Kriege, Konflikte und nationale Alleingänge bedrohen die globale Sicherheit auch abseits militärischer Gefahren. Jürgen Stock, von 2014 bis 2024 Generalsekretär von Interpol, beobachtet, dass die Organisierte Kriminalität „Unsicherheiten, Verwundbarkeiten“ und den „Rückgang der internationalen Kooperation“ ausnutze, um sich weiter zu professionalisieren. Die „gefährlichsten OK-Gruppierungen“ diversifizierten sich immer mehr – in Sicherheitskreisen ist die Rede von Polykriminalität.
Die OK nutzt alle Spielräume und greift um sich wie noch nie. „Wir haben sicherlich eine so nie dagewesene Bedrohung der nationalen Sicherheit auch hier in Europa durch Organisierte Kriminalität, die überall auf der Welt gefährlicher, mächtiger, einflussreicher wird“, sagte Stock Table.Briefings. „Durch brutale Gewaltanwendung oder durch Infiltration des privaten Sektors und auch der Administration.“
Eine besondere Bedrohung stellt technologiegestützte Kriminalität dar. Sie greife weltweit kritische Infrastrukturen an – auch in Deutschland. Stock spricht von einer „fortdauernden Pandemie durch Cyberkriminalität, also etwas, was ich in meinen über 40 Jahren Polizeilaufbahn so nie gesehen habe“. Kein Staat könne diesen Bedrohungen allein begegnen. Dass im Technologiewettbewerb KI-Produkte auf den Markt geworfen würden, deren Folgen für die internationale Kriminalität noch nicht abschätzbar seien, besorge ihn.
Autoritäre Entwicklungen in vielen Staaten und eine schwindende Zusammenarbeit auf der Welt verschärfen die Lage. Der Sicherheitsexperte beobachtet einen „Vertrauensverlust in der internationalen Gemeinschaft“. Die Instabilität, die mit dem Angriffskrieg Russlands oder dem Nahostkonflikt einhergeht, helfe organisierten Strukturen, sich weiter auszubreiten; etwa bei Waffenhandel, Umweltkriminalität, Menschenhandel oder Schleusung. „Wir haben uns aus diesen kontroversen politischen Themen rauszuhalten“, so Stock. Die „Kunst“ in der Zusammenarbeit mit den 196 Interpol-Mitgliedsstaaten bestehe darin, „sicherzustellen, dass ein Regelwerk existiert“: Ausgerichtet an der Deklaration der Menschenrechte und modernen Datenschutzstandards.
Interpol dränge darauf, dass „man sich zu 100 Prozent an dieses Regelwerk hält, dass es angewendet und unter Umständen auch sanktioniert wird“. Viel Polizeidiplomatie finde im Hintergrund statt: Mitglieder überzeugen, dass sie eine starke Interpol brauchen, um globalen Bedrohungen zu begegnen. OK-Gruppierungen kennen die Schwachpunkte internationaler Polizeiarbeit genau und nutzten sie aus. Um dem entgegenzuwirken, müssten Mitglieder einander ausreichend vertrauen, um sensible Informationen auszutauschen.
Allerdings hat Interpol auch selbst Misstrauen geschürt, vor allem durch seine teils fragwürdige Finanzierung. Nachdem bis 2011 fast ausschließlich Mitgliedsbeiträge die „Weltpolizei“ finanzierten, öffnete Stocks Vorgänger das Modell; infolgedessen zahlten Pharmakonzerne, FIFA oder Phil Morris mitunter mehr als ein Viertel des Budgets. Daraus seien Grenzen für die unabhängige Ermittlungsarbeit resultiert, räumt Stock ein. Vor seiner Wahl warb er für einen Stopp der privaten Finanzierung, „um sicherzustellen, dass der private Sektor, aber eben auch Mitgliedsstaaten, nicht in der Lage sind, durch solche Zuwendungen die Agenda von Interpol zu bestimmen“. Die Mitgliedsbeiträge wurden beträchtlich erhöht, sie tragen inzwischen wieder den Großteil. Skepsis bezüglich der Unabhängigkeit Interpols bleibt gleichwohl bis heute.