Table.Standpunkt | AfD
Erscheinungsdatum: 19. Oktober 2025

Standpunkt: Die Fehlschlüsse in der Debatte um die Brandmauer

Paul Jürgensen und Wolfgang Schroeder

Die Forderung, die strikten Grenzen zur AfD zu überwinden, beschäftigt die Union. Doch wer glaubt, so die politische Blockade zu lösen, verkennt Wesen und Zweck der Brandmauer. Es geht nicht um rechts oder links, sondern um den Schutz der Republik.

Die jüngsten Wortmeldungen von Andreas Rödder, Peter Tauber und Karl-Theodor zu Guttenberg zur sogenannten Brandmauer der Union haben die Debatte um die parteipolitische Auseinandersetzung mit der AfD angefeuert. Sie fordern, die Strategie der Abgrenzung zu überdenken und durch ein System „roter Linien“ zu ersetzen – also durch die Definition von Bedingungen, unter denen eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht grundsätzlich ausgeschlossen wäre. Ihr Argument: Die Brandmauer schade der Union mehr, als sie nütze. Doch dieses Argument beruht auf drei Fehlschlüssen – einem strategischen, einem empirischen und einem begrifflichen.

1. Das Dilemma im Umgang mit der AfD

Es ist unbestritten: Im Umgang mit der AfD steckt die demokratische Mitte in einem Dilemma. Wer sie ausgrenzt, riskiert ihre Viktimisierung und fördert ihre Selbstinszenierung als Opfer des „Systems“. Wer sie einbindet, trägt zu ihrer Normalisierung bei – und stärkt sie ebenfalls. Dieses Spannungsfeld betrifft zwar vor allem die Union, doch es ist kein exklusives Unionsproblem. Es ist eine geteilte Verantwortung, die auch SPD und Grüne in unterschiedlicher Weise betrifft.

Wichtig ist dabei, das Dilemma als solches auszuhalten. Es lässt sich nicht auflösen, ohne Schaden anzurichten. Die Erwartung, eine politisch oder kommunikativ perfekte Strategie könne die AfD „neutralisieren“, ist illusionär. Demokratie ist kein System der makellosen Lösungen, sondern eines der verantwortlichen Zumutungen.

2. Die Fehlinterpretation der Brandmauer

Rödder und seine Mitstreiter missverstehen die Funktion der Brandmauer. Sie verkennen, dass diese keine taktische Maßnahme ist, um die AfD elektoral zu verkleinern. Sie ist vielmehr Ausdruck der politischen Selbstbehauptung einer wehrhaften Demokratie.

Die Brandmauer soll verhindern, dass eine Partei, die offen gegen Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und das Demokratieprinzip agitiert, politischen Einfluss auf Regierungsentscheidungen erhält. Sie ist also ein Schutzmechanismus – keine Strategie zur Wählerstimmenmaximierung. Sie kauft der liberalen Demokratie Zeit: Zeit, um gesellschaftliche Ursachen der Radikalisierung zu bearbeiten, ohne dass die Radikalisierung selbst Teil der Exekutive wird.

Dass die Brandmauer die AfD bislang nicht geschwächt hat, ist kein Beweis für ihre Unwirksamkeit. Ebenso wenig folgt daraus, dass ihre Aufweichung eine Schwächung der AfD bewirken würde. Im Gegenteil: Internationale Erfahrungen zeigen, dass die Einbindung rechtspopulistischer Parteien deren Aufstieg meist beschleunigt und zugleich die konservativen Parteien schwächt. Österreich ist dafür das warnende Beispiel, wie die Konrad-Adenauer-Stiftung jüngst in einer Studie dargelegt hat.

Die Brandmauer schützt also nicht nur die Demokratie, sie ist auch ein Angebot an die AfD. Sie formuliert eine Bedingung: Die Partei könnte Teil der normalen politischen Landschaft werden, wenn sie jene Prinzipien anerkennt, gegen die sie heute kämpft – die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Unabhängigkeit des Rechtsstaats, die Legitimität pluraler Demokratie.

