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Erscheinungsdatum: 13. Mai 2025

Zwischen Unschuldsvermutung und dem Schutz Betroffener: Kommunikation im Spannungsfeld

Unschuldsvermutung: dieser Grundsatz des Rechtsstaats ist in der modernen Debattenwelt fast verloren gegangen. Dabei ist eine verantwortungsbewusste Sprache ist nicht bloß Teil der Oberfläche – sie ist Ausdruck von Haltung.

Sexualisierte Gewalt erschüttert. Sie erschüttert Menschen, Organisationen, Systeme – und das Vertrauen, das in diese gesetzt wurde. Und wenn ein solcher Vorwurf im Raum steht, treffen zwei fundamentale Prinzipien aufeinander: Die Unschuldsvermutung gegenüber Beschuldigten und die moralische Verpflichtung, Betroffene ernst zu nehmen und ihnen von Beginn an Gehör und Vertrauen zu schenken. Ein Dilemma, das auf den ersten Blick nicht auflösbar scheint. Doch muss es nach vielen Jahrzehnten des Wegschauens, Bagatellisierens und Vertuschens in vielen Institutionen, Organisationen und Unternehmen möglich sein, dass Betroffene Schutz erfahren, ohne dass rechtsstaatliche Grundsätze unterlaufen werden.

Betroffenen Glauben zu schenken bedeutet, Aussagen ernst zu nehmen, ohne sie reflexhaft anzuzweifeln. Gleichzeitig bleibt die Wahrung der Unschuldsvermutung in einem Rechtsstaat essenziell – also das Recht jeder beschuldigten Person, bis zum rechtskräftigen Urteil als unschuldig zu gelten. Was auf den ersten Blick unvereinbar scheint, lässt sich miteinander in Einklang bringen, wenn Kommunikation verantwortungsvoll gestaltet wird – mit Sorgfalt und Sensibilität, mit Haltung und klarem Bewusstsein für die unterschiedlichen Schutzinteressen. Eine Gratwanderung bleibt es dennoch.

Ob Unternehmen und Verband, ob Kirchen oder Sportverein: Wenn ein Fall sexualisierter Gewalt eine Organisation erschüttert, steht sie nicht nur vor der ohnehin schwierigen Herausforderung, Betroffene zu schützen und rechtsstaatliche Prinzipien zu wahren, sondern auch das Vertrauen in ihre eigene Integrität zu erhalten. Wie diese Balance gelingen kann und welche vielfältigen Herausforderungen bedacht werden müssen, zeigt ein Blick auf konkrete Erfahrungen aus der Praxis.

Transparenz und Haltung: Eine Klinik kommuniziert frühzeitig und mit Bedacht

In einer Klinik meldeten mehrere männliche Auszubildende unabhängig voneinander einen schwerwiegenden Vorfall: Bei einer internen Teamveranstaltung soll es durch einen Ausbildungsleiter zu sexuellen Übergriffen gekommen sein. Die Auszubildenden erstatteten Anzeige. Die Klinik entschied sich, dem Aufgreifen durch Medien zuvorzukommen, und kommunizierte proaktiv. Ziel war es, Transparenz zu schaffen, Gerüchten vorzubeugen und ein klares Signal an Mitarbeitende und Betroffene zu senden. Die Betroffenen sowie deren Eltern, die Mitarbeitenden, der beschuldigte Mitarbeiter, die Öffentlichkeit wurden zeitnah informiert – das Vorgehen vorab mit den ermittelnden Behörden und der Staatsanwaltschaft abgesprochen. Der Mitarbeiter wurde zudem unmittelbar freigestellt und später entlassen.

Die Herausforderung lag genau in der Doppelrolle, die Kommunikation in solchen Fällen einnimmt. Sie muss einerseits sensibel und schützend gegenüber den Betroffenen sein – und zugleich die Unschuldsvermutung respektieren. In diesem Fall lagen mehrere belastbare Aussagen vor, alle aus unterschiedlichen Quellen, aber inhaltlich übereinstimmend. Die Klinik entschied sich dazu, den Betroffenen Glauben zu schenken – und kommunizierte mit Worten, die klar, aber möglichst nicht vorverurteilend waren: Von „Vorwürfen“ war die Rede, von „schnellstmöglicher Aufklärung“ und von der Bereitschaft, die Ermittlungen vorbehaltlos zu unterstützen. Gleichzeitig suchten wir als Sprecher der Klinik aktiv das Gespräch mit Journalisten – mit der Bitte, nicht reißerisch über den Fall zu berichten. Nicht, um Druck auszuüben, sondern um darauf hinzuweisen, welche Belastung es für Betroffene bedeutet, tagelang in der Zeitung an die Vorgänge erinnert zu werden – aber auch, wie belastend dies für die beschuldigte Person ist.

Das Ergebnis: Die betroffenen Auszubildenden äußerten gegenüber den Verantwortlichen der Klinik Erleichterung, gehört und ernst genommen worden zu sein. In einem derart sensiblen Kontext wurde Vertrauen nicht nur geschützt – es wurde gestärkt. Später wurde der Beschuldigte wegen sexueller Belästigung zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.

Sensibilität und Haltung anstatt Selbstschutz

Im Raum Frankfurt wurde ein Jugendtrainer des Fußball-Profiklubs SV Wehen Wiesbaden festgenommen und später zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und drei Monaten verurteilt. Auch wenn keine der Taten im Kontext seiner Tätigkeit beim SV Wehen Wiesbaden verübt wurde, bleibt der Verein bis heute öffentlich mit dem Fall verbunden – allein deshalb, weil der Täter zum Zeitpunkt seiner Festnahme dort angestellt war. In der medialen Berichterstattung wurden ständig das Logo des Vereins und Fotos des Stadions gezeigt, dem Verein implizit vorgeworfen, seine Schutzpflicht verletzt zu haben. Ein Vorwurf, der sich bei genauer Betrachtung und nach Abschluss der staatsanwaltlichen Ermittlungen nicht halten ließ. Der SV Wehen Wiesbaden entschied sich dennoch – selbst nachdem erwiesen war, dass es sich bei den Betroffenen um Spieler anderer, kleinerer Vereine handelte – bewusst dagegen, dies öffentlich vollmundig zu erklären. Aus Respekt gegenüber dem Thema und den Betroffenen verzichtete er darauf, der letztlich gegenüber dem Verein vorverurteilenden Berichterstattung entgegenzutreten.

Die Verantwortlichen nahmen einen Reputationsschaden in der Öffentlichkeit in Kauf – nicht aus Schwäche, sondern aus Haltung. Denn jedes Kind, das von sexualisierter Gewalt betroffen ist, ist gleich viel wert – unabhängig davon, wo es Fußball spielt. Intern setzte der Verein auf Offenheit: In Gesprächen mit Eltern wurde die Situation transparent gemacht, Sorgen wurden aufgenommen und ernst genommen. Trotz belastender Medienberichterstattung blieben die Familien dem Verein verbunden – nicht zuletzt, weil glaubwürdig vermittelt wurde, dass das Wohlergehen der Kinder oberste Priorität hat.

Fünf zentrale Elemente einer sensiblen und verantwortungsbewussten Kommunikation

Kommunikation in Fällen sexualisierter Gewalt ist weit mehr als eine Frage der richtigen Worte. Sie ist ein Ausdruck von Haltung. Wer sie verantwortungsvoll gestalten will, braucht eine klare Struktur – und ein feines Gespür für Sprache, Deutung und Wirkung. Fünf zentrale Elemente prägen eine solche Kommunikation.

Betroffenen Raum geben: Menschen, die melden, sexualisierte Gewalt erlebt haben, verdienen Gehör. Ihre Perspektive muss ernst genommen werden – ohne vorschnell zu bewerten, in Zweifel zu ziehen oder reflexhaft zurückzuweisen. Betroffenen Glauben zu schenken bedeutet, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem ein offenes Gespräch und eine ernsthafte Aufarbeitung überhaupt erst möglich sind.

Beschuldigte nicht aus dem Blick verlieren: Auch bei drängendem öffentlichem Interesse muss die Unschuldsvermutung bestand haben. Einzelfälle zeigen, welche Tragweite voreilige Schuldzuschreibungen haben können. Klare Distanzierungen von mutmaßlichem Fehlverhalten sind möglich – auch ohne Vorverurteilung.

Transparenz: Ob interne Aufklärung, externe Aufarbeitung oder disziplinarische Maßnahmen – die Vorgehensweise rund um den Umgang mit einem Verdachtsfall von sexualisierter Gewalt sollten klar benannt und kommuniziert werden. Nur so entsteht Vertrauen, dass der Fall ernst genommen und nicht unter den Teppich gekehrt wird. Transparenz bedeutet in diesem Kontext nicht, jedes Detail öffentlich zu machen – sondern Offenheit im Vorgehen.

Sprache mit Bedacht wählen: Worte prägen Wahrnehmung. Wer von „Verdachtsfällen“, „Vorwürfen“ oder „Untersuchungen“ spricht, wahrt sowohl die Perspektive der Betroffenen als auch die Rechte der beschuldigten Person. Formulierungen wie „Anschuldigungen“ „Täter XY“ oder „Skandal um Mitarbeiter“ erzeugen Fakten, die möglicherweise (noch) nicht bewiesen sind. Auch bei der Bezeichnung der betroffenen Personen ist Sorgfalt geboten: Statt von „Opfern“ zu sprechen – ein Begriff, der Ohnmacht und Stigmatisierung transportiert – sollte bewusst von „betroffenen Personen“ gesprochen werden. Diese Wortwahl vermeidet eine zusätzliche sprachliche Verletzung.

Fokus auf Aufklärung: Statt vorschneller Urteile sollte der kommunikative Fokus auf dem Weg zur Aufklärung liegen. Wer zeigt, dass sorgfältige Schritte unternommen werden, signalisiert Verantwortungsübernahme. Das Ziel: Wahrheitsfindung ermöglichen und Glaubwürdigkeit erhalten.

Differenzierte und verantwortungsbewusste Sprache als Ausdruck von Haltung

Der Spagat zwischen Schutz von Betroffenen, Unschuldsvermutung und Kommunikation ist kein Selbstzweck. Er wirkt unmittelbar auf das Vertrauen aller Beteiligten – und auf das Selbstverständnis von Organisationen, die in solchen Momenten intern wie extern unter besonderer Beobachtung stehen.

Die psychische Belastung, die für Betroffene mit der Offenlegung sexualisierter Gewalt einhergeht, ist enorm. Oft überwiegt die Angst, nicht ernst genommen oder erneut stigmatisiert zu werden, gegenüber der Hoffnung auf Gerechtigkeit. Denn nicht selten braucht es mehrere Anläufe, endlich Gehör zu finden – manchmal dauert es viele Jahre und sogar Jahrzehnte bis Betroffene ernst genommen werden. Wer sich dennoch entscheidet, über das Erlebte zu sprechen, braucht ein sicheres Umfeld – kommunikativ wie institutionell. Nur dann kann Vertrauen entstehen, das eine Aufarbeitung überhaupt möglich macht. Und Betroffenen – aber auch Beschuldigten – sollte psychologische Unterstützung angeboten werden.

Zugleich darf nicht übersehen werden, dass auch für die beschuldigte Person gravierende Folgen entstehen können – bis hin zu existenziellen Krisen. Selbst bei sorgfältiger und respektvoller Kommunikation sind tragische Entwicklungen möglich. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte, die Wahrung der Unschuldsvermutung und eine präzise Sprache sind deshalb nicht bloß rechtliche Notwendigkeiten. Denn auch wenn die Dunkelziffer derer, die sexualisierte Gewalt erleben mussten, deutlich höher ist als die Zahl derjenigen, die durch Intrigen zu Unrecht beschuldigt werden – der Fall des Berliner Grünen-Politikers Stefan Gelbhaar verdeutlicht, wie existenzbedrohend falsche Anschuldigungen sein können.

Organisationen stehen in solchen Fällen nicht nur vor einer kommunikativen, sondern auch vor einer moralischen Bewährungsprobe. Jede Äußerung, jede gewählte Formulierung hat das Potenzial, Vertrauen zu stärken oder zu zerstören. Und sie wirkt über den Einzelfall hinaus: Die Art und Weise, wie mit Vorwürfen sexualisierter Gewalt umgegangen wird, prägt langfristig das öffentliche Vertrauen in die Haltung, Integrität und Verantwortungsbereitschaft einer Institution. Und sie kann dabei helfen, auch die gesellschaftliche Haltung zu verändern. Differenzierte Kommunikation bedeutet dabei keinesfalls, Vorwürfe zu relativieren oder in Schutzbehauptungen zu verfallen. Im Gegenteil: Sie zeigt, dass es möglich ist, sensibel mit Betroffenen umzugehen, die beschuldigte Person fair zu behandeln – und dennoch eine klare Haltung gegen sexualisierte Gewalt zu zeigen. Verantwortungsbewusste Sprache ist damit nicht Teil der Oberfläche – sie ist Ausdruck von Haltung.

Über die Autoren:

Jana Lautenschläger und Dirk Metz sind Geschäftsführer von LMK (www.lm-k.de). Sie unterstützen Unternehmen, Kirchen, Sportvereine und weitere Institutionen sowohl in der strategischen Vorbereitung auf Krisen – etwa mit Konzepten und Krisensimulationen – als auch in der ad-hoc-Begleitung. Dazu zählen insbesondere die Kommunikation in Fällen sexualisierter Gewalt, bei Cyberangriffen, Untreuefällen oder komplexen rechtlichen Auseinandersetzungen.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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