Noch weiß man nicht, ob es ein Unfall war – oder Absicht. Die Tatsache aber, dass sich im Koalitionsvertrag zum Paragraf 218 eine andere Version findet als im Abschlussdokument der damaligen Arbeitsgruppe (Table.Briefings berichtete), erschwert Friedrich Merz und der Union die Lösung eines Konflikts, den sie so gerne loswerden würden: den um die Richterkandidatin Frauke Brosius-Gersdorf.
Der Fall legt eine Schwäche der Unionsspitze offen, die tiefer reicht. Jedenfalls wenn man erfahrenen Mitgliedern der Unionsfraktion glaubt, die seit längerem eine gedankliche Enge beklagen. „Wir schauen nicht mehr auf die Dinge selbst, wir leben und denken nur noch in Machtfragen“, klagt ein Abgeordneter, der seit Jahrzehnten in der CDU Verantwortung trägt. „Wir argumentieren und debattieren nicht in der Sache, sondern reden nur über Geschlossenheit und Loyalität“, sagt ein Zweiter.
Diese Kritiker wollen niemanden stürzen, sondern in der CDU (und in der Union) eine neue Nachdenklichkeit anstoßen. Sie verweisen darauf, dass im Streit um Brosius-Gersdorf machttaktische Fragen jede Debatte über Fähigkeiten und Inhalte überlagert hätten. Deshalb sei man der Wucht der aufziehenden Kritik fast wehrlos ausgesetzt gewesen – und habe sich in höchster Not auf einen hochumstrittenen „Plagiatsjäger“ berufen müssen.
Hinzu kommt, dass die Union inzwischen als Partei erscheint, die drei Frauen in wichtigen Ämtern öffentlich desavouiert hat. Gemeint ist der Umgang mit der Bundeswahlleiterin Ruth Brand, der Sonderbeauftragten Margaretha Sudhof und nun mit Brosius-Gersdorf. Die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann hat zuerst den Blick darauf gelenkt – und damit eine ähnliche Welle ausgelöst wie jene, mit der Brosius-Gersdorf verhindert werden sollte. Nun könnte der Union Kritik aus Reihen der Opposition einerseits egal sein. Andererseits wirken Haßelmanns Auftritte (etwa der bei Markus Lanz) mit solcher Wucht in die SPD hinein, dass die Parteiführung um Bärbel Bas und Lars Klingbeil kaum mehr klein beigeben kann, ohne in der SPD heftigste Proteste auszulösen.
Außerdem schauen alle noch einmal auf das Machtzentrum der Union. Als Markus Söder zu Beginn der Koalition stolz ein Bild der Sechser-Runde postete, wurde das auch in den eigenen Reihen kopfschüttelnd belächelt. Inzwischen aber setzt sich der Eindruck fest, dass es eben doch Konsequenzen hat, wenn eine Führung nur aus Männern aus dem alten Westdeutschland besteht. Neben Merz und Söder sind das aktuell Jens Spahn, Carsten Linnemann, Thorsten Frei und Martin Huber. Der frühere Bundespräsident Christian Wulff hat die Folgen benannt: 85 Prozent der Bevölkerung würden damit gar nicht abgebildet; das könne auf Dauer nicht gut gehen, sagte Wulff bei Maischberger.
Der Kanzler hat den Umgang mit Brosius-Gersdorf am vergangenen Freitag bei seiner Sommer-Pressekonferenz zwar klar verurteilt. Zudem hatte ebenjenes Machtzentrum größtenteils explizit dafür geworben, die Kandidatin zu wählen. Und doch fällt auf, dass nun schon zum dritten Mal eine Frau, deren Positionen Teilen der Union unlieb sind, dafür öffentlich weit über das normale Maß hinaus kritisiert wird – nicht nur inhaltlich, sondern auch als Person.