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Ralf Südhoff: Wenn Humanitäre Hilfe zur interessengeleiteten Außenpolitik verkommt

Der Leiter des Berliner Thinktanks Centre for Humanitarian Action, Ralf Südhoff, beschreibt, wie die Bundesregierung in der vergangenen Woche die Idee der humanitären Hilfe begraben habe und ihre Finanzierung nun arabischen Staaten überlasst

RS
29. November 2025

Die Debatte kam der Einladung zu einer Beerdigung gleich. Und allen Krankheitssymptomen zum Trotz kam das dann doch überraschend: Wenn nicht noch eine wundersame Heilung eintritt, hat die Bundesregierung diese Woche Deutschlands Ära als geschätzter humanitärer Geber beendet – und die humanitäre Idee an sich schickten Bundestag und Auswärtiges Amt (AA) schon mal vorab ins Hospiz. Anders sind die Reden im Bundestag zum Bundeshaushalt 2026 und der am vergangenen Dienstag intern angekündigte größte Umbau des AA „seit Jahrzehnten“ kaum zu verstehen.

Was für eine Wende: Vor nur sechs Monaten verkündete die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag, die humanitäre Hilfe zu „stärken“ und eine „auskömmliche Finanzierung“ sicherzustellen. Ein halbes Jahr später steht im Bundeshaushalt 2026 ein finanzieller Kahlschlag gegenüber dem letzten Ampel-Haushalt 2024 um minus 52 Prozent zu Buche, und die zuständige Abteilung im AA wird gleich ganz aufgelöst.

Bezeichnenderweise hörten sich die Bundestagsauftritte der Regierungsvertreter zum AA-Haushalt an wie bizarre Grabesreden, bei denen man alle unschönen Fakten zum Ableben des Verstorbenen lieber weglässt. So hätte kein Oppositionspolitiker besser die Absurdität zusammenfassen können als Außenminister Johann Wadephul selbst, der die von ihm mitzuverantwortende radikal gekürzte Hilfe maximal paradox beklagte: „Wir haben in der Ukraine, wir haben in Gaza, wir haben im Sudan riesige Aufgaben, und ein Bundeshaushalt, der 180 Milliarden neue Schulden macht, muss auch berücksichtigen, dass im humanitären Bereich größte Aufgaben auf uns warten.“ Aber warum tut er es dann nicht? Warum akzeptiert ausgerechnet der Merz-Intimus und bekennende Christ Wadephul, dass seine humanitäre Hilfe auf den tiefsten Stand seit 2015 fällt, während die Zahl der Menschen in Not seitdem von 78 auf 305 Millionen gestiegen ist?

Die wahren Hintergründe und Motive beleuchtet sehr plakativ die diese Woche parallel im Ministerium angekündigte Umstrukturierung des Hauses. In deren Zuge wird vor allem eine neue Abteilung für Sicherheitspolitik aufgebaut, auf der anderen Seite die bisherige Abteilung „S“ (Stabilisierung) für alle krisenrelevanten Programme zur humanitären Hilfe, Krisenprävention und Stabilisierung kurzerhand aufgelöst.

Ihre Zuständigkeiten werden in einem noch völlig unklaren Prozess auf Länder- und UN-Referate im Haus verteilt, laut Mitarbeitenden kursieren gefühlt stündlich neue Organigramme. Rund 570 Stellen werden zudem im Haus abgebaut, und es ist bereits bekannt, dass dies vor allem die – auch gemäß AA Analysen – seit Jahren dramatisch unterbesetzten humanitären Referate treffen wird. Gerade unter den nicht verbeamteten Fachkräften, dem humanitären Herz im AA, herrscht seit Dienstag „Weltuntergangsstimmung“.

All das geschieht mit welchem Ziel? In einem internen Rundschreiben ist es klar benannt: den Grundstein zu legen „für eine noch stärker interessengeleitete Außenpolitik“.

Zur Erinnerung: Auch die Bundesregierung hat sich seit Jahrzehnten den humanitären Prinzipien verpflichtet, welche die einzigartigen Aufgaben und Werte der humanitären Hilfe definieren: Nach den Prinzipien von Menschlichkeit und Unparteilichkeit weltweit den Menschen zu helfen, die in größter Not sind. Humanitäre Hilfe ist aus guten Gründen so wertebasiert wie die Ärztin, die in der Notaufnahme Leben rettet und zuallererst denen helfen muss, die in größter Not sind – und nicht danach fragt, wer am meisten gesellschaftlichen Interessen dient als produktive Arbeitskraft, etwa als junger versus alter Mensch.

Gerade in dieser werteorientierten Hinsicht hatte sich Deutschland internationalen Umfragen zufolge einen herausragenden humanitären Ruf erworben. Der könnte nun in Zeiten muskelspielender Transaktionalisten in Washington, Peking oder Moskau ein echtes Asset sein .

Stattdessen ist die Malaise nun allgegenwärtig: Humanitäre Hilfe ist für die neue Bundesregierung ein interessenpolitisches Werkzeug wie jedes andere. So leistet Deutschland schon seit 2025 praktisch keine humanitäre Hilfe mehr in Lateinamerika oder Asien. Ihr Löwenanteil fließt in die geopolitisch relevantere Ukraine, wo zweifellos große Not herrscht, jedoch Nothilfe-Pläne auch in diesem Jahr international ohnehin mit am besten ausgestattet waren, während andernorts nur minimal Hilfsprogramme finanziert wurden, wie in Myanmar nur zu 17 Prozent, in Honduras (10) oder zur Bekämpfung von Venezuelas Flüchtlingskrise (8,5). Millionen von Männern, Frauen und Kindern in diesen sogenannten vergessenen Krisen, einst ein Schwerpunkt des AA, erleiden täglich diesen globalen Sieg von Interessen über Werten.

Jenseits der nun final ausgerufenen deutschen Interessenpolitik pur werden gebetsmühlenartig zwei weitere Argumente für eine Abkehr von einer angemessen finanzierten Hilfe genannt: Die deutsche Öffentlichkeit unterstütze diese nicht mehr in Zeiten knapper Kassen, und zudem leiste die Bundesregierung auch künftig als Topgeber weit mehr als sie müsste.

Tatsächlich? Interessanterweise beschwor Minister Wadephul in seiner Bundestagsrede zahlreiche Umfragen, welche unter anderem die militärische Hilfe für die Ukraine befürworten (59 Prozent) oder die Erhöhung der Verteidigungsausgaben (72 Prozent). Er verschwieg, dass laut Forsa vier von fünf Befragten die deutsche humanitäre Hilfe für wichtig erachten und unter anderem ein stärkeres Engagement im Kampf gegen den Hunger fordern.

Zugleich werden Abgeordnete und Minister nicht müde zu behaupten, Deutschland leiste doch mit nur noch einer Milliarde Euro Großes. Trotz eines 525 Milliarden Euro schweren Haushalts plus Sondervermögen sei dies etwa laut MdB Stefan Mayer (CSU) „nicht von Pappe“. Kriterien nannte er nicht. Wie aber sind die Zahlen wirklich?

Auch in der humanitären Hilfe macht es wenig Sinn, die global drittgrößte Wirtschaftsmacht mit den Andorras und Liechtensteins dieser Welt zu vergleichen – während bei allen anderen Fragen wie einem angemessenen Verteidigungsbeitrag (zwei, drei oder fünf Prozent vom Bruttoinlandsprodukt?) dieser selbstverständlich ins Verhältnis zur Wirtschaftskraft einer Nation gesetzt wird. Andernfalls wäre just ein Trump der größte humanitäre Held der Welt: Die USA wird 2025 mit rund drei Milliarden Dollar trotz Kürzungen von 80 bis 90 Prozent in absoluten Zahlen weiter der größte Geber bleiben.

Die Dimension seiner Kürzungen, die allein im Gesundheitsbereich bis 2030 nachweislich über 6.000 Menschen pro Tag das Leben kosten werden, macht sich an einer anderen Zahl fest: Nur noch 0,01 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNP) haben die USA als größte Wirtschaftsmacht der Welt noch übrig für die Ärmsten der Welt.

Und Deutschland? Landet in diesem Ranking in 2025 gerade noch unter den Top 20 – wenn es vermeintlich gut läuft und auch alle anderen Geber keinen weiteren Euro mehr berappen. Deutschland zahlt künftig nur noch 0,02 Prozent seines BNP für die humanitäre Hilfe weltweit (siehe Grafiken). Das im Koalitionsvertrag versprochene „auskömmliche Budget“, mit dem die Bundesregierung einen fairen Anteil an den humanitären Bedarfen tragen wollte, müsste nach CHA-Berechnungen dreimal so hoch liegen – und würde doch nur gut drei Milliarden Euro betragen. Weniger als allein die aus Sicht zahlreicher Ökonomen unsinnige Mehrwertsteuersenkung für Gastronomie-Betriebe pro Jahr kosten wird, eine Steuersubvention, durch die allein Fastfood-Ketten wie McDonalds eine halbe Milliarde Euro Steuern pro Jahr sparen werden.

Ist Humanitäres also nur noch Gedöns, geht es jetzt um harte Interessenpolitik? Mal angenommen, es wäre so: Selbst wer nur an deutsche Interessen denkt, sollte genau hinschauen, wer sich in 2025 gemäß unserer noch unveröffentlichten Analysen weit überdurchschnittlich engagiert hat. Platz 1: Katar. Platz 2: die Vereinigten Arabischen Emirate. Platz 6: Saudi-Arabien. Man muss kein Geostratege sein, um zu verstehen, wieviel Kredit und Einfluß Deutschland hier im Vergleich verspielt, nachdem schon in der Entwicklungszusammenarbeit China Deutschland und Europa den Schneid abgekauft hat.

Der Minister schloss seinen Redebeitrag im Bundestag zu Budget und Umbau des Ministeriums mit dem Versprechen: „Dies ist ein Prozess, und ich wünsche mir eine offene Debatte dazu.“ Diese wird aber nur etwas nutzen, wenn das Ergebnis des Prozesses nicht schon feststeht – und die humanitäre Idee unter der neuen Bundesregierung doch noch eine Überlebenschance bekommt.

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Letzte Aktualisierung: 30. November 2025