckten. Einige meiner Lego-Kunstwerke sind von chinesischen Meisterwerken inspiriert, aber ich habe keine geeigneten Plattformen für ihre Ausstellung gefunden. Da das westliche Publikum mit chinesischer Kunst oft nicht vertraut ist, besteht ein großer Bedarf an umfassenden Erklärungen und Kontextualisierungen.

Der Hype um chinesische Kunst, der in den frühen Zehnerjahren einen Höhepunkt erlebte, scheint sich im Westen deutlich abgekühlt zu haben. Sehen Sie in der Kunstwelt eine ähnliche Art von “Entkopplung” oder Aufspaltung in Paralleluniversen, wie es in der Tech-Welt zu spüren ist?

Im Zeitalter der Postglobalisierung hat sich China in den letzten drei Jahrzehnten von einer schwer vorstellbaren Gesellschaft mit hoher Machtkonzentration zu einem der faszinierendsten Partner der westlichen Welt entwickelt. Heute nimmt der politische Appetit des Westens auf solche billigen Festessen aus China jedoch allmählich ab. Folglich wird auch die oberflächliche Faszination für chinesische Kunst in den Annalen der Geschichte verschwinden. Da wir jedoch weiterhin die Evolution und die Transformation Chinas miterleben werden, wird unser Verständnis für die Geschichte und den gegenwärtigen Zustand Chinas nicht abnehmen, sondern sich vielmehr erweitern.

Ihr Vater, der Dichter Ai Qing, und andere wichtige chinesische Künstler lebten und studierten in Paris und orientierten sich an lokalen Strömungen wie dem Impressionismus oder dem sozialistischen Realismus. Haben die Chinesen bei der Modernisierung ihrer Kunst zu sehr auf den Westen geschaut?

Die Geschichte in ihrer ganzen Größe fließt wie ein unaufhörlicher Fluss, der sich ständig vorwärts und abwärts bewegt. Chinas Kämpfe in der modernen Geschichte führten dabei zu der Erkenntnis, dass viele traditionelle Philosophien, wie der Neokonfuzianismus, die sich entwickelnde Gesellschaft nicht angemessen erklären konnten. Folglich machte sich China auf den Weg, um sich westliche Methoden zu eigen zu machen, sowohl in Bezug auf die Technik als auch auf die Kultur. Im Grunde genommen kann man dies mit dem Ausleihen eines westlichen Feuers vergleichen, um den eigenen Reis zu kochen. Der Schwerpunkt lag jedoch immer auf dem Reis und nicht auf dem Feuer selbst.

Viele Künstler aus aller Welt strömen noch immer nach Berlin, wie einst nach Paris, um sich selbst zu verwirklichen. Was denken Sie: Wird Berlin als Keimzelle und Knotenpunkt für die zeitgenössische Kunst überschätzt?

Ich denke, diese Annahmen sind etwas übertrieben. Berlin hat nie wirklich als Drehscheibe für zeitgenössische Kunst gedient. Ich habe die Stadt nie überschätzt, und ich würde natürlich auch andere Regionen nicht unterschätzen. Kunstwerke werden von Individuen geschaffen, und der Erfolg oder Misserfolg eines Individuums hängt nicht von seiner geografischen Lage ab.

Sie haben Deutschland 2019 verlassen. Warum haben Sie sich dennoch entschieden, Ihr Atelier in Berlin zu behalten?

Berlin ist eine Stadt, in der ich nach meiner Abreise aus China fünf bis sechs Jahre lang gewohnt habe. Ich habe dort ein sehr gutes Studio und ein engagiertes Team von Mitarbeitern. Ich habe nie daran gedacht, diesen Ort aufzugeben. Jedes Mal, wenn ich zurückkomme, kann ich immer noch einige charakteristische Züge Berlins wahrnehmen. Die Stadt hat ein Gefühl von Weite und Neuheit. Es fehlt ihr jedoch ein bisschen an inhaltlicher Tiefe.

Sie haben kürzlich in einem Interview mit einer deutschen Zeitung erklärt, dass sich auch die Staaten des Westens autoritär verhalten. In welcher Hinsicht sind westliche Staaten wie Deutschland vielleicht sogar autoritärer als China?

Der westliche Autoritarismus und der chinesische Autoritarismus unterscheiden sich grundlegend. Der chinesische Autoritarismus basiert seit Jahrtausenden auf einem zentralisierten und hochgradig vereinheitlichten System, das von konfuzianischen hierarchischen Prinzipien durchdrungen ist. Der Westen hingegen strebt nach ständiger Erneuerung, oft angetrieben von wissenschaftlichen und fortschrittlichen Bestrebungen.

Inwiefern ist der Westen autoritär?

Im Westen agiert der Autoritarismus oft unter dem Deckmantel der Demokratie und verlässt sich auf die Stimmen und Entscheidungen der Mehrheit, um soziale Fragen anzugehen. Auch wenn ich mich nicht eingehend mit der deutschen Politik beschäftige, scheint sie einem ähnlichen Muster zu folgen wie in den USA. Verschiedene politische Parteien wetteifern um Einfluss, setzen Strategien ein, um den Wählern zu gefallen, und verhalten sich opportunistisch, oft auf Kosten von Fairness und Gerechtigkeit, die für den gesellschaftlichen Fortschritt jedoch unerlässlich sind. Darüber hinaus sind Unternehmen hier sehr einflussreich, da Demokratie und Freiheit im Westen eng mit ihren Interessen verbunden sind.

Welchen Einfluss hat das auf das Leben des Einzelnen?

Was das Verständnis des Wesens der Menschheit angeht, so mag das chinesische System durchdringender erscheinen, obwohl es in erheblichem Maße als den humanitären Werten zuwiderlaufend empfunden werden kann. Im Westen ist das Verständnis von Menschlichkeit jedoch allmählich der Industrialisierung, Korporatisierung und Kapitalisierung gewichen. In Wirklichkeit haben die Menschen im Westen trotz des Anscheins größerer individueller Freiheit und Unabhängigkeit einige Fundamente ihres Menschseins verloren. Es kam zu zersplitterten Familien, zerbrochenen Bildungssystemen und einem Gefühl gesellschaftlicher Isolation.

Manche Menschen behaupten, der chinesischen Gesellschaft fehle es heute an spirituellen Werten.

Der Mangel an spirituellen Werten ist kein Einzelfall in der heutigen chinesischen Gesellschaft, sondern ein globales Phänomen. Mit dem rasanten Fortschritt der Wissenschaft scheint die Bedeutung des spirituellen Lebens zu schwinden. Diese spirituellen Sehnsüchte sind jedoch ein fester Bestandteil der menschlichen Natur, es sei denn, wir wollen alle zu Robotern werden.

Wie nehmen Sie eigentlich die sogenannte Cancel Culture wahr – muss ein Künstler heute sensibler und umsichtiger vermitteln, was er ausdrücken will und für wen er spricht?

Wenn wir aufgrund politischer Korrektheit unsere tatsächlichen Lebensumstände verkennen, kann die Cancel Culture sehr schädlich sein. Sie erweist sich oft als heuchlerisch und geht an praktischen Problemen vorbei. Die Vorstellung, dass man zum Beispiel nicht über chinesische Themen diskutieren kann, wenn man sich außerhalb von China aufhält, ist eine vereinfachte und fehlgeleitete Sichtweise. Nach dieser Logik sollte ich auch nicht über Russland sprechen, da ich mich nicht dort aufhalte, und doch führe ich solche Gespräche. In der sich schnell entwickelnden sozialen Landschaft der Gegenwart, die sich durch einen umfassenden Informationsaustausch auszeichnet, ist es nicht mehr so wichtig, wo wir uns aufhalten und wo nicht. Soziale Probleme sind, unabhängig davon, wo sie auf der Welt auftreten, vergleichbar.

