Die Kandidatin und der Koalitionsvertrag: Warum der Streit um Frauke Brosius-Gersdorf auch etwas mit den schwarz-roten Schlussabmachungen zu tun hat
Von Stefan Braun und Sara Sievert
Es gibt Dinge, die sind in der Union so sicher, wie das Amen in der Kirche. Dazu gehört die Tatsache, dass es unter einer Unions-geführten Bundesregierung eigentlich keine Liberalisierung des Paragrafen 218 geben sollte. Die Causa Brosius-Gersdorf hat einmal mehr gezeigt, wie heikel das Thema Schwangerschaftsabbruch für Konservative bleibt.
Trotzdem befindet sich im schwarz-roten Koalitionsvertrag eine Passage, die der Union weh tun kann. Sie deutet nicht nur an, dass SPD und Union den Paragrafen 218 doch nochmal aufschnüren. Sie scheint auch mit einer entscheidenden Position von Frauke Brosius-Gersdorf zum Schwangerschaftsabbruch übereinzustimmen. Die Juristin hatte vergangene Woche in einem Interview bei Markus Lanz selbst darauf hingewiesen. Auf Seite 104 steht unter dem Punkt „Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen“: „Wir wollen Frauen, die ungewollt schwanger werden, in dieser sensiblen Lage umfassend unterstützen, um das ungeborene Leben bestmöglich zu schützen. Für Frauen in Konfliktsituationen wollen wir den Zugang zu medizinisch sicherer und wohnortnaher Versorgung ermöglichen. Wir erweitern dabei die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus. Zudem werden wir die medizinische Weiterbildung stärken.“
Eine Vereinbarung, die es nach Informationen von Table.Briefings erst in letzter Minute in den Koalitionsvertrag geschafft hat. Und die jetzt, zumindest in den Reihen der CDU, für Ärger sorgt. Eigentlich hatte man sich, so heißt es, in der Arbeitsgruppe für Familie und Frauen vorher auf eine andere Formulierung geeinigt: „Wir wollen Frauen, die ungewollt schwanger werden, in dieser sensiblen Lage umfassend unterstützen, um auch das ungeborene Leben bestmöglich zu schützen. Sie sollen die notwendige Beratung und Hilfe bekommen, um eine selbstbestimmte Entscheidung treffen zu können. Dort, wo die Hilfsangebote nicht ausreichen, wollen wir Verbesserungen anstoßen. Auch die Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen werden wir kurzfristig auf Basis wissenschaftlicher Empfehlungen verbessern. Wir bauen Angebote für medizinische Weiter- und Fortbildung im Bereich Schwangerschaftsabbrüche aus.“
Der entscheidende Unterschied: die Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Bislang gibt es die bei Schwangerschaftsabbrüchen nur in Ausnahmefällen. Laut Sozialgesetzbuch V übernehmen die Kassen die ärztliche Beratung, die ärztlichen Behandlungen mit Ausnahme der Vornahme des Abbruchs und die Versorgung mit Arznei-, Verband- und Heilmitteln – nicht aber den Abbruch selbst. Es sei denn, er gilt als medizinisch notwendig. Grund dafür ist die aktuelle Rechtslage, dass Schwangerschaftsabbrüche zwar straffrei, aber rechtswidrig sind. Und eigentlich wollte die Union, dass das so bleibt. Wie die vereinbarte Kostenübernahme der Kassen nun zustande kommen soll, ohne den Paragrafen 218 entsprechend anzupassen und den Schwangerschaftsabbruch rechtskonform zu machen, ist unklar.
Für Friedrich Merz könnte das noch zu einem größeren Dilemma werden. Eigentlich war man sich in der Union einig: Paragraf 218 sollte tabu bleiben. In den Koalitionsverhandlungen aber waren es Merz, Markus Söder und Lars Klingbeil, die zum Schluss noch einmal die finale Fassung des Koalitionsvertrages vorgelegt bekamen und absegneten. War allen die kurzfristige Änderung bewusst? In den Reihen der Union zweifelt mancher daran.
Für den Kanzler scheint die Abmachung deshalb jedenfalls nicht weniger valide. Bei seiner Sommer-Pressekonferenz am Freitag sagte Merz auf die Frage, ob er nach wie vor dahinter stehe: „Was im Koalitionsvertrag verabredet worden ist, soll kommen. Da macht niemand Abstriche.“ Und Merz ging sogar noch einen Schritt weiter: „Welche Rechtsfolgen das hat, möglicherweise auch auf den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches, kann ich jetzt nicht abschließend beurteilen.“
Dennoch bleiben Fragen. Hat die SPD die Union hier hinters Licht geführt und in letzter Minute etwas am Koalitionsvertrag geändert? Haben die Spitzenverhandler der Union nichts gemerkt? Das wäre entweder ein schwerer Vertrauensbruch –oder die Beteiligten haben die Brisanz dieser Änderung nicht umrissen. Ebenso unklar bleibt, was das nun für den Paragrafen 218 heißt. Unter anderen Umständen hätten Union und SPD die Sache im Laufe der Legislatur womöglich lautlos durch den Bundestag bringen können. Jetzt ist die Debatte jedoch so aufgeladen und zum Kulturkampf geworden, dass ein stilles Abarbeiten an dieser Stelle nicht mehr möglich erscheint.