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Erscheinungsdatum: 01. Oktober 2024

Unwort Dunkeldeutschland

In dem Auszug aus seinem neuen Buch „Deutschlandtour – auf der Suche nach dem, was unser Land zusammenhält“, beschreibt Spiegel-Bestsellerautor Hasnain Kazim wie der Begriff „Dunkeldeutschland“ bis heute das Denken über Ostdeutschland prägt.

Dunkeldeutschland. Das ist das Wort, das ich oft höre, wenn es um Ostdeutschland und, vor allem, um die Regionen nahe der Grenzen zu Polen und Tschechien geht. Dunkeldeutschland. Ein Wort, das Gefahr und Düsternis und Rückständigkeit mitschwingen lässt und das eine Region bezeichnet, in der vermeintlich hinterwäldlerische Typen hausen. 1994 war es Kandidat für das „Unwort des Jahres“. Ursprünglich, noch vor der Wiedervereinigung, war das eine ironische Bezeichnung für die DDR, weil es dort weniger Straßenbeleuchtung als in der alten Bundesrepublik gab. Jedenfalls erzählt mir das jemand, es klingt plausibel, aber ob es stimmt, weiß ich nicht. Auch Bundespräsident Joachim Gauck verwendete dieses Wort: Er warnte 2015 in der Flüchtlingsdebatte vor einem „Dunkeldeutschland“. „Es gibt ein helles Deutschland“, sagte er, eines mit freiwilligen Helfern, und eben ein „Dunkeldeutschland“, das sich angesichts fremdenfeindlicher Übergriffe zeige.

In seiner heutigen Verwendung hat dieses Wort seinen Ursprung im Eindruck, dass es im Osten Deutschlands besonders viele Rechtsextremisten und Neonazis gibt. Nun ist das wahrlich kein rein ostdeutsches Problem, aber es ist vor allem ein ostdeutsches Problem. Gemessen an der Zahl der Straftaten in diesem Bereich in Relation zur Bevölkerung ebenso wie gemessen an den Wahlergebnissen oder an der Zahl seltsamer Gruppierungen und Netzwerke, die auf unterschiedliche Weise den Umsturz planen. Und dennoch finde ich diese Bezeichnung unfair, weil sie all jenen, die nicht extremistisch sind, also der Mehrheit der Bevölkerung, unrecht tut. Jedes Mal, wenn ich in den Osten reise, sagen mir Freunde, ich solle vorsichtig sein und aufpassen, man hoffe doch sehr, dass ich Personenschutz dabeihabe. Auch als ich erzähle, dass ich nun im äußersten Osten Deutschlands unterwegs sein werde, werde ich von solchen Warnungen nicht verschont.

Ich gebe zu: Als ich Anfang der Neunzigerjahre das erste Mal nach Ostdeutschland reiste, in Zeiten, als Deutschland vor allem im Osten rechtsextremistische Gewalttaten erlebte, hatte ich durchaus Vorbehalte. Später verstand ich aber, dass die rechtsextremen Strukturen und demokratiefeindlichen Netzwerke, die es dort gibt, und die Skinheads und Neonazis, die in manchen Orten ziemlich viel zu sagen haben, nicht bedeuten, dass ich mich dort nur von Schützengraben zu Schützengraben oder im Häuser- und Straßenkampf fortbewegen kann. Ich bin überzeugt: Wer Vorbehalte hat vor dem anderen, wer warnt oder Sorgen hat, tut das, jedenfalls in den meisten Fällen, nicht aus böser Absicht. Sondern weil die vielen Vorfälle, über die dann – zu Recht! – berichtet wird, Grund zur Sorge bieten. Dass dann alles andere, auch das Gute, in den Hintergrund tritt, führt dazu, dass bei vielen das Bild entsteht, alles sei böse und schlecht.

Das Problem ist nur: Wenn über alles andere, über die Engagierten – die, die gegen Extremismus und undemokratische Umtriebe und für Toleranz und Offenheit kämpfen – wenig bis nicht berichtet wird, entsteht auch bei diesen Menschen irgendwann Frust. Und wenn dann all diesen Menschen das Gefühl gegeben wird, dass man sie für zurückgeblieben und minderbemittelt, für undemokratisch oder gar bösartig hält, darf man sich nicht wundern, wenn diese Menschen irgendwann sagen: Jetzt reicht‘s! Ohne euch! Wir machen unser eigenes Ding!

Das ergeht nicht nur Ostdeutschland so, sondern jeder Region, jedem Land in der Welt, das durch negative Schlagzeilen auffällt. Kriegsländern zum Beispiel. Oder von Diktatoren beherrschten Staaten. Zu Recht wird über Gewalt und Unterdrückung berichtet, aber es gibt eben nicht nur Gewalt und Unterdrückung. Dass Menschen also so denken, hat auch mit Unkenntnis zu tun. Im Fall von Ostdeutschland zum Beispiel damit, dass es viele Menschen im Westen Deutschlands gibt, die keinerlei Bezug zum Osten des Landes haben und, was mich immer wieder ein bisschen erstaunt, noch nie dort gewesen sind. Umgekehrt höre ich das so gut wie nie: dass jemand, der aus dem Osten stammt, noch nie im Westen war. Das sagt einiges über unsere Gesellschaft aus. Frust erzeugt Gegenfrust, Wut erzeugt Gegenwut, Hass erzeugt Gegenhass. Aus diesem Kreislauf müssen wir ausbrechen. Das geht zwar nicht, indem man über Kritikwürdiges hinwegsieht, indem man Dinge unter den Teppich kehrt oder so tut, als sei alles in bester Ordnung. Das geht aber auch nicht, indem man pauschal verdammt.

„Deutschlandtour Auf der Suche nach dem, was unser Land zusammenhält — Ein politischer Reisebericht“, ist am 11.09.2024 bei Penguin erschienen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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