Ai Weiwei kontextualisiert in seiner aktuellen Ausstellung “Know Thyself” in der Berliner Galerie Neugerriemschneider kunstgeschichtliche Werke mithilfe von Lego-Steinen neu. Der 66-Jährige gilt als wichtigster zeitgenössischer Künstler der Gegenwart. Er wurde 1957 in Peking geboren. Sein Vater war der einflussreiche Dichter und Maler Ai Qing. In China saß Ai Wei Wei 2011 für mehrere Monate im Gefängnis. Von 2015 bis 2019 lebte er in Berlin und lehrte an der Universität der Künste. Derzeit lebt er in Portugal. Er hat die Fragen schriftlich beantwortet.

  • Ai Weiwei
  • Gesellschaft
  • Kunst

So wird der Klimawandel in China diskutiert

Der Klimawandel ist in China im Alltag angekommen – hier versammeln sich Touristen in Shanghai um einen kühlenden Nebelspender.

Auch in China sorgen sich die Menschen über den Klimawandel. Sich auf die Straße kleben oder eine Sehenswürdigkeit mit Farbe besprühen ist in dem autoritär regierten Staat jedoch keine Option, um seinen Sorgen ein Ventil zu geben. Dabei spüren die Chinesen die Wetterveränderungen und ihre Folgen schon jetzt auf katastrophale Weise. Im Januar 2023 erklärte die chinesische Meteorologiebehörde, dass das Klima in China im Jahr 2022 eindeutig anomal war und zu Extremen tendierte. Im Sommer erreichten die Temperaturen gar ein Rekordhoch. Im Herbst kam es zu unerwarteten Kälteeinbrüchen.

Aber eine öffentliche Debatte gibt es dazu in den Staatsmedien und interessanterweise auch in den Sozialmedien kaum. Die Forscher Chuxuan Liu und Jeremy Lee Wallace schreiben in ihrer Studie “China’s missing climate change debate” (2023), dass auf Weibo, Chinas führender Social-Media-Plattform, nur 0,12 Prozent der Trending Topics zwischen Juni 2017 und Februar 2021 mit dem Klimawandel in Verbindung standen. Dabei ergab eine von der Europäischen Investitionsbank Ende 2019 durchgeführte Umfrage, dass 73 Prozent der chinesischen Bürger den Klimawandel als große Bedrohung ansehen, verglichen mit 47 Prozent in Europa und 39 Prozent in den USA. Dass es das Thema in China so schwer hat, hat mehrere Gründe.

Verschweigen und verunglimpfen

Umweltorganisationen und NGOs werden strenger überwacht. In den letzten Jahren haben die Behörden zahllose Umweltschützer und Whistleblower verwarnt und verhaftet und Bürgerinitiativen ausgehebelt. Ein Gesetz aus dem Jahr 2017 verpflichtet zudem alle ausländischen NGOs, mit einer lokalen Gruppe zusammenzuarbeiten, was laut vieler Beteiligter zu einer verstärkten Selbstzensur geführt hat.

Laut einem Bericht von Bloomberg werden Journalisten der staatlichen Medien dazu angehalten, nicht über Themen wie die Bedrohung der reichen Küstenstädte durch den steigenden Meeresspiegel zu berichten. Investigative Artikel über Umweltschäden bleiben auf Vergehen einzelner lokaler Regierungsbeamter begrenzt. Phänomene wie die Friday-For-Future-Demos im Westen wurden in Artikeln der Staatsmedien als emotional, radikal und chaotisch verunglimpft. Greta Thunberg ist auch in den Sozialmedien eher Ziel des Spotts und gilt vielen als eine typische Verkörperung des westlichen “Baizuo 白左”, ein abwertender Begriff für die woke Linke, die anderen ihre Regeln aufzwingt. Auch kursieren in Chinas Netzwelt viele Verschwörungstheorien, die den Klimawandel als Fakt anzweifeln. Die junge Aktivistin Howey Ou, die kurzzeitig als “chinesische Greta” galt, protestiert mittlerweile lieber im Ausland gegen den Klimawandel.

Kaum Einbindung der Zivilbevölkerung

Die Bildung an Schulen und die Berichterstattung in den Medien richtet den Fokus vor allem darauf, wie das Individuum einen kleineren ökologischen Fußabdruck erzielen kann, etwa durch Abfalltrennung, Recycling und umweltbewussten Konsum. Die Rolle Chinas als größter CO₂-Emittent bei der globalen Erwärmung wird dagegen heruntergespielt. Der Tenor lautet: China bemühe sich nicht nur, mit grüner Technologie seinen Teil zum Klimaschutz beizutragen, es agiere mit dem ehrgeizigen Ziel, bis 2060 kohlenstoffneutral zu werden, auch als Vorbild für andere Länder. China habe jedoch gleichzeitig das Recht, sich in seinem eigenen Tempo zu entwickeln. Die Probleme, mit denen sich die Menschheit konfrontiert sieht, seien schließlich zuallererst von den großen Industrienationen des Westens verursacht worden.

Umweltschützer sehen in der schwachen Einbindung der Zivilbevölkerung eine verpasste Chance. Auch in der jüngeren Vergangenheit hat kollektiver Druck in der Volksrepublik durchaus Macht zur Veränderung entfaltet. Vor etwa einem Jahrzehnt veranlasste etwa eine von der Bevölkerung getragene Kampagne gegen die Luftverschmutzung die chinesische Führung dazu, sich ernsthaft dem Smog-Problem anzunehmen, insbesondere in den großen Städten. Ein wichtiger Faktor war dabei auch der selbst finanzierte Dokumentarfilm “Under The Dome” der chinesischen Journalistin Chai Jing, der sich im Netz so schnell verbreitete, dass die Zensur zunächst nicht hinterherkam.

Klima-Angst sucht sich neue Ventile

Doch letztendlich ist die Furcht der Regierung vor einer destabilisierenden Wirkung eines offenen Aktivismus zu groß. Wohin also mit der Angst der Bevölkerung? Manche sind der Meinung, dass sie in der Empörung gegenüber ausländischen Umwelt-Skandalen und als tendenziell diffuse Eco-Anxiety ein Ventil findet. Als Japan im Sommer Abwasser aus dem Atomkraftwerk Fukushima ins Meer verklappte, kam es in China zu Hamsterkäufen, vor allem von Salz. Und das, obwohl eine wissenschaftliche Grundlage für die Panik nicht gegeben war.

Auch im nach wie vor boomenden Science-Fiction-Genre in China, in dem der Klimawandel bislang kaum vorkam, zeichnet sich ein Wandel ab. Autoren wie Chen Qiufan und zuletzt Gu Shi flechten Szenarien von Umweltkatastrophen und steigenden Meeresspiegeln in ihre literarischen Werke ein. Bei beiden spielt dabei Künstliche Intelligenz als Gegenmittel eine wichtige Rolle. Das spiegelt sich auch in den Zielen der Regierung wider, die der KI ähnlich optimistisch begegnet wie die USA einst den Errungenschaften der Atomenergie. So will Peking die Technologie in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens einsetzen, um Milliarden Tonnen an Kohlenstoffemissionen einzusparen. Auch so bleibt eine vage Hoffnung gewahrt, die die Chinesen davon abhält, geschlossen auf die Straße gehen zu müssen.

