Talk of the town
Erscheinungsdatum: 30. Oktober 2025

Resilienz der politischen Mitte: Ein kleiner Fingerzeig aus Den Haag, eine große Empfehlung aus Kopenhagen

Noch ist nicht klar, wie es in den Niederlanden weitergeht. Aber das Ergebnis der Wahl dort könnte zu einem Fingerzeig auch für Deutschland werden. Es deutet an, wie die politische Mitte in einer durch Extremisten bedrohten Demokratie neue Kraft gewinnen kann: Indem sie sich nicht mehr allein auf die Gefahren und Provokationen durch die Rechtsextremen fixiert, sondern ihre Liberalität, ihre Überzeugungen und ihre Kompromissfähigkeit wieder ins Schaufenster stellt. Was, wenn das mehr wäre als eine politische Laune des Augenblicks? Wenn es einen Weg andeutete, der auch für Deutschland ein Game-Changer werden könnte?

Vertrauen in die Demokratie in Dänemark

Ein Blick nach Kopenhagen zeigt, was das heißen würde. Was es abverlangt und was es ermöglicht. Über die vergangenen Jahrzehnte ist in Dänemark eine politische Kultur entstanden, die nicht die Ränder stärkt, sondern die politische Mitte enger verbindet. Dazu gehört das Grundverständnis und die eingeübte Praxis, in zentralen Fragen – ob Rente, soziale Fürsorge oder Landesverteidigung – Beschlüsse gemeinsam zu verhandeln und zu beschließen. Dabei entstehen verbindlich Verträge, sogenannte „forlig“, denen sich die beteiligten Parteien auch nach einem Regierungswechsel verpflichtet fühlen und die deshalb in aller Regel auch nicht gebrochen worden.

Voraussetzung dafür: Regierung und Opposition müssen ihre Rollen anders verstehen als in Deutschland. Keine Regierung in Kopenhagen kann mit der Botschaft antreten, sie werde ab jetzt alles ändern, weil die Vorgänger sowieso alles falsch gemacht hätten. Und keine Opposition, die ernst genommen werden will, kann in Bausch und Bogen verteufeln, was die Regierung macht, weil auch sie fürs große Ganze eine Mitverantwortung trägt. Bei den großen Fragen sitzen sie in einem Boot. Das schließt nicht aus, sich in der Sache zu kritisieren. Aber persönliche Herabsetzungen und harsche Schuldzuweisungen werden von den Wählern nicht belohnt, sondern abgestraft.

Im Mittelpunkt steht deshalb nicht die Abgrenzung, sondern die Suche nach Lösungen. Langjährige Beobachter wie Moritz Schramm, Associate Professor an der Süddänischen Universität in Odense und Vorsitzender der Dänisch-Deutschen Gesellschaft mit Sitz in Kopenhagen, sehen darin den größten Gewinn im Vergleich zur Lage in Deutschland. „Alle demokratischen Parteien müssen miteinander sprechfähig sein. Sie müssen bei allen Meinungsverschiedenheiten mit Respekt übereinander reden; und sie müssen nicht nur selbst kompromissfähig sein, sondern diese Kompromisse hinterher auch gemeinsam vertreten.“ Es ist, verglichen mit Deutschland, ein anderes kulturelles Selbstverständnis. „Man könnte auch sagen, dass es das eigentliche Verständnis von Demokratie ist“, so Schramm, „kontrovers in der Sache, aber gemeinsam bei der Kompromisssuche.“

Einzige Schattenseite: Die Mitte und ihr Konsens sind kein fixer Punkt, sondern können sich verschieben. Auch Schramm findet das nicht immer angenehm. „Aber es entspricht eben auch der kollektiven Reaktion auf große Herausforderungen, sei es die Migration, sei es eine neue Sicherheitslage.“ Außerdem habe das Ganze zugleich einen großen Vorteil: „Wo in anderen Ländern immer tiefere Gräben entstehen und die Ränder wachsen, bleibt man hier zusammen.“ Ein zweiter Vorteil kommt für ihn noch dazu: „Hier kann man nicht drum herumreden. Wer wirklich Lösungen sucht, muss die Fakten kennen und benennen.“

Für Deutschlands Parteien der Mitte hieße das: Sie müssten ihr Verhalten vor und nach Wahlen radikal überdenken. Und zwar alle. Keine scharfen Angriffe mehr. Kein: Wir nehmen alles zurück, wenn wir endlich an der Macht sind. Das klingt noch fremd, wenn man sich die Töne des letzten Wahlkampfs anhört. Aber es wäre möglich, wenn alle ihr Verhalten überdenken. An bestimmten Orten findet es sogar schon statt. Nicht unter dem sonst üblichen Getöse, sondern dort, wo Politiker der Auseinandersetzung bewusst die Schärfe nehmen oder nehmen müssen. Mario Voigt in Thüringen ist dafür ein Beispiel. Und noch mehr Michael Kretschmer in Dresden. Noch im Wahlkampf wetterte er gegen Mitbewerber. Seitdem er aber eine Minderheitsregierung führt, muss er die Aggression beerdigen, weil er für wichtige Entscheidungen wie den Haushalt Partner benötigt. Dass er das ohne große Aufregung geschafft hat, ist bislang fast komplett untergegangen.

Was nur, wenn das nicht die Ausnahme bleibt, sondern häufiger passiert? Im kommenden Jahr stehen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt Wahlen an, die in sächsischen Verhältnissen enden können. Wahrscheinlich mal für die SPD, mal für die CDU, die mehr als nur einen Partner jenseits der AfD brauchen. Und alle können jetzt überlegen, ob und wie sie sich darauf vorbereiten. Die Zufriedenheit mit der Demokratie, das zeigen Zahlen aus Dänemark, muss unter einer neuen Kompromissfähigkeit nicht leiden. Sie nimmt sogar zu.

Vertrauen in die Demokratie in Deutschland

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Letzte Aktualisierung: 30. Oktober 2025

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