Executive Summary
Erscheinungsdatum: 16. Oktober 2025

Wenn Krankheit zum Standortfaktor wird

2024 fehlte jeder AOK-versicherte Beschäftigte im Schnitt 2,3-mal (Imago Images)

Hohe Krankmeldungen führen zu steigenden Belastungen für Unternehmen und die Volkswirtschaft. In Deutschland summieren sich die Kosten auf Milliardenbeträge – Reformvorschläge von Politik, Wirtschaft und Ökonomen stehen zur Debatte.

Im Jahr 2024 fehlte jeder AOK-versicherte Beschäftigte im Schnitt 2,3-mal, mit 228 Krankmeldungen je 100 Mitglieder – ein neuer Höchstwert laut Fehlzeitenreport 2025. Besonders ins Gewicht fallen Muskel- und Skeletterkrankungen, die knapp 20 Prozent der Fehltage verursachen, sowie Atemwegserkrankungen mit rund 15 Prozent. Psychische Leiden machen zwar nur etwa 5 Prozent der Krankmeldungen aus, verursachen aber 13 Prozent aller Ausfalltage – oft mit langen Genesungszeiten.

Die finanziellen Folgen für Unternehmen sind enorm. „Wir müssen in Deutschland dringend an die Arbeitskosten ran. Die sind im europäischen Vergleich ein massiver Wettbewerbsnachteil. Ein Teil davon sind die immer höher werdenden Entgeltfortzahlungen, die die Unternehmen zusätzlich belasten“, sagt Jochen Pimpertz, Leitender Ökonom am IW Köln im Gespräch mit Table.Briefings. Allein im Jahr 2024 mussten Betriebe für ihre erkrankten Beschäftigten (ohne Mutterschutz) zusätzlich zu den Bruttolöhnen rund 13 Milliarden Euro an Sozialabgaben leisten. Insgesamt beliefen sich die Kosten der Entgeltfortzahlung auf 82 Milliarden Euro. Das sind zehn Milliarden Euro mehr als noch drei Jahre zuvor und mehr als doppelt so viel wie noch 2010.

Die hohen Krankmeldungen führen zudem zu spürbaren Wohlstandsverlusten. 2023 summierten sich die Produktionsausfälle durch Krankheit laut IW Köln auf rund 128 Milliarden Euro, die Wertschöpfungsverluste lagen bei etwa 221 Milliarden Euro. Rechnerisch dämpfte das das deutsche BIP-Wachstum um 0,4 bis 0,6 Prozentpunkte. IW-Ökonom Pimpertz weist jedoch darauf hin, dass es sich um Modellrechnungen handelt: Verglichen werde mit einem Szenario, in dem alle Beschäftigten gesund wären. In der Realität übernehmen Kollegen im Krankheitsfall häufig zusätzliche Aufgaben, daher sind die tatsächlichen Effekte schwer zu beziffern.

Die wachsenden Kosten haben eine breite politische Debatte ausgelöst: Allianz-CEO Oliver Bäte forderte bereits Anfang 2025 die Einführung von Karenztagen. Beschäftigte sollten nach seiner Vorstellung den ersten Krankheitstag selbst finanzieren und erst ab dem zweiten Tag Anspruch auf Lohnfortzahlung haben. Damit will er kurzfristigen Krankmeldungen ohne ärztliches Attest entgegenwirken und zugleich die Kostenbelastung für Arbeitgeber reduzieren. Die Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung, Gitta Connemann (CDU), plädierte im Podcast Table.Today für die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung, weil sie aus ihrer Sicht dazu beiträgt, dass sich Beschäftigte leichter abmelden. Beide Vorschläge stießen bei Arbeitnehmervertretern auf Widerstand.

Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), setzt an anderer Stelle an. Er sprach sich im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland dafür aus, eine Attestpflicht erst ab dem vierten Krankheitstag einzuführen. Damit will er vor allem die Arztpraxen entlasten und Patienten kurze Krankheitsphasen ohne Arztbesuch ermöglichen. IW-Ökonom Pimpertz hält den KBV-Vorschlag jedoch für „nicht zielführend“. Aus seiner Sicht löst eine spätere Attestpflicht kein einziges Kostenproblem, denn die Entgeltfortzahlung müssen Unternehmen ohnehin ab dem ersten Krankheitstag leisten.

Für ihn liegt der entscheidende Hebel deshalb an anderer Stelle: „Eine Deckelung der Entgeltfortzahlung hätte für mich Priorität. Das wäre ein wirksamer Schritt, um die Belastungen für die Unternehmen zu begrenzen.“ Zugleich betont er, dass Reformen in diesem Bereich nur gemeinsam mit den Sozialpartnern möglich seien und dafür müssten Arbeitgeber und Gewerkschaften an einem Tisch verhandeln.

In Zukunft dürften die Belastungen eher zunehmen: Mit einer alternden Belegschaft steigt nach Einschätzung von Pimpertz die Wahrscheinlichkeit für Krankmeldungen. Beschäftigte im fortgeschrittenen Alter fehlen häufiger und länger – dieser Trend dürfte sich in Zukunft eher verstärken als abschwächen.

Briefings wie CEO.Table per E-Mail erhalten

Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

Anmelden

Letzte Aktualisierung: 17. Oktober 2025

Teilen
Kopiert!