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News

Li Shangfu offiziell entlassen

Verteidigungsminister Li Shangfu
Seit Wochen verschwunden, nun offiziell entlassen: Ex-Verteidigungsminister Li Shangfu

Der seit rund zwei Monaten verschwundene Verteidigungsminister Li Shangfu (李尚福) ist offiziell entlassen worden. Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses habe Li aus seinem Ministeramt sowie seiner Position als Staatsrat entlassen, berichtete der Staatssender CCTV am Dienstag. Auch der bereits entlassene Außenminister Qin Gang wurde seines Amtes als Staatsrat enthoben. Diese Nachricht war erwartet worden, seit Li Ende im August ebenso abrupt aus der Öffentlichkeit verschwunden war wie zuvor Qin Gang.

Spekulationen ranken sich seither um Korruption bei der Beschaffung von Militärausrüstung. Von 2017 bis 2022 leitete Li die Abteilung für Waffenentwicklung der Zentralen Militärkommission, die auch für den Einkauf von Waffen und Militärtechnik aus dem Ausland zuständig ist. Wegen Waffengeschäften mit Russland aus jener Zeit steht Li seit 2018 auf einer Sanktionsliste der USA.

In sozialen Medien fanden sich vorübergehend einzelne bissige Kommentare. “Die Alten hatten recht: Je weniger Worte, desto größer die Geschichte” (字越少,事越大。古人诚不欺我), schrieb etwa ein User auf einer Nachrichten-Plattform der Beijing Daily Newspaper Group. Der Beitrag wurde allerdings wenig später gelöscht.

Anders als zuvor bei Qin Gang – der von seinem Vorgänger Wang Yi ersetzt wurde – ernannte Peking zunächst keinen neuen Verteidigungsminister. Reuters hatte vor zwei Wochen unter Berufung auf fünf informierte Quellen Stabschef General Liu Zhenli als wahrscheinlichsten Nachfolger ins Spiel gebracht. Auch die South China Morning Post berichtete damals unter Berufung auf anonyme Quellen, General Liu werde als eine zentrale Figur bei dem internationalen Xiangshan-Sicherheitsforum Ende Oktober in Peking teilnehmen. Das Blatt wertete dies als Hinweis, dass Liu möglicher Nachfolger sein könnte.

Das Xiangshan-Forum ist eine Art chinesischer Shangri-La-Sicherheitsdialog. Dort wird eine US-Delegation teilnehmen, das erste Mal seit Suspendierung des Militärdialogs im August 2022. Wenn dort General Liu statt des sanktionierten Ex-Ministers der zentrale Ansprechpartner für die US-Delegation wäre, würde das die bilateralen Gespräche sicher vereinfachen. ck

  • Korruption
  • Verteidigung
  • Xiangshan-Forum

Gesetz zur patriotischen Erziehung verabschiedet

Chinesische Flagge
Chinesische Flagge

Der Volkskongress hat am Dienstag ein Gesetz zur Stärkung der patriotischen Erziehung von Kindern und Familien verabschiedet. Damit soll unter anderem “historischer Nihilismus” bekämpft und die “nationale Einheit” gestärkt werden, wie staatliche Medien erklärten.

“Historischer Nihilismus” ist ein Begriff, der von Peking verwendet wird, um Zweifel und Skepsis gegenüber dem offiziellen historischen Narrativ durch die Kommunistische Partei zu verunglimpfen. “Das Gesetz soll den Patriotismus fördern, betont aber auch die Notwendigkeit, rational, integrativ und aufgeschlossen zu sein, das Land der Welt zu öffnen und andere Zivilisationen zu akzeptieren”, schreibt die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua.

Das Gesetz soll zum 1. Januar 2024 in Kraft treten. Seine Umsetzung betrifft die zentralen und lokalen Regierungsstellen sowie Schulen und Familien. Es enthält auch gezielte Maßnahmen für ausgewählte Personengruppen, darunter Regierungsbeamte, Angestellte, Dorfbewohner und Bewohner der Sonderverwaltungsregionen Hongkong und Macau sowie Taiwan, schreibt die staatlich unterstützte China Daily. rtr

  • Gesellschaft
  • Menschenrechte

China schickt Hilfe in den Gazastreifen

China wird humanitäre Hilfe im Wert von 15 Millionen Yuan (knapp zwei Millionen Euro) für die Menschen im Gazastreifen bereitstellen, darunter Lebensmittel und Medikamente. Das teilte die chinesische Agentur für internationale Entwicklungszusammenarbeit am Donnerstag mit.

Parallel dazu sagte die israelische Gesandte in Taipeh, Maya Yaron, Chinas Reaktion auf den Angriff der Hamas-Militanten sei “beunruhigend” gewesen. Taiwan hingegen bezeichnete sie als “guten Freund”, dessen Unterstützung Israel zu schätzen wisse. Wie die meisten Länder unterhält Israel keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan. Taipeh hatte den Angriff palästinensischer Hamas-Kämpfer am 7. Oktober umgehend verurteilt und Israel die volle Unterstützung und Sympathie Taiwans zugesichert.

Yaron bekräftigte die Enttäuschung ihrer Regierung über China, das die Angriffe der Hamas auf Zivilisten nicht verurteilt. China hatte zwar die Gewalt und die Angriffe auf die Zivilbevölkerung in dem Konflikt verurteilt. Der chinesische Außenminister Wang Yi erklärte, dass Israels Handlungen “den Rahmen der Selbstverteidigung sprengen”. Er nannte aber in seinen Kommentaren nicht die Hamas.

China hat am Mittwoch zusammen mit Russland ein Veto gegen einen Vorstoß der USA im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingelegt. Dabei ging es darum, im Konflikt zwischen Israel und der Hamas auf eine Kampfpause zu drängen, um Zugang für humanitäre Hilfe zu ermöglichen, die Zivilbevölkerung zu schützen und die Bewaffnung der Hamas und anderer militanter Gruppen im Gazastreifen zu unterbinden. cyb/rtr

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  • Naher Osten

Haft wegen gebrochener Sperrfrist

In einem exklusiven Interview mit Sky News Australia hat die australische Journalistin Cheng Lei erstmals den Grund für ihre dreijährige Haft in einem chinesischen Gefängnis offengelegt: Demnach hatte sie die Sperrfrist für ein Briefing der chinesischen Regierung um nur wenige Minuten verletzt. “In China ist das eine große Sünde”, sagte Cheng. Im Interview äußerte sie sich nicht zu den Einzelheiten des von ihr veröffentlichten Briefing-Dokuments.

Cheng war im Sommer 2020 festgenommen und im April vergangenen Jahres in einem nicht-öffentlichen Gerichtsverfahren schuldig gesprochen worden. Man warf ihr vor, während ihrer Zeit als Moderatorin beim chinesischen TV-Auslandssender CGTN Staatsgeheimnisse ins Ausland weitergegeben zu haben. In dem TV-Interview am Dienstag sagte Cheng, ihr sei während ihrer sechsmonatigen Isolationshaft gesagt worden, sie habe die Autorität des Staates untergraben und durch ihre Handlungen “das Mutterland verletzt”. cyb

  • Haft
  • Pressefreiheit

Standpunkt

Die problematische Haltung zu Israel

Vier chinesische Staatsbürger wurden während des aktuellen Konflikts zwischen der Hamas und Israel getötet, zwei vermisst und sechs verletzt. Es wurden keine weiteren Informationen über sie preisgegeben, und nur wenige machten sich die Mühe, nachzufragen.