3. Der Fehlschluss über das politische Koordinatensystem

Die dritte Fehlannahme betrifft die Vorstellung, es handele sich bei dieser Auseinandersetzung um ein Gefecht zwischen „rechts“ und „links“. Tatsächlich verläuft die entscheidende Linie zwischen Parteien, die die verfassungsrechtlichen Grundfesten der Republik schützen, und einer Partei, die sie zerstören will.

Die These, Deutschland habe „rechte Mehrheiten“, die von einer „linken Politik“ ausgebremst würden, ist in zweierlei Hinsicht analytisch falsch. Erstens existiert eine solche Mehrheit nur, wenn man konservative und rechtsradikale Stimmen künstlich addiert – also Kräfte, die auf dem Boden der Verfassung stehen, mit solchen, die sie infrage stellen. Gerade deshalb sollte die Union in dieser Debatte klar definieren, was sie unter „rechts“ versteht – so klar, wie sie dies bei Protestbewegungen gegen die AfD zu Recht auch von progressiven Kräften verlangt. Zweitens ist auch der Vorwurf einer „linken Politik“, die den Willen der vermeintlichen Mehrheit missachte, empirisch kaum haltbar: Weder die Bürgergeldreform noch die aktuelle Migrationspolitik lassen sich überzeugend als genuin „links“ bezeichnen.

Eine Union, die dieses Argumentationsmuster übernimmt, riskiert, die Grenzen zwischen demokratisch und illiberal zu verwischen – und damit das historische Fundament ihrer eigenen politischen Identität zu untergraben.

4. Die Gefahr politischer Erpressung

Die Position von Rödder, Tauber und Guttenberg folgt letztlich einer gefährlichen Logik: „Friss oder stirb“. Entweder SPD und Grüne akzeptieren eine Union-Politik ohne Abstriche – oder die Union öffnet sich nach rechts. Eine solche Haltung würde den demokratischen Kompromissmechanismus, der die Bundesrepublik über Jahrzehnte stabilisiert hat, aushebeln.

Kompromissfähigkeit war nie ein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck republikanischer Reife. SPD und Union stehen gleichermaßen vor der schwierigen Aufgabe, sich zugleich zu profilieren und zu einigen. Dass beide Seiten dabei Fehler machen – man denke an die Debatten um Wehrpflicht oder die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts– ist kein Grund, den institutionellen Rahmen des Kompromisses infrage zu stellen. Auch die SPD hat in den 2010er-Jahren auf rechnerisch mögliche linke Mehrheiten verzichtet, um diesen Rahmen zu wahren.

5. Die eigentliche Aufgabe

Bleibt die Frage: Wie kann die AfD tatsächlich geschwächt werden? Vielleicht liegt die Antwort darin, dass weder Einbindung noch Ausgrenzung den gewünschten Effekt haben. Möglicherweise kann der Kampf gegen die AfD nicht im Kampf gegen die AfD gewonnen werden.

Das Fundament ihres Erfolgs ist der gesellschaftliche Niedergangsdiskurs – das Gefühl, Deutschland befinde sich auf dem absteigenden Ast, politisch, wirtschaftlich, kulturell. Wer diesen Diskurs durchbrechen will, braucht kein Taktieren, sondern eine Zukunftserzählung. Eine große Koalition der Verantwortung – im besten Sinn – könnte diese Erzählung liefern, wenn sie den Mut zu einer echten Reformagenda aufbringt: in Sozialstaat, Migration, Infrastruktur, Sicherheit und Wirtschaft .

Die Brandmauer ist kein Dogma, sie ist die demokratische Selbstbehauptung in Zeiten der Versuchung. Sie schützt nicht nur vor der AfD, sondern möglicherweise davor, selbst zu werden wie sie.

Paul Jürgensen ist Grundsatzreferent bei der Berliner Denkfabrik Progressives Zentrum und gilt als Experte für demokratische Innovationen und den Umgang mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus

Wolfgang Schroeder ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel und gilt als Experte für das politische System in Deutschland

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Letzte Aktualisierung: 20. Oktober 2025

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