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Von der „Staatsräson“ zum „Wesenskern“: In Israel bemüht sich der Kanzler um ein neues Selbstverständnis

Friedrich Merz reist nach Israel und vermeidet bewusst den Begriff „Staatsräson“. Stattdessen spricht er vom „unveränderlichen Wesenskern“ der deutsch-israelischen Beziehungen – trotz früherer Waffenembargos bleibt die Unterstützung klar.

07. Dezember 2025
Benjamin Netanjahu, Friedrich Merz und Jacob Schrot, Büroleiter des Kanzlers (picture alliance/dpa | Michael Kappeler)

Einen Begriff benutzt Friedrich Merz bei seinen öffentlichen Statements in Jerusalem ganz bewusst nicht: den der Staatsräson. Nicht in der Residenz von Israels Präsident Izchak Herzog am Samstagabend, nicht bei der Begegnung mit Benjamin Netanjahu am Sonntagnachmittag im Büro des Premierministers. Und auch nicht am Morgen in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, wo der Bundeskanzler angesichts des „furchtbaren Verbrechens der Shoa, das Deutsche am jüdischen Volk begangen haben“, ins Gästebuch schreibt: „Deutschland muss für die Existenz und die Sicherheit Israels einstehen. Das gehört zum unveränderlichen Wesenskern unserer Beziehungen, und zwar für immer.“

Die Wendung vom Wesenskern verwendet Merz auch bei den Treffen mit Präsident und Premier. „Es gehört und bleibt der unveränderliche Wesenskern der Politik der Bundesrepublik Deutschland, an der Seite dieses Landes zu stehen“, sagt er vor dem Gespräch mit Herzog am Samstag, und an der Seite Netanjahus bekräftigt er: „Das gilt für heute, das gilt für morgen, das gilt für immer.“ Die Formel bringt auf den Punkt, wie unverändert der Kanzler das deutsch-israelische Verhältnis sieben Monate nach seiner Wahl zum Kanzler gerne hätte. Er räumt aber selbst ein: „Ich komme später, als ich es eigentlich wollte“. Bei Olaf Scholz dauerte es zwei Monate, bei Angela Merkel nach ihrer ersten Wahl zur Kanzlerin 2005 ebenfalls. Sie war es, die 2008 in der Knesset die Formel von Israels Sicherheit als deutscher Staatsräson eingeführt hatte.

Dass Merz den Begriff fallen lässt, hat auch pragmatische Gründe. Er ist überzeugt, Deutschland dadurch mehr politische Flexibilität gegenüber Israel zu verschaffen. Mehr Flexibilität im Umgang mit der Regierung Netanjahus, deren rechtsextreme Mitglieder offen für eine Annexion des besetzten Westjordanlands eintreten. Eine Position, gegen die sich Merz auf dieser Reise immer wieder ausspricht: Es dürfe keine Schritte in diese Richtung geben, „keine formellen, aber auch keine politischen, baulichen, faktischen oder sonstigen Maßnahmen, die auf eine Annexion hinauslaufen“. Und er hofft auf mehr Flexibilität bei künftigen Entscheidungen, wenn es um die Frage geht, wann das Eintreten für die Sicherheit Israels auch militärische Unterstützung impliziert – und wann womöglich nicht. Nach dem Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober 2023 hatten das nicht nur Konservative, sondern auch Grüne gefordert.

Doch ausgerechnet Merz machte drei Monate nach seinem Amtsantritt eine deutliche Einschränkung. Im August 2025 setzte er die Lieferung von Waffen an Israel aus, die im Gazastreifen eingesetzt werden können. Inzwischen hat er das Embargo wieder aufgehoben. Trotzdem bleibt die Entscheidung auf der Reise immer wieder großes Thema. „Ich komme zu einem Zeitpunkt nach Israel, der komplizierter kaum sein könnte“, sagt Merz bei Präsident Herzog; von einer „vielschichtigen Zeit für beide Länder“ spricht er auf der Pressekonferenz mit Netanjahu. Das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza habe Deutschland „vor einige Dilemmata gestellt“. Darauf habe man reagiert, und zwar richtig. „Trotz dieser Entscheidung, die auf einen besonderen Sachverhalt ausgerichtet war, hat sich vorher und nachher an unserer grundsätzlichen Unterstützung Israels, auch militärischen Unterstützung, nichts geändert.“

Zumindest äußerlich wirkt es auf der Pressekonferenz so, als habe sich das Verhältnis zu Netanjahu wieder normalisiert. Mit „lieber Bibi“ spricht Merz den israelischen Premier an, der bezeichnet den Kanzler im Gegenzug als „herausragende Persönlichkeit“. Nach Verhängung des Teilembargos hatte Funkstille zwischen den beiden geherrscht, erst Ende November, nach Aufhebung der Ausfuhrsperre, telefonierten sie wieder miteinander.

Ob die deutsch-israelischen Beziehungen wirklich wieder die alten sind, wird auch von der Entwicklung im Gazastreifen abhängen. Zwei Monate nach Inkrafttreten des Waffenstillstandes liegt Phase zwei des in Scharm el-Scheikh beschlossenen Friedensplans in weiter Ferne. Der sieht neben der Entwaffnung der Hamas die Schaffung einer internationalen Protektoratsverwaltung sowie die Entsendung einer multinationalen Friedenstruppe vor. Der arabischen Unterstützung für den Plan versicherte sich Merz bereits am Samstag bei einem Treffen mit Jordaniens König Abdullah II. in Akaba. Nach Ramallah fuhr er zwar nicht, telefonierte aber kurz vor Abflug mit dem Präsidenten der Palästinensische Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas. Die PA wird als mögliche Verwaltungsmacht in Gaza gehandelt. Das aber lehnt Netanjahu ab.

Ein Konfliktpunkt bleibt: der Streit um eine Zwei-Staaten-Lösung. Während der Kanzler sie als Langzeitziel immer wieder anmahnt, stellt sich Israels Premier hart dagegen. „Der Zweck eines palästinensischen Staats besteht darin, den einzigen jüdischen Staat zu zerstören“, sagt Netanjahu – und verweist auf die Differenzen zu Merz in dieser Frage. Nur um ihm bei einer anderen aus der Patsche zu helfen: Zurzeit stehe ein Besuch in Berlin nicht zur Debatte, so Netanjahu – auch wenn er „hocherfreut wäre, wieder nach Deutschland zu kommen“, am besten im Rahmen deutsch-israelischer Regierungskonsultationen. Doch das gehe wegen des „verrückten“ Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) derzeit nicht.

Unmittelbar nach dem Wahlsieg der Union im Februar hatte Merz einen Berlin-Besuch Netanjahus ins Gespräch gebracht. Das hatte ihm scharfe Kritik eingebracht, weil der IStGH Israels Regierungschef wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazastreifen sucht. „Wenn es die Zeit erlaubt, dann würde ich gegebenenfalls eine solche Einladung aussprechen, aber das ist zum jetzigen Zeitpunkt für uns beide kein Thema“, stellt Merz in Israel klar.

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Letzte Aktualisierung: 08. Dezember 2025