Eine Halbchinesin, deren Bild von einer Entführung durch Hamas-Kämpfer viral ging, löste jedoch großes Interesse in der chinesischen Öffentlichkeit aus. Einen Tag nach dem Massaker vom 7. Oktober teilte die israelische Botschaft in Peking über Weibo mit, dass die Frau, Noa Argamini, chinesisch-israelischer Abstammung ist und in Peking geboren wurde. 

Ihre Mutter, Liora Argamini, erzählte den Medien die Geschichte ihrer Familie. Liora, deren chinesischer Name Li Chong Hong ist, stammt aus Wuhan. Mitte der 1990er-Jahre ging sie zur Berufsausbildung nach Israel, lernte dort ihren späteren Ehemann kennen, beschloss zu bleiben und ließ sich schließlich in der Stadt Be’er Sheva nieder. Noa wurde nicht in Peking, sondern in Israel geboren. Sie sind jetzt beide israelische Staatsbürger. 

In den Interviews bat die Mutter China um Hilfe bei der Rettung von Noa. Ihre Kommentare und ihr Appell steigerten das Interesse des chinesischen Publikums weiter und brachten “das gemischte chinesisch-israelische Mädchen” an die Spitze der Trendthemen auf Weibo. 

Die vorherrschende Meinung ist jedoch, dass sie nichts mit China zu tun hat. Der tiefere Grund für die gleichgültige, ja sogar feindselige Haltung ist die ausgeprägtere pro-palästinensische Haltung der chinesischen Regierung in den israelisch-palästinensischen Konflikten. 

Anfeindungen gegen die junge Frau

Erst im vergangenen Jahr wurde eine andere Halbchinesin, Eileen Gu, zum Superstar in China, als sie bei den Olympischen Winterspielen in Peking zwei Goldmedaillen gewann. 

Gu wurde als Sohn einer chinesischen Mutter und eines amerikanischen Vaters in den Vereinigten Staaten geboren und wuchs dort auf. Bis 2019 vertrat sie die USA bei internationalen Wettkämpfen, wechselte aber für die Olympischen Spiele 2022 nach China. Auf Fragen nach ihrer Staatsbürgerschaft, die bis heute geheim blieb, gab sie nie eine klare Antwort. 

Gu im chinesischen Team zu haben, erwies sich als strategischer Schachzug für China, das immer verzweifelt versucht hatte, bei den Goldmedaillen ganz oben zu stehen. Mit Gus Beitrag belegte China mit neun Goldmedaillen den dritten Platz und übertraf damit die USA, die acht gewannen. 

Trotz der bereits angespannten Beziehungen zwischen China und den USA übersah die chinesische Öffentlichkeit, die unter starkem Einfluss der Regierung stand, die Zweideutigkeit in Bezug auf Gus Staatsbürgerschaft und ihren US-Hintergrund und begrüßte den “Stolz”, den sie nach China brachte. 

Aber was kann Noa Argamini nach China bringen? In der Wahrnehmung der chinesischen Regierung wahrscheinlich nichts Gutes. 

Als eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums am 9. Oktober nach ihr gefragt wurde, sagte sie: “Wir haben keine Erkenntnisse vorliegen. Wir prüfen den Sachverhalt noch.” Seitdem hat sich China nicht mehr offiziell zu Noa Argamini geäußert. 

Argamini, die Mutter, konnte mit ihren eingeschränkten Kommunikationsfähigkeiten ebenfalls nur wenig dazu beitragen, die öffentliche Wahrnehmung geradezurücken. 

Anders als die PR-affine Eileen Gu versuchte Liora Argamini nicht, Fragen nach der Staatsbürgerschaft von Noa und sich selbst auszuweichen. Aber in einem Video-Interview mit einem Journalisten des Fernsehsenders Phoenix sagte sie emotionslos: “Selbst wenn ich israelische Staatsbürgerin bin, könnt ihr Chinesen uns nicht helfen? Verstehst du, was ich meine? Anderen zu helfen, ist eine Verpflichtung für alle.”

Unfreundliche Kommentare über Noa kursierten bereits im chinesischen Internet, bevor die Mutter Interviews gab. Nachdem sie diese katastrophale Bemerkung gemacht hatte, stimmten weitere Menschen in den Chor ein und erklärten, dass die Familie keine Hilfe verdiene. 

Noch härtere Kommentare und Gerüchte tauchten auf: Die israelische Botschaft habe Noas Geburtsort absichtlich falsch angegeben, um Sympathie zu wecken; die Mutter sei eine Verräterin, weil sie von chinesischen Geldmitteln lebte, als sie nach Israel ging; sie gehöre zu denen, die nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens eine Aufenthaltsgenehmigung in Israel erhielten. Noa sei keine Studentin, wie die Mutter behauptet; sie sei eine Soldatin, die im Krieg kämpft. 

Öffentliche Meinung leicht manipulierbar

Bis letzte Woche hielten die meisten Chinesen den israelisch-palästinensischen Konflikt für irrelevant. Obwohl Namen wie Gaza und das Westjordanland oft in den Nachrichten auftauchten, verstanden nur wenige, warum all dies geschehen war. 

Trotz seines engen Bündnisses mit den Vereinigten Staaten wurde Israel in China als ein bewundernswertes, freundliches Land wahrgenommen, das in einer feindseligen Umgebung überlebte und gedieh. Jüdische Menschen galten als klug und fleißig. Selbst ein äußerst populäres chinesisches Buch mit dem Titel “Währungskriege”, in dem behauptet wurde, dass die Vereinigten Staaten von jüdischen Finanziers kontrolliert würden, trübte das allgemein positive Bild des jüdischen Volkes nicht wesentlich. Hin und wieder wurden Geschichten darüber erzählt, wie die Chinesen in den 1930er- und 1940er-Jahren jüdischen Menschen halfen. 

Die Dinge scheinen sich über Nacht geändert zu haben. Plötzlich wird Israel als verantwortlich für die gesamte israelisch-palästinensische Tragödie dargestellt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass sich die Haltung der chinesischen Regierung in dieser Frage geändert hat und sich der palästinensischen Seite angenähert hat. Das erklärt auch, warum die chinesische Regierung relativ schweigsam über die chinesischen Opfer des Hamas-Angriffs ist.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    Liebe Leserin, lieber Leser,

    für seine aktuelle Ausstellung “Know Thyself” hat Ai Weiwei bekannte Werke der Kunstgeschichte aus Lego-Steinen nachgebaut und in irritierend andere Zusammenhänge gestellt. Im Interview mit Fabian Peltsch spart der weltbekannte Konzeptkünstler wie gewohnt nicht mit Kritik – sei es an Berlin oder an den politischen Systemen des Westens. Und er erklärt, warum Cancel Culture schädlich sein kann – dann nämlich, wenn wir aufgrund politischer Korrektheit unsere tatsächlichen Lebensumstände verkennen.

    Ums Klima geht es heute im zweiten Stück. Fabian Peltsch beschreibt darin die Angst vor dem Klimawandel, den es auch in China gibt. Kein Wunder: Wetterextreme wie monatelange Hitze und anschließend heftige Überschwemmungen haben die Menschen in der Volksrepublik auch in diesem Sommer heftig geplagt.

    Dass es dennoch nur wenig Klimaproteste gibt, geschweige denn Klimakleber auf der Straße, hat weniger mit fehlendem Unmut zu tun, sondern mit der Repression, die dafür sorgt, dass jeglicher Protest sofort im Keim erstickt wird. Und da sind wir wieder bei der Kontrolle, die in China bekanntlich über allem steht.

