Der Ruf nach einem höheren Mindestlohn in Deutschland wird lauter. Das ist richtig und wichtig. Denn nur wenn er schnell auf ein anständiges Niveau steigt, kann die Erfolgsgeschichte des Mindestlohns weiter gehen: Seit seiner Einführung im Jahr 2015 hat er Millionen Beschäftigten spürbare Lohnerhöhung verschafft. Trotz der Horrorszenarien, die manche Ökonomen an die Wand malten, wurde der Mindestlohn auch kein Job-Killer. Im Gegenteil: Seit er gilt, hat sich die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gut entwickelt. Bei den Unternehmen sorgt der Mindestlohn für faire Wettbewerbsbedingungen, denn Vorteile durch Lohndumping sind nicht länger drin.
Aber aktuell ist der Mindestlohn zu gering. Im Juni 2023 hatte die Mindestlohnkommission mit Mehrheitsbeschluss – gegen die Stimmen der drei Gewerkschaftsvertreter – eine Erhöhung in zwei Schritten durchgedrückt. Die Lohnuntergrenze stieg im Januar um lediglich 41 Cent auf 12,41 Euro. Im Januar 2025 soll der zweite Schritt auf dann 12,81 Euro folgen.
Die Inflation wird damit bei weitem nicht ausgeglichen. Darauf haben die Gewerkschaften mehrfach hingewiesen. Trotzdem wurde dieser Beschluss von Arbeitgebern und der Kommissionsvorsitzenden so getroffen – erstmals seit Bestehen der Mindestlohnkommission gab es keine Einstimmigkeit.
Für diese mickrige Erhöhung konnten die Gewerkschaften nicht ihre Hände heben. Die Gewerkschaften in der Kommission haben auch darauf hingewiesen, dass die neue EU-Mindestlohnrichtlinie einen Mindestlohn von 60 Prozent des mittleren Durchschnittslohns von Vollzeitbeschäftigten als Maßstab empfiehlt. Zudem gilt es, Mindestlöhne unter Berücksichtigung von Lebenshaltungskosten und Lohnverteilung weiterzuentwickeln.
Übertragen auf Deutschland müsste der Mindestlohn demnach schon jetzt bei 14,12 Euro je Stunde liegen. Es klafft also eine Lücke von fast 1,70 Euro zwischen aktuellem und angemessenem Mindestlohn. Deutschland reißt die Vorgaben aus Europa. Legt man das 60 Prozent-Kriterium der EU für die Jahre 2025 sowie 2026 an, ergibt sich aufgrund der fortschreitenden Lohnentwicklung ein angemessener Mindestlohn für das kommende Jahr von fast 15 Euro, sowie für das darauffolgende Jahr dann bereits weit über 15 Euro je Stunde.
Rückendeckung für eine kräftige Mindestlohnerhöhung kommt auch aus der deutschen Bevölkerung. Laut einer neuen Forsa-Umfrage im Auftrag des „Stern“ befürwortet die Mehrheit eine Erhöhung der Lohnuntergrenze auf 15 Euro. Das ist kein Wunder, geht es doch bei der notwendigen Mindestlohnerhöhung auch um die Wertschätzung Millionen Beschäftigter, die den Laden am Laufen halten.
Insgesamt 8,4 Millionen Menschen verdienen pro Stunde unter 14 Euro. Bei ihnen würde sich ein höherer Mindestlohn unmittelbar auf dem Lohnzettel bemerkbar machen. Vor allem Frauen, Beschäftigte in der Gastronomie, im Taxigewerbe, im Bäcker- oder Friseurhandwerk würden profitieren. In Ostdeutschland gibt es einige Landkreise, in denen jede*r dritte Beschäftigte zum Mindestlohn arbeitet.
Immer mehr Menschen verstehen, dass ein höherer Mindestlohn notwendig ist. Immer mehr Politiker greifen entsprechende Forderungen auf. Doch unverbesserliche Mindestlohn-Gegner erfinden regelmäßig Gegenargumente. Eines lautet, die aktuelle Mindestlohnhöhe sei Ausdruck der Tarifautonomie, weil in der beschlussfassenden Mindestlohnkommission Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgebern sