Talk of the town
Erscheinungsdatum: 03. Oktober 2025

Der Ruck des Kanzlers: Ein Plädoyer für die freiheitliche Demokratie – und eine große Bitte an alle: Macht mit, seid mutig und beerdigt den Pessimismus

Bundeskanzler Friedrich Merz im Portrait bei seiner Rede beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit 2025, Saarbruecken, 03.10.2025

Bis jetzt hat alles nicht gereicht. Nicht seine Reden, nicht seine Interviews, nicht seine Auftritte im Parlament und auch nicht die Pressekonferenzen. Die Stimmung ist schlecht, die Laune im Land bleibt mies und die Umfragen für den Kanzler und sein Kabinett sind es auch. Daraus ist mittlerweile bei ihm, aber auch bei vielen anderen der Eindruck erwachsen, dass Frust und Pessimismus wie eine Betonplatte über dem Land liegen – und jeden Neuanfang, jeden Aufbruch nahezu unmöglich machen.

Dem will sich der Kanzler entgegenstellen. Und so hat sich Friedrich Merz entschieden, zum 35. Jahrestag der Einheit eine Art Ruck-Rede 2.0 zu halten. Mit vorneweg nachdenklichen Sätzen über das Gelungene und das bislang Fehlende 35 Jahre nach der Einheit. Danach aber kommt er sehr bald schon zu dem, was er sich eigentlich vorgenommen hat: „Lassen sie uns eine gemeinsame Kraftanstrengung unternehmen für eine neue Einheit in unserem Land.“ 

Merz’ zentrale Fragen: „Wie können wir unsere innere Balance wiederfinden? Wie können wir unsere innere Einheit als Land stärken?“ Das Land, so Merz, erlebe einen entscheidenden Moment in seiner neueren Geschichte. Die Strahlkraft des Westens nehme ab; der Einfluss in der Welt sinke. „Neue Allianzen von Autokratien bilden sich gegen uns und greifen die liberale Demokratie als Lebensform an.“ Die freiheitliche Lebensweise werde attackiert, von außen wie von innen. Dazu komme eine technologische Revolution, die nur mit dem Beginn des Industriezeitalters vergleichbar sei. Und eine wirtschaftliche Schwäche, die verstärkt werde durch Zollschranken und neue Egoismen. 

Merz’ Schlussfolgerung: „Wir müssen heute begreifen: Vieles muss sich ändern, wenn Vieles so gut bleiben oder gar besser werden soll, wie es in unserem Land bisher ist.“ Das Land sei wirtschaftlich schwächer geworden. Es sei politisch gespalten, auch wegen der jahrelangen irregulären Migration. Und deshalb seien die sozialen Versprechen, die man sich gegeben habe, „heute so viel schwerer zu erfüllen als sie es früher waren.“ 

Merz’ große Hoffnung: Dass das Land und seine Menschen „diesen nicht leichten Moment“ nicht als Bedrohung erleben, sondern als Chance sehen, „die wir gemeinsam beherzt ergreifen“. Und um zu erklären, warum das aus seiner Sicht sinnvoll und richtig, ja zwingend ist, definiert der Kanzler, warum für ihn dieses Land so wertvoll ist und wofür sich das Kämpfen lohnt. Seine vier zentralen Punkte: Das Glück der Demokratie, der Schutz durch den Rechtsstaat, die Wiedererlangung wirtschaftlicher Stärke und der tiefe Sinn, europäisch zu denken und zu handeln.  

Merz’ stärkster Moment: Sein Plädoyer für eine freiheitliche Demokratie. Eine, in der wirklich offen diskutiert wird; eine, in der man alle anderen Meinungen aushält; eine, in der niemand mal eben ausgegrenzt wird; eine, die ihre Stärke daraus zieht, andere Positionen und Ideen zuzulassen. „Aus diesem Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst, in dem alles zur Sprache kommt und alles gehört wird, wächst unsere gemeinsame Zukunft. Das ist die Wirklichkeit einer lebendigen Demokratie!“ Ja, das laufe nicht immer wohlgeordnet ab, nicht immer gesittet und auch nicht immer fair. Aber: „Gerade in seiner Vielstimmigkeit, und gerade auch in seiner Leidenschaft, ist dieses Gespräch die Voraussetzung für Fortschritt. Für Veränderung zum Besseren.“  

Merz’ entscheidender Wunsch: Deutschland soll sich militärisch, wirtschaftlich und sozial neue Kraft geben. Es müsse angesichts einer multiplen Bedrohungslage wieder lernen, seine Freiheit zu verteidigen. Zum einen militärisch, was auch den freiwilligen Wehrdienst mit einbeziehe. Zum zweiten wirtschaftlich, indem es sich auf seine Stärken in der Forschung, in der Technik, im Zusammenwirken von Unternehmen und Gewerkschaften besinne. Und zum dritten sozial – was dann wieder besser möglich werde, wenn die Rückkehr zu ökonomischer Kraft geschafft sei.  

Merz’ abschließende Bitte: Alle müssten sich mehr anstrengen, damit alte Stärken und neue Chancen auch erreicht werden könnten, daran „werde kein Weg vorbeiführen“. Deutschland müsse endlich aus dem Misstrauensmodus in einen Vertrauensmodus kommen. Zum Beispiel durch weniger Regulierung und Kontrolle. Daraus könne auch ein neuer starker Sozialstaat erwachsen. Seine Bitte: „Trauen wir uns solche Veränderung zu. Lassen wir uns nicht von Ängsten lähmen.“ Die Deutschen dürften sich mehr zutrauen, statt in Negativität zu verharren. „Dafür haben wir keine Zeit mehr.“  

Ob das jetzt hilft, um das Steuer rumzureißen? Fürs Land wie für die Regierung? Bislang hatte Merz wenig Glück damit, die Leute, die seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten ein festes Bild von ihm haben, von neuen Wegen, neuen Ansätzen, gar Verzicht auf dem Weg zu neuer Stärke zu überzeugen. Zumal er heute vor allem an die Menschen appelliert hat und nicht wirklich ins Detail gegangen ist, vielleicht gar nicht gehen konnte, solange zentrale Fragen in der Koalition noch gar nicht geeint sind.  

Deshalb blieb es vor allem bei einem großen Appell an alle. Einem Appell, der für ihn nur der Start in eine größere Öffentlichkeitsoffensive ist. Merz wird sich am Sonntagabend den Fragen von Caren Miosga stellen und einen Tag später bei Pinar Atalay auftreten.

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Letzte Aktualisierung: 03. Oktober 2025

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