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    Felix Lee
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    Analyse

    “Im Westen agiert auch Autoritarismus”

    Der Künstler Ai Weiwei arbeitet derzeit mit Lego. Er baut damit berühmte Kunstwerke nach.

    Für Ihre aktuelle Ausstellung Know Thyself in Berlin haben Sie ikonische Werke der Kunstgeschichte mit Lego-Steinen in Pixel-Optik nachgebaut. Warum haben Sie sich entschieden, kein chinesisches Meisterwerk dabei abzubilden?

    Die Arbeiten gehen auf das Jahr 2014 zurück, als ich mich in China in einer Art softem Hausarrest befand. In dieser Zeit wandte ich mich Lego zu, um 176 Porträts von politischen Gefangenen zu erstellen. Dieses Medium ermöglichte es mir nicht nur, diese Personen auf lebendige Weise zu porträtieren, sondern erleichterte auch den Produktionsprozess und die anschließende Ausstellung. Die Auswahl jedes Kunstwerks ist also das Ergebnis sorgfältiger Überlegungen, die sich auf meine persönlichen Erfahrungen in China, aber auch auf Chinas Platz im globalen Kontext erstreckten. Einige meiner Lego-Kunstwerke sind von chinesischen Meisterwerken inspiriert, aber ich habe keine geeigneten Plattformen für ihre Ausstellung gefunden. Da das westliche Publikum mit chinesischer Kunst oft nicht vertraut ist, besteht ein großer Bedarf an umfassenden Erklärungen und Kontextualisierungen.

    Der Hype um chinesische Kunst, der in den frühen Zehnerjahren einen Höhepunkt erlebte, scheint sich im Westen deutlich abgekühlt zu haben. Sehen Sie in der Kunstwelt eine ähnliche Art von “Entkopplung” oder Aufspaltung in Paralleluniversen, wie es in der Tech-Welt zu spüren ist?

    Im Zeitalter der Postglobalisierung hat sich China in den letzten drei Jahrzehnten von einer schwer vorstellbaren Gesellschaft mit hoher Machtkonzentration zu einem der faszinierendsten Partner der westlichen Welt entwickelt. Heute nimmt der politische Appetit des Westens auf solche billigen Festessen aus China jedoch allmählich ab. Folglich wird auch die oberflächliche Faszination für chinesische Kunst in den Annalen der Geschichte verschwinden. Da wir jedoch weiterhin die Evolution und die Transformation Chinas miterleben werden, wird unser Verständnis für die Geschichte und den gegenwärtigen Zustand Chinas nicht abnehmen, sondern sich vielmehr erweitern.

    Ihr Vater, der Dichter Ai Qing, und andere wichtige chinesische Künstler lebten und studierten in Paris und orientierten sich an lokalen Strömungen wie dem Impressionismus oder dem sozialistischen Realismus. Haben die Chinesen bei der Modernisierung ihrer Kunst zu sehr auf den Westen geschaut?

    Die Geschichte in ihrer ganzen Größe fließt wie ein unaufhörlicher Fluss, der sich ständig vorwärts und abwärts bewegt. Chinas Kämpfe in der modernen Geschichte führten dabei zu der Erkenntnis, dass viele traditionelle Philosophien, wie der Neokonfuzianismus, die sich entwickelnde Gesellschaft nicht angemessen erklären konnten. Folglich machte sich China auf den Weg, um sich westliche Methoden zu eigen zu machen, sowohl in Bezug auf die Technik als auch auf die Kultur. Im Grunde genommen kann man dies mit dem Ausleihen eines westlichen Feuers vergleichen, um den eigenen Reis zu kochen. Der Schwerpunkt lag jedoch immer auf dem Reis und nicht auf dem Feuer selbst.

    Viele Künstler aus aller Welt strömen noch immer nach Berlin, wie einst nach Paris, um sich selbst zu verwirklichen. Was denken Sie: Wird Berlin als Keimzelle und Knotenpunkt für die zeitgenössische Kunst überschätzt?

    Ich denke, diese Annahmen sind etwas übertrieben. Berlin hat nie wirklich als Drehscheibe für zeitgenössische Kunst gedient. Ich habe die Stadt nie überschätzt, und ich würde natürlich auch andere Regionen nicht unterschätzen. Kunstwerke werden von Individuen geschaffen, und der Erfolg oder Misserfolg eines Individuums hängt nicht von seiner geografischen Lage ab.

    Sie haben Deutschland 2019 verlassen. Warum haben Sie sich dennoch entschieden, Ihr Atelier in Berlin zu behalten?

    Berlin ist eine Stadt, in der ich nach meiner Abreise aus China fünf bis sechs Jahre lang gewohnt habe. Ich habe dort ein sehr gutes Studio und ein engagiertes Team von Mitarbeitern. Ich habe nie daran gedacht, diesen Ort aufzugeben. Jedes Mal, wenn ich zurückkomme, kann ich immer noch einige charakteristische Züge Berlins wahrnehmen. Die Stadt hat ein Gefühl von Weite und Neuheit. Es fehlt ihr jedoch ein bisschen an inhaltlicher Tiefe.

    Sie haben kürzlich in einem Interview mit einer deutschen Zeitung erklärt, dass sich auch die Staaten des Westens autoritär verhalten. In welcher Hinsicht sind westliche Staaten wie Deutschland vielleicht sogar autoritärer als China?

    Der westliche Autoritarismus und der chinesische Autoritarismus unterscheiden sich grundlegend. Der chinesische Autoritarismus basiert seit Jahrtausenden auf einem zentralisierten und hochgradig vereinheitlichten System, das von konfuzianischen hierarchischen Prinzipien durchdrungen ist. Der Westen hingegen strebt nach ständiger Erneuerung, oft angetrieben von wissenschaftlichen und fortschrittlichen Bestrebungen.

    Inwiefern ist der Westen autoritär?

    Im Westen agiert der Autoritarismus oft unter dem Deckmantel der Demokratie und verlässt sich auf die Stimmen und Entscheidungen der Mehrheit, um soziale Fragen anzugehen. Auch wenn ich mich nicht eingehend mit der deutschen Politik beschäftige, scheint sie einem ähnlichen Muster zu folgen wie in den USA. Verschiedene politische Parteien wetteifern um Einfluss, setzen Strategien ein, um den Wählern zu gefallen, und verhalten sich opportunistisch, oft auf Kosten von Fairness und Gerechtigkeit, die für den gesellschaftlichen Fortschritt jedoch unerlässlich sind. Darüber hinaus sind Unternehmen hier sehr einflussreich, da Demokratie und Freiheit im Westen eng mit ihren Interessen verbunden sind.

    Welchen Einfluss hat das auf das Leben des Einzelnen?

    Was das Verständnis des Wesens der Menschheit angeht, so mag das chinesische System durchdringender erscheinen, obwohl es in erheblichem Maße als den humanitären Werten zuwiderlaufend empfunden werden kann. Im Westen ist das Verständnis von Menschlichkeit jedoch allmählich der Industrialisierung, Korporatisierung und Kapitalisierung gewichen. In Wirklichkeit haben die Menschen im Westen trotz des Anscheins größerer individueller Freiheit und Unabhängigkeit einige Fundamente ihres Menschseins verloren. Es kam zu zersplitterten Familien, zerbrochenen Bildungssystemen und einem Gefühl gesellschaftlicher Isolation.

    Manche Menschen behaupten, der chinesischen Gesellschaft fehle es heute an spirituellen Werten.

