Deutsche Rüstungsunternehmen können nach der Einigung zwischen Union und SPD über die Reform der Schuldenbremse sowie der Ankündigung der EU, Investitionen von 800 Milliarden Euro in die europäische Verteidigung zu ermöglichen, mit enormen Aufträgen rechnen. „Wir sehen einen echten Paradigmenwechsel bei den deutschen Verteidigungsausgaben. Die Befreiung der Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse wird wesentlich vorausschauendere und flexiblere Investitionen in eine glaubwürdige Verteidigungs- und Abschreckungsarchitektur ermöglichen“, sagt Oliver Dörre, Vorstandsvorsitzender des Radar- und Sensorspezialisten Hensoldt dem CEO.Table.
In der kommenden Woche wird das deutsche Parlament über den Gesetzentwurf zur Reform der Schuldenbremse beraten, die Union und SPD ausgehandelt haben. Das Vorhaben, Verteidigungsausgaben, die über ein Prozent des BIP liegen, von der Schuldenbremse auszunehmen, könnte Beamten im Verteidigungsministerium erlauben, längerfristige Projekte anzustoßen. Bislang hatte die Industrie fehlende Planbarkeit moniert, die es nicht erlaube, Produktionsketten hochzufahren.
Die Grünen lassen eine Zustimmung bislang offen. Die braucht es, um in der aktuellen Konstituierung des Bundestags noch das Sondervermögen und die Schuldenbremsen-Regelung durchs Parlament zu bringen. „Ich bin mir sicher, dass die politischen Mehrheiten zustande kommen. Europa muss sich verteidigen können, auch wenn sich die US-Amerikaner zurückziehen“, sagt Finanzausschuss-Vorsitzender Alois Rainer (CSU). Ein Großteil der Aufträge, die wir für die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr ausgegeben werde, müssten aber im eigenen Land bleiben. „Das stärkt unsere Industrie, kurbelt unser Wachstum an und ist ein Schritt, die Rezession hinter sich zu lassen.“
Ob deutsche und europäische Unternehmen die Beschaffung der Rüstungsgüter aber überhaupt schnell und umfassend leisten können, ist unklar. Aus Sicht von Christian Mölling von der Bertelsmann Stiftung wäre die Industrie dazu in der Lage, wenn Vorschriften gelockert werden. „Das beste Beispiel ist das, was Rheinmetall mit seiner Munitionsfabrik gemacht hat“, sagt Mölling. Da seien Genehmigungsverfahren zunächst ausgesetzt und hinten angestellt worden. Rheinmetall hat in Niedersachsen eine Munitionsfabrik gebaut und prüft jetzt, zivile Fertigungen an den Standorten in Neuss und Berlin umzurüsten. In der Ukraine produziert der Düsseldorfer Konzern bereits.
Eine weitere Option sei, dass die Bundesregierung Unternehmen aufbaut und privat betreiben lässt. „Dann würde es nur noch um das ökonomische Risiko des Betriebs einer solchen Anlage gehen und der Staat würde sich um die Zertifizierungen kümmern“, so Mölling. Die Engpässe derzeit seien Rohstoffe, Komponenten und Personal. Strategische Reserven anzulegen, sei aber vergleichsweise günstig.„Der größte Bottleneck ist ausgebildetes Personal“, sagte Mölling weiter. Man müsse diskutieren, ob man bei der Ausbildung des Personals niedrigere Maßstäbe ansetze. So wie es in einem Kriegsfall auch der Fall wäre.
Hensoldt verfüge mittlerweile über die industriellen Kapazitäten, um den dringenden Bedarf an konventionellen Systemen wie Panzern, Kampfflugzeugen und Flugabwehrsystemen zu decken, sagt Vorstandschef Dörre. „Der eigentliche Wendepunkt ist die Abkehr vom derzeitigen 'Design-to-Budget'-Ansatz, der unsere Fähigkeit strategisch zu planen ernsthaft behindert hat, hin zu einem Ansatz, der sich vollständig am künftigen Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und den damit verbundenen Zeitplänen orientiert.“
Für Rainer muss Europa unabhängiger werden. „Die deutschen und die europäischen Rüstungskonzerne müssen jetzt verstärkt zusammenarbeiten und Synergien heben. Wir können uns nicht mehr wie früher darauf verlassen, dass die Vereinigten Staaten uneingeschränkt unsere Sicherheit garantieren“, sagt Alois Rainer. Soll heißen: Dort, wo es möglich ist, sollten die Unternehmen in der EU – ohne nationalstaatliche Interessen in den Vordergrund zu rücken – kooperieren, um Skaleneffekte zu heben und damit die Beschaffungskosten zu senken.
Als Vorbild dafür könnten die deutsch-französischen Gemeinschaftsunternehmen Airbus (Eurofighter, A400M, C295), KNDS (Entwicklung neuer Kampfpanzer), aber auch die jüngst geschlossene Kooperation von Rheinmetall mit dem italienischen Rüstungskonzern Leonardo sein. „Die Hersteller müssen ihre Potenziale bündeln, damit sie die notwendigen Aufträge überhaupt abarbeiten können. Der Bedarf ist enorm. Allein die Aufrüstungsanstrengungen auf das ursprüngliche Verteidigungsniveau der Bundeswehr wird Jahre dauern. Die Industrie wird das aber schaffen“, sagt Rainer. Wichtig, so der Finanzexperte der Union, sei dabei, dass die Vergabe entlang der Wertschöpfungskette auch im eigenen Land zu mehr Wachstum und damit auch aus der Wirtschaftskrise führe.
Wie behäbig aber staatlich organisierte multinationale Rüstungsprojekte voranschreiten können, zeigen das deutsch-französische Panzerprojekt Main Ground Combat System (MGCS) und das deutsch-französisch-spanische Kampfjet-Projekt Future Combat Air System (FCAS), die beide im Zeitplan zurückliegen.