CEO.Talk
Erscheinungsdatum: 17. Oktober 2025

Werden Risiken durch den Klimawandel schwerer kalkulierbar, Herr Leue?

Table.Briefings hat sich mit Torsten Leue, Vorstandsvorsitzender der Talanx AG, in der Konzernzentrale in Hannover getroffen.

Torsten Leue, Vorstandsvorsitzender der Talanx AG, erläutert im Interview, wie Versicherer Naturkatastrophen bewerten, warum Data-Driven Insurance heute ebenso wichtig ist wie Prämien und warum Cyberangriffe für Unternehmen zunehmend gefährlicher werden.

Herr Leue, seit Jahrhunderten besteht das Geschäftsmodell der Versicherungsbranche darin, Risiken zu berechnen. Werden diese Risiken heute durch den Klimawandel schwerer kalkulierbar?

Wir schützen unsere Kunden vor finanziellen Risiken. Das heißt, dass wir exzellente Fähigkeiten in der Kalkulation von Risiken haben müssen. Hinzu kommt, dass die sogenannten Kipppunkte sicherlich zunehmen werden. Am Ende bleibt die Frage: Hält ein Geschäftsmodell die möglichen künftigen Belastungen durch den Klimawandel und andere externe Faktoren aus? Wir glauben, dass wir sehr gut dafür aufgestellt sind: einerseits gut diversifiziert und andererseits resilient. 

Das Combined Ratio (Schaden-Kosten-Quote) der Talanx AG sinkt, doch die Häufigkeit der Naturkatastrophen nimmt zu. Die verheerenden Waldbrände im Januar rund um Los Angeles kosteten Talanx 624 Millionen Euro. Kann sich also die Versicherungsbranche nachhaltig entwickeln?

Das Risiko ist unser Geschäft – wir sind in schwierigen Situationen für unsere Kunden da. Bei großen Schäden können wir deshalb leisten, weil wir einen Risikoausgleich über unser Portfolio darstellen können. Das heißt: Wir müssen risikoadäquate Prämien erzielen und breit diversifiziert sein. Die Häufigkeit für Erdbeben auf der Welt steigt nicht, wenn ein Erdbeben in Chile war. 

Wahrscheinlichkeiten berechnen bedeutet, dass uns meistens nur begrenzte Daten zur Verfügung stehen – grundsätzlich reichen diese nie aus. Natürlich könnte es inzwischen mehr Hurrikans geben; entscheidend ist allerdings, wo die versicherten Primärrisiken sowie die Sekundärrisiken liegen. Die Versicherungswirtschaft sehe ich langfristig auch für höhere Risiken gut gerüstet.

Wird es langfristig nötig sein, Risikoprämien konsequent zu erhöhen?

Das sehe ich nicht, vor allem nicht in dieser Pauschalität. In jeder Branche gibt es Versicherungszyklen, die auf Schadenerfahrungen basieren. Wenn wir in der Talanx Gruppe auf unsere Großschadenbudgets und die tatsächlichen Großschäden der vergangenen zehn Jahre schauen, dann kann ich sagen, dass wir gut kalkuliert haben. 

Die Frage des Protection Gaps ist natürlich auch relevant. Wenn wir als Beispiel die rund 320 Milliarden Euro verursachten Schäden durch große Naturkatastrophen betrachten, waren knapp 60 Prozent davon nicht versichert. Das wirft die Frage auf, welche Risiken versicherbar sind und wie sowohl klassische als auch alternative Marktkapazitäten bereitgestellt werden.  

Die Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft hat bereits 2020 angekündigt, die Risikobereitschaft für Sekundärrisiken, etwa Waldbrände, zu reduzieren. Werden Rückversicherer die Preise derart anheben, dass sie unwirtschaftlich werden?

Ich bin sicher, dass es in den Märkten erstens weiterhin Zyklen geben wird und zweitens genügend Kapazitäten vorhanden sind. Insbesondere bei großen Ereignissen ist viel Erst- und Rückversicherung gefragt, und es steht auch viel alternatives Kapital zur Verfügung. Insbesondere Cat Bonds (Anleger wetten mit den Produkten gegen das Auftreten extremer Naturereignisse) haben sich in bestimmten Bereichen als eine gute Ergänzung zur klassischen Rückversicherung etabliert, vor allem dort, wo die Kapazitäten eng bemessen sind. Eine generelle Gefahr, dass Rückversicherung unbezahlbar werden könnte, sehen wir nicht. Ich gehe jedoch auch davon aus, dass in extrem gefährdeten Regionen der Welt das Protection Gap weiterhin bestehen, beziehungsweise steigen könnte.  