    Der Mangel an spirituellen Werten ist kein Einzelfall in der heutigen chinesischen Gesellschaft, sondern ein globales Phänomen. Mit dem rasanten Fortschritt der Wissenschaft scheint die Bedeutung des spirituellen Lebens zu schwinden. Diese spirituellen Sehnsüchte sind jedoch ein fester Bestandteil der menschlichen Natur, es sei denn, wir wollen alle zu Robotern werden.

    Wie nehmen Sie eigentlich die sogenannte Cancel Culture wahr – muss ein Künstler heute sensibler und umsichtiger vermitteln, was er ausdrücken will und für wen er spricht?

    Wenn wir aufgrund politischer Korrektheit unsere tatsächlichen Lebensumstände verkennen, kann die Cancel Culture sehr schädlich sein. Sie erweist sich oft als heuchlerisch und geht an praktischen Problemen vorbei. Die Vorstellung, dass man zum Beispiel nicht über chinesische Themen diskutieren kann, wenn man sich außerhalb von China aufhält, ist eine vereinfachte und fehlgeleitete Sichtweise. Nach dieser Logik sollte ich auch nicht über Russland sprechen, da ich mich nicht dort aufhalte, und doch führe ich solche Gespräche. In der sich schnell entwickelnden sozialen Landschaft der Gegenwart, die sich durch einen umfassenden Informationsaustausch auszeichnet, ist es nicht mehr so wichtig, wo wir uns aufhalten und wo nicht. Soziale Probleme sind, unabhängig davon, wo sie auf der Welt auftreten, vergleichbar.

    Ai Weiwei kontextualisiert in seiner aktuellen Ausstellung “Know Thyself” in der Berliner Galerie Neugerriemschneider kunstgeschichtliche Werke mithilfe von Lego-Steinen neu. Der 66-Jährige gilt als wichtigster zeitgenössischer Künstler der Gegenwart. Er wurde 1957 in Peking geboren. Sein Vater war der einflussreiche Dichter und Maler Ai Qing. In China saß Ai Wei Wei 2011 für mehrere Monate im Gefängnis. Von 2015 bis 2019 lebte er in Berlin und lehrte an der Universität der Künste. Derzeit lebt er in Portugal. Er hat die Fragen schriftlich beantwortet.

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    So wird der Klimawandel in China diskutiert

    Der Klimawandel ist in China im Alltag angekommen – hier versammeln sich Touristen in Shanghai um einen kühlenden Nebelspender.

    Auch in China sorgen sich die Menschen über den Klimawandel. Sich auf die Straße kleben oder eine Sehenswürdigkeit mit Farbe besprühen ist in dem autoritär regierten Staat jedoch keine Option, um seinen Sorgen ein Ventil zu geben. Dabei spüren die Chinesen die Wetterveränderungen und ihre Folgen schon jetzt auf katastrophale Weise. Im Januar 2023 erklärte die chinesische Meteorologiebehörde, dass das Klima in China im Jahr 2022 eindeutig anomal war und zu Extremen tendierte. Im Sommer erreichten die Temperaturen gar ein Rekordhoch. Im Herbst kam es zu unerwarteten Kälteeinbrüchen.

    Aber eine öffentliche Debatte gibt es dazu in den Staatsmedien und interessanterweise auch in den Sozialmedien kaum. Die Forscher Chuxuan Liu und Jeremy Lee Wallace schreiben in ihrer Studie “China’s missing climate change debate” (2023), dass auf Weibo, Chinas führender Social-Media-Plattform, nur 0,12 Prozent der Trending Topics zwischen Juni 2017 und Februar 2021 mit dem Klimawandel in Verbindung standen. Dabei ergab eine von der Europäischen Investitionsbank Ende 2019 durchgeführte Umfrage, dass 73 Prozent der chinesischen Bürger den Klimawandel als große Bedrohung ansehen, verglichen mit 47 Prozent in Europa und 39 Prozent in den USA. Dass es das Thema in China so schwer hat, hat mehrere Gründe.

    Verschweigen und verunglimpfen

    Umweltorganisationen und NGOs werden strenger überwacht. In den letzten Jahren haben die Behörden zahllose Umweltschützer und Whistleblower verwarnt und verhaftet und Bürgerinitiativen ausgehebelt. Ein Gesetz aus dem Jahr 2017 verpflichtet zudem alle ausländischen NGOs, mit einer lokalen Gruppe zusammenzuarbeiten, was laut vieler Beteiligter zu einer verstärkten Selbstzensur geführt hat.

    Laut einem Bericht von Bloomberg werden Journalisten der staatlichen Medien dazu angehalten, nicht über Themen wie die Bedrohung der reichen Küstenstädte durch den steigenden Meeresspiegel zu berichten. Investigative Artikel über Umweltschäden bleiben auf Vergehen einzelner lokaler Regierungsbeamter begrenzt. Phänomene wie die Friday-For-Future-Demos im Westen wurden in Artikeln der Staatsmedien als emotional, radikal und chaotisch verunglimpft. Greta Thunberg ist auch in den Sozialmedien eher Ziel des Spotts und gilt vielen als eine typische Verkörperung des westlichen “Baizuo 白左”, ein abwertender Begriff für die woke Linke, die anderen ihre Regeln aufzwingt. Auch kursieren in Chinas Netzwelt viele Verschwörungstheorien, die den Klimawandel als Fakt anzweifeln. Die junge Aktivistin Howey Ou, die kurzzeitig als “chinesische Greta” galt, protestiert mittlerweile lieber im Ausland gegen den Klimawandel.

    Kaum Einbindung der Zivilbevölkerung

    Die Bildung an Schulen und die Berichterstattung in den Medien richtet den Fokus vor allem darauf, wie das Individuum einen kleineren ökologischen Fußabdruck erzielen kann, etwa durch Abfalltrennung, Recycling und umweltbewussten Konsum. Die Rolle Chinas als größter CO₂-Emittent bei der globalen Erwärmung wird dagegen heruntergespielt. Der Tenor lautet: China bemühe sich nicht nur, mit grüner Technologie seinen Teil zum Klimaschutz beizutragen, es agiere mit dem ehrgeizigen Ziel, bis 2060 kohlenstoffneutral zu werden, auch als Vorbild für andere Länder. China habe jedoch gleichzeitig das Recht, sich in seinem eigenen Tempo zu entwickeln. Die Probleme, mit denen sich die Menschheit konfrontiert sieht, seien schließlich zuallererst von den großen Industrienationen des Westens verursacht worden.

    Umweltschützer sehen in der schwachen Einbindung der Zivilbevölkerung eine verpasste Chance. Auch in der jüngeren Vergangenheit hat kollektiver Druck in der Volksrepublik durchaus Macht zur Veränderung entfaltet. Vor etwa einem Jahrzehnt veranlasste etwa eine von der Bevölkerung getragene Kampagne gegen die Luftverschmutzung die chinesische Führung dazu, sich ernsthaft dem Smog-Problem anzunehmen, insbesondere in den großen Städten. Ein wichtiger Faktor war dabei auch der selbst finanzierte Dokumentarfilm “Under The Dome” der chinesischen Journalistin Chai Jing, der sich im Netz so schnell verbreitete, dass die Zensur zunächst nicht hinterherkam.

    Klima-Angst sucht sich neue Ventile

    Doch letztendlich ist die Furcht der Regierung vor einer destabilisierenden Wirkung eines offenen Aktivismus zu groß. Wohin also mit der Angst der Bevölkerung? Manche sind der Meinung, dass sie in der Empörung gegenüber ausländischen Umwelt-Skandalen und als tendenziell diffuse Eco-Anxiety ein Ventil findet. Als Japan im Sommer Abwasser aus dem Atomkraftwerk Fukushima ins Meer verklappte, kam es in China zu Hamsterkäufen, vor allem von Salz. Und das, obwohl eine wissenschaftliche Grundlage für die Panik nicht gegeben war.

    Auch im nach wie vor boomenden Science-Fiction-Genre in China, in dem der Klimawandel bislang kaum vorkam, zeichnet sich ein Wandel ab. Autoren wie Chen Qiufan und zuletzt Gu Shi flechten Szenarien von Umweltkatastrophen und steigenden Meeresspiegeln in ihre literarischen Werke ein. Bei beiden spielt dabei Künstliche Intelligenz als Gegenmittel eine wichtige Rolle. Das spiegelt sich auch in den Zielen der Regierung wider, die der KI ähnlich optimistisch begegnet wie die USA einst den Errungenschaften der Atomenergie. So will Peking die Technologie in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens einsetzen, um Milliarden Tonnen an Kohlenstoffemissionen einzusparen. Auch so bleibt eine vage Hoffnung gewahrt, die die Chinesen davon abhält, geschlossen auf die Straße gehen zu müssen.

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    News

    Li Shangfu offiziell entlassen

    Verteidigungsminister Li Shangfu
    Seit Wochen verschwunden, nun offiziell entlassen: Ex-Verteidigungsminister Li Shangfu

    Der seit rund zwei Monaten verschwundene Verteidigungsminister Li Shangfu (李尚福) ist offiziell entlassen worden. Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses habe Li aus seinem Ministeramt sowie seiner Position als Staatsrat entlassen, berichtete der Staatssender CCTV am Dienstag. Auch der bereits entlassene Außenminister Qin Gang wurde seines Amtes als Staatsrat enthoben. Diese Nachricht war erwartet worden, seit Li Ende im August ebenso abrupt aus der Öffentlichkeit verschwunden war wie zuvor Qin Gang.

    Spekulationen ranken sich seither um Korruption bei der Beschaffung von Militärausrüstung. Von 2017 bis 2022 leitete Li die Abteilung für Waffenentwicklung der Zentralen Militärkommission, die auch für den Einkauf von Waffen und Militärtechnik aus dem Ausland zuständig ist. Wegen Waffengeschäften mit Russland aus jener Zeit steht Li seit 2018 auf einer Sanktionsliste der USA.

    In sozialen Medien fanden sich vorübergehend einzelne bissige Kommentare. “Die Alten hatten recht: Je weniger Worte, desto größer die Geschichte” (字越少,事越大。古人诚不欺我), schrieb etwa ein User auf einer Nachrichten-Plattform der Beijing Daily Newspaper Group. Der Beitrag wurde allerdings wenig später gelöscht.

    Anders als zuvor bei Qin Gang – der von seinem Vorgänger Wang Yi ersetzt wurde – ernannte Peking zunächst keinen neuen Verteidigungsminister. Reuters hatte vor zwei Wochen unter Berufung auf fünf informierte Quellen Stabschef General Liu Zhenli als wahrscheinlichsten Nachfolger ins Spiel gebracht. Auch die South China Morning Post berichtete damals unter Berufung auf anonyme Quellen, General Liu werde als eine zentrale Figur bei dem internationalen Xiangshan-Sicherheitsforum Ende Oktober in Peking teilnehmen. Das Blatt wertete dies als Hinweis, dass Liu möglicher Nachfolger sein könnte.

    Das Xiangshan-Forum ist eine Art chinesischer Shangri-La-Sicherheitsdialog. Dort wird eine US-Delegation teilnehmen, das erste Mal seit Suspendierung des Militärdialogs im August 2022. Wenn dort General Liu statt des sanktionierten Ex-Ministers der zentrale Ansprechpartner für die US-Delegation wäre, würde das die bilateralen Gespräche sicher vereinfachen. ck

    • Korruption
    • Verteidigung
    • Xiangshan-Forum

    Gesetz zur patriotischen Erziehung verabschiedet

    Chinesische Flagge
    Chinesische Flagge

    Der Volkskongress hat am Dienstag ein Gesetz zur Stärkung der patriotischen Erziehung von Kindern und Familien verabschiedet. Damit soll unter anderem “historischer Nihilismus” bekämpft und die “nationale Einheit” gestärkt werden, wie staatliche Medien erklärten.

    “Historischer Nihilismus” ist ein Begriff, der von Peking verwendet wird, um Zweifel und Skepsis gegenüber dem offiziellen historischen Narrativ durch die Kommunistische Partei zu verunglimpfen. “Das Gesetz soll den Patriotismus fördern, betont aber auch die Notwendigkeit, rational, integrativ und aufgeschlossen zu sein, das Land der Welt zu öffnen und andere Zivilisationen zu akzeptieren”, schreibt die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua.

    Das Gesetz soll zum 1. Januar 2024 in Kraft treten. Seine Umsetzung betrifft die zentralen und lokalen Regierungsstellen sowie Schulen und Familien. Es enthält auch gezielte Maßnahmen für ausgewählte Personengruppen, darunter Regierungsbeamte, Angestellte, Dorfbewohner und Bewohner der Sonderverwaltungsregionen Hongkong und Macau sowie Taiwan, schreibt die staatlich unterstützte China Daily. rtr

    • Gesellschaft
    • Menschenrechte

    China schickt Hilfe in den Gazastreifen

    China wird humanitäre Hilfe im Wert von 15 Millionen Yuan (knapp zwei Millionen Euro) für die Menschen im Gazastreifen bereitstellen, darunter Lebensmittel und Medikamente. Das teilte die chinesische Agentur für internationale Entwicklungszusammenarbeit am Donnerstag mit.

    Parallel dazu sagte die israelische Gesandte in Taipeh, Maya Yaron, Chinas Reaktion auf den Angriff der Hamas-Militanten sei “beunruhigend” gewesen. Taiwan hingegen bezeichnete sie als “guten Freund”, dessen Unterstützung Israel zu schätzen wisse. Wie die meisten Länder unterhält Israel keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan. Taipeh hatte den Angriff palästinensischer Hamas-Kämpfer am 7. Oktober umgehend verurteilt und Israel die volle Unterstützung und Sympathie Taiwans zugesichert.

    Yaron bekräftigte die Enttäuschung ihrer Regierung über China, das die Angriffe der Hamas auf Zivilisten nicht verurteilt. China hatte zwar die Gewalt und die Angriffe auf die Zivilbevölkerung in dem Konflikt verurteilt. Der chinesische Außenminister Wang Yi erklärte, dass Israels Handlungen “den Rahmen der Selbstverteidigung sprengen”. Er nannte aber in seinen Kommentaren nicht die Hamas.

    China hat am Mittwoch zusammen mit Russland ein Veto gegen einen Vorstoß der USA im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingelegt. Dabei ging es darum, im Konflikt zwischen Israel und der Hamas auf eine Kampfpause zu drängen, um Zugang für humanitäre Hilfe zu ermöglichen, die Zivilbevölkerung zu schützen und die Bewaffnung der Hamas und anderer militanter Gruppen im Gazastreifen zu unterbinden. cyb/rtr

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    • Naher Osten

    Haft wegen gebrochener Sperrfrist

    In einem exklusiven Interview mit Sky News Australia hat die australische Journalistin Cheng Lei erstmals den Grund für ihre dreijährige Haft in einem chinesischen Gefängnis offengelegt: Demnach hatte sie die Sperrfrist für ein Briefing der chinesischen Regierung um nur wenige Minuten verletzt. “In China ist das eine große Sünde”, sagte Cheng. Im Interview äußerte sie sich nicht zu den Einzelheiten des von ihr veröffentlichten Briefing-Dokuments.

    Cheng war im Sommer 2020 festgenommen und im April vergangenen Jahres in einem nicht-öffentlichen Gerichtsverfahren schuldig gesprochen worden. Man warf ihr vor, während ihrer Zeit als Moderatorin beim chinesischen TV-Auslandssender CGTN Staatsgeheimnisse ins Ausland weitergegeben zu haben. In dem TV-Interview am Dienstag sagte Cheng, ihr sei während ihrer sechsmonatigen Isolationshaft gesagt worden, sie habe die Autorität des Staates untergraben und durch ihre Handlungen “das Mutterland verletzt”. cyb

    • Haft
    • Pressefreiheit

    Standpunkt

    Die problematische Haltung zu Israel

    Vier chinesische Staatsbürger wurden während des aktuellen Konflikts zwischen der Hamas und Israel getötet, zwei vermisst und sechs verletzt. Es wurden keine weiteren Informationen über sie preisgegeben, und nur wenige machten sich die Mühe, nachzufragen.

    Eine Halbchinesin, deren Bild von einer Entführung durch Hamas-Kämpfer viral ging, löste jedoch großes Interesse in der chinesischen Öffentlichkeit aus. Einen Tag nach dem Massaker vom 7. Oktober teilte die israelische Botschaft in Peking über Weibo mit, dass die Frau, Noa Argamini, chinesisch-israelischer Abstammung ist und in Peking geboren wurde. 

    Ihre Mutter, Liora Argamini, erzählte den Medien die Geschichte ihrer Familie. Liora, deren chinesischer Name Li Chong Hong ist, stammt aus Wuhan. Mitte der 1990er-Jahre ging sie zur Berufsausbildung nach Israel, lernte dort ihren späteren Ehemann kennen, beschloss zu bleiben und ließ sich schließlich in der Stadt Be’er Sheva nieder. Noa wurde nicht in Peking, sondern in Israel geboren. Sie sind jetzt beide israelische Staatsbürger. 

    In den Interviews bat die Mutter China um Hilfe bei der Rettung von Noa. Ihre Kommentare und ihr Appell steigerten das Interesse des chinesischen Publikums weiter und brachten “das gemischte chinesisch-israelische Mädchen” an die Spitze der Trendthemen auf Weibo. 

    Die vorherrschende Meinung ist jedoch, dass sie nichts mit China zu tun hat. Der tiefere Grund für die gleichgültige, ja sogar feindselige Haltung ist die ausgeprägtere pro-palästinensische Haltung der chinesischen Regierung in den israelisch-palästinensischen Konflikten. 

    Anfeindungen gegen die junge Frau

    Erst im vergangenen Jahr wurde eine andere Halbchinesin, Eileen Gu, zum Superstar in China, als sie bei den Olympischen Winterspielen in Peking zwei Goldmedaillen gewann. 

    Gu wurde als Sohn einer chinesischen Mutter und eines amerikanischen Vaters in den Vereinigten Staaten geboren und wuchs dort auf. Bis 2019 vertrat sie die USA bei internationalen Wettkämpfen, wechselte aber für die Olympischen Spiele 2022 nach China. Auf Fragen nach ihrer Staatsbürgerschaft, die bis heute geheim blieb, gab sie nie eine klare Antwort. 

    Gu im chinesischen Team zu haben, erwies sich als strategischer Schachzug für China, das immer verzweifelt versucht hatte, bei den Goldmedaillen ganz oben zu stehen. Mit Gus Beitrag belegte China mit neun Goldmedaillen den dritten Platz und übertraf damit die USA, die acht gewannen. 

    Trotz der bereits angespannten Beziehungen zwischen China und den USA übersah die chinesische Öffentlichkeit, die unter starkem Einfluss der Regierung stand, die Zweideutigkeit in Bezug auf Gus Staatsbürgerschaft und ihren US-Hintergrund und begrüßte den “Stolz”, den sie nach China brachte. 

    Aber was kann Noa Argamini nach China bringen? In der Wahrnehmung der chinesischen Regierung wahrscheinlich nichts Gutes. 

    Als eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums am 9. Oktober nach ihr gefragt wurde, sagte sie: “Wir haben keine Erkenntnisse vorliegen. Wir prüfen den Sachverhalt noch.” Seitdem hat sich China nicht mehr offiziell zu Noa Argamini geäußert. 

    Argamini, die Mutter, konnte mit ihren eingeschränkten Kommunikationsfähigkeiten ebenfalls nur wenig dazu beitragen, die öffentliche Wahrnehmung geradezurücken. 

    Anders als die PR-affine Eileen Gu versuchte Liora Argamini nicht, Fragen nach der Staatsbürgerschaft von Noa und sich selbst auszuweichen. Aber in einem Video-Interview mit einem Journalisten des Fernsehsenders Phoenix sagte sie emotionslos: “Selbst wenn ich israelische Staatsbürgerin bin, könnt ihr Chinesen uns nicht helfen? Verstehst du, was ich meine? Anderen zu helfen, ist eine Verpflichtung für alle.”

    Unfreundliche Kommentare über Noa kursierten bereits im chinesischen Internet, bevor die Mutter Interviews gab. Nachdem sie diese katastrophale Bemerkung gemacht hatte, stimmten weitere Menschen in den Chor ein und erklärten, dass die Familie keine Hilfe verdiene. 

    Noch härtere Kommentare und Gerüchte tauchten auf: Die israelische Botschaft habe Noas Geburtsort absichtlich falsch angegeben, um Sympathie zu wecken; die Mutter sei eine Verräterin, weil sie von chinesischen Geldmitteln lebte, als sie nach Israel ging; sie gehöre zu denen, die nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens eine Aufenthaltsgenehmigung in Israel erhielten. Noa sei keine Studentin, wie die Mutter behauptet; sie sei eine Soldatin, die im Krieg kämpft. 

    Öffentliche Meinung leicht manipulierbar

    Bis letzte Woche hielten die meisten Chinesen den israelisch-palästinensischen Konflikt für irrelevant. Obwohl Namen wie Gaza und das Westjordanland oft in den Nachrichten auftauchten, verstanden nur wenige, warum all dies geschehen war. 

    Trotz seines engen Bündnisses mit den Vereinigten Staaten wurde Israel in China als ein bewundernswertes, freundliches Land wahrgenommen, das in einer feindseligen Umgebung überlebte und gedieh. Jüdische Menschen galten als klug und fleißig. Selbst ein äußerst populäres chinesisches Buch mit dem Titel “Währungskriege”, in dem behauptet wurde, dass die Vereinigten Staaten von jüdischen Finanziers kontrolliert würden, trübte das allgemein positive Bild des jüdischen Volkes nicht wesentlich. Hin und wieder wurden Geschichten darüber erzählt, wie die Chinesen in den 1930er- und 1940er-Jahren jüdischen Menschen halfen. 

    Die Dinge scheinen sich über Nacht geändert zu haben. Plötzlich wird Israel als verantwortlich für die gesamte israelisch-palästinensische Tragödie dargestellt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass sich die Haltung der chinesischen Regierung in dieser Frage geändert hat und sich der palästinensischen Seite angenähert hat. Das erklärt auch, warum die chinesische Regierung relativ schweigsam über die chinesischen Opfer des Hamas-Angriffs ist.

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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