Talk of the town
Erscheinungsdatum: 11. August 2025

Kanzlerschaft und Union: Wie viel Merkel steckt in Merz?

Angela Merkel und Friedrich Merz bei einer Feier zum 70. Geburtstag der früheren Kanzlerin im September 2024

Das hätte sich Friedrich Merz nicht träumen lassen. Aber nach nur wenigen Monaten im Amt – diese Woche vollendet er die ersten 100 Tage – schallt ihm schon ein Vorwurf entgegen, für den Angela Merkel einige Jahre gebraucht hat. Er gebe die DNA der Union preis, heißt es. Er verrate ihre Grundüberzeugungen, und das auch noch im Alleingang. Bei Merkel, das kann man im Rückblick festhalten, hatte das mancher in der Union ohnehin befürchtet; bei Merz aber wähnten sich alle in der Sicherheit, dass so etwas mit ihm nie passieren würde. Deshalb ist der Schock unter eingefleischten Christdemokraten heute noch größer als bei Merkel damals.  

Für Merz ist das eine gefährliche Entwicklung. Er ist nicht als gewöhnlicher CDU-Politiker im Herbst 2018 auf die Bühne zurückgekehrt, sondern hat vom ersten Moment an davon gelebt, als Antithese zu Merkel das Kanzleramt erobern zu wollen. Er wollte alles anders machen, er wollte alles besser machen. Kaum aber ist er dort angekommen, wird er vom Partei- zum Staatspolitiker. Und er sieht sich gezwungen, die im Wahlkampf noch versprochene klare Kante zu Gunsten einer Politik aufzuweichen, in der nicht selten andere Kriterien gelten als die der reinen Lehre, noch dazu der reinen Lehre der Christdemokraten. Stellt sich also die Frage: Wie viel Angela Merkel steckt wirklich im Kanzler? 

Beim Blick auf Israel und Merkels Rede von der deutschen Staatsräson könnte man meinen: eigentlich gar nichts. Bei genauerem Hinsehen allerdings ist auch ein anderer Schluss möglich. Ausgerechnet Merz’ wichtigster außenpolitischer Berater Jacob Schrot nämlich ist bei Merkels wichtigstem außenpolitischen Berater Christoph Heusgen zur Schule gegangen. Und zwar in einer Phase zwischen 2019 und 2021, als Heusgen (und Merkel) die Staatsräson niemals infrage gestellt hätten, aber zugleich einen immer rücksichtsloseren Benjamin Netanjahu erlebten. Heusgen hat in der letzten Phase seiner Amtszeit kein Hehl daraus gemacht, dass er Netanjahus Rigidität für ein riesiges Problem auf dem Weg zu einem gerechten Frieden betrachtete. Und er gehörte zu jenen, die immer präziser zwischen der tiefen Solidarität mit Israel und der politischen Beziehung zu einer israelischen Regierung unterscheiden. 

Wie viel davon jetzt in die Entscheidung des Kanzlers eingeflossen ist, können am Ende nur Schrot und Merz beantworten. Aber dass sie exakt diese Trennung jetzt vertreten, klingt mindestens wie eine Brücke zu früheren Regierungen. Eine zweite, eher unerwartete Parallelität zu Merkel kommt hinzu: Wie sie in der Flüchtlingskrise hat Merz jetzt eine auch von Emotionen beeinflusste Entscheidung getroffen. Es gibt Mitglieder seiner Regierung, die eindrücklich schildern können, wie der Kanzler seinen Beschluss auch mit den dramatischen Bildern von Zerstörung und Hungernot begründet. Und wie er am Sonntagabend in der ARD die Botschaft unters Volk brachte: Hier stehe ich und kann nicht anders. Nichts anderes hatte Merkel im Spätsommer 2015 ausgestrahlt.  

Wie Merkel auf all das schaut? Das weiß nur sie selbst wirklich. Aber man kann ahnen, dass sie ihm den Schlamassel, in dem er gerade steckt, durchaus gönnt. Und dass sie sein Verhalten als späte Bestätigung eigenen Handelns verstehen könnte. Mit einem Mal macht ihr einst größter Widersacher, was er ihr so lange und immer wieder vorwarf: Er entscheidet nicht nach Parteilinie, sondern nach Gefühl, Überzeugung – und Stimmung im Land. Für Merkel hat das viele Jahre gut funktioniert. Für die CDU irgendwann nicht mehr. Darum sind viele in der Partei gerade in Alarmstimmung. 

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Letzte Aktualisierung: 11. August 2025

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