Ökonomen fürchten Kipppunkte, ab denen ganze Regionen oder Stadtviertel nicht mehr versicherbar sind. Teilen Sie diese Einschätzung?   

Das kann vielleicht passieren, wir haben das bislang aber nicht beobachtet. Man sagt ja zum Beispiel, Kalifornien sei ein starkes Erdbebengebiet. Ein Erdbeben kann nächstes Jahr passieren – oder erst in 100 Jahren. Wir bieten auch in Kalifornien weiter Versicherungsschutz an.  

Die tatsächlichen Kipppunkte, also wann sie eintreten und wie eindeutig die Muster von Naturereignissen sind, lassen sich weder in Häufigkeit noch in Stärke zuverlässig vorhersagen. Es ist naheliegend zu denken, extreme Ereignisse würden zunehmen, aber die Welt ist weitaus komplexer. 

Sie haben das steigende Protection Gap angesprochen, also die Lücke zwischen Gesamtschäden und versicherten Schäden. Verlieren die Menschen das Vertrauen in die Versicherungsbranche?

Dass Menschen das Vertrauen in die Versicherungsbranche verlieren, sehe ich nicht. Wir können finanzielle Schäden ausgleichen und im Schadenfall machen wir das auch sehr gut. Manche sind vielleicht überrascht von der Höhe der Prämie in Ausnahmefällen. Die Menschen verstehen aber sehr gut, wenn man ihnen erklärt, woher die Summe kommt. 

Nehmen Sie etwa ein Gebiet, das stark von Naturkatastrophen bedroht ist und statistisch gesehen bald wieder betroffen sein könnte. Wenn Sie dort Ihr Haus neu errichten, müssen Sie damit rechnen, dass es erneut überschwemmt oder vom Sturm beschädigt wird – und solche Regionen gibt es weltweit zuhauf. Wichtig ist für mich: Wir haben im Konzern ein Großschadenbudget von 2,8 Milliarden Euro im Jahr 2025. Wenn unsere Kunden von versicherten Großschäden betroffen sind, dann zahlen wir dementsprechend.  Das gilt nicht nur für Großschäden, sondern grundsätzlich: Wir leisten.

Talanx ist weltweit aktiv. Werden Versicherungen in verschiedenen Regionen unterschiedlich wahrgenommen?

Generell hängen Versicherungsmärkte nicht nur von der Mentalität einer Region ab, sondern auch vom wirtschaftlichen Reifegrad eines Landes. Weltweit variieren diese Reifegrade stark. Deshalb liegt die Nicht-Lebens-Versicherungsdurchdringung in etablierten Märkten wie in großen Teilen Europas bei etwa 3,2 Prozent des BIP, während sie in aufstrebenden Märkten ungefähr bei der Hälfte liegt. 

Genau hier steckt enormes Wachstumspotenzial für uns. Zum Beispiel liegt in Lateinamerika ein Marktpotential von rund 100 Milliarden US-Dollar in den nächsten 15 Jahren. Davon wollen wir mit unserer starken Präsenz dort partizipieren. Entscheidend ist, wann sich in einer Gesellschaft ein Mittelstand herausbildet. Erst dann öffnen sich die Möglichkeiten für eine höhere Versicherungsdichte.  

Hugh Terry, Gründer der Online-Plattform Digital Insurer, sieht die künftige Rolle der Versicherungsbranche holistisch: Als Unterstützung für Kunden, um Risiken zu reduzieren und zu managen. Also nicht nur als reiner Zahlungsmechanismus. Sehen Sie das auch so?

Ich sehe das absolut so. Wir können unsere Kunden schon deshalb besser unterstützen, weil wir aufgrund unserer dezentralen Aufstellung näher an ihnen dran sind. Unsere Kunden profitieren direkt von unserer Kostenführerschaft in über 90 Prozent unseres Portfolios.

Wenn Sie sich die Firmenversicherungen anschauen, arbeiten wir intensiv an Präventionsmaßnahmen mit den Kunden, um die Versicherbarkeit attraktiver zu gestalten. Mehr Prävention fließt auch in die Prämiengestaltung ein. Im Dialog mit den Kunden geht es genau darum, Vertrauen zu schaffen – eben diesen engen Austausch, den Sie ansprechen.  

Ein weiteres holistisches Beispiel: Während der Pandemie war es branchenweit unklar, ob Sachschäden durch Corona gedeckt sind. Wir haben uns deshalb entschieden, diese unklaren Fälle in Deutschland zugunsten unserer Kunden auszulegen. Das schafft langfristig viel „Goodwill“ und Vertrauen beim Kunden.

Eine ganzheitliche Rolle der Versicherungsbranche kann auch durch künstliche Intelligenz unterstützt werden – etwa im Bereich Claim Handling, Underwriting oder 24/7-Kundeninteraktion. Wie implementieren Sie nun bei Talanx eine „Data-Driven Insurance“?

Wir haben in den vergangenen Monaten sehr viele Top-Führungskräfte und Mitarbeiter geschult. Die entscheidende Frage dabei ist, wie wir in unseren Core-Prozessen, die den größten Hebel haben, Skalierbarkeit erreichen. An diesem Punkt steht unsere Branche gerade.  

Wir sind keine transaktionale Branche, in der Kunden morgens aufwachen und sofort etwas über ihre Versicherung wissen wollen. Das ist bei Banken anders, wo sie täglich ihr Konto checken. Unsere Touchpoints – die „Moments of Truth“ – im Jahr sind eher begrenzt: etwa, wenn sie eine Rechnung erhalten, einen Schaden melden oder einen neuen Vertrag suchen. Genau an diesen Punkten müssen wir erreichbar sein und einen intuitiven, einfachen und nachvollziehbaren Prozess bieten. Dabei hilft uns KI. 

Gerade im Bereich Naturkatastrophen könnte KI zusammen mit Satellitenbildern und 3D-Modellen hilfreich sein. 

Wir haben ein internes System namens Argos, in dem wir allein fünf Millionen Standortdaten abbilden. Unsere Underwriter können ihre Standorte mittels KI-gestütztem Import in die Plattform bringen und dann die Gesamtgefährdung einschätzen, noch bevor ein Vertrag gezeichnet wird. Solche Tools werden kontinuierlich verfeinert, auch durch KI. Am Ende sind Daten, wie es heißt, die neue Währung. Die Herausforderung ist für uns nicht nur, wer die besseren Daten hat, sondern auch, wer sie im Sinne einer Stressanalyse richtig, also intelligent und effizient, auswerten kann. 

Sie haben schon vor ein paar Jahren betont, dass Cybersicherheit ein großes Thema in der Versicherungsbranche wird. Verstehen Unternehmen nun, dass sie mehr Ressourcen investieren müssen?  

Ich sehe mehr Bedarf und eine steigende Nachfrage nach Cyberversicherungen. Trotzdem gibt es leider immer noch zu viele Unternehmen, die das Risiko noch nicht ernst genug nehmen, obwohl Cyberangriffe auch in Europa drastisch zugenommen haben. Stellen Sie sich vor, eine Cloud-Infrastruktur von einem der großen Anbieter fällt aus – das ist global wie ein Hurrikan für Unternehmen und für Versicherer. 

Auf der anderen Seite gibt es viele kleine und mittelständische Unternehmen, die oft unterversichert sind, obwohl sie eine Cyber-Versicherung am dringendsten bräuchten. Wie kann man ihnen einen bezahlbaren Versicherungsschutz bieten, wenn sie gleichzeitig in Firewalls und Prävention investieren? Gerade an diesem Wachstumspotenzial möchten wir teilhaben.  

Torsten Leue ist seit Mai 2018 Vorstandsvorsitzender der Talanx AG, zu der HDI Global und die Hannover Rück – die drittgrößte Rückversicherung der Welt – gehören. Zuvor leitete er von 2010 bis 2018 das internationale Privat- und Firmenkundengeschäft des Konzerns und war von 2017 bis 2022 Arbeitsdirektor. Fast zwei Jahrzehnte war Leue bei der Allianz tätig, unter anderem als Vorstandsvorsitzender der Allianz Slowakei und als Regionalmanager für Mittel- und Osteuropa.

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Letzte Aktualisierung: 18. Oktober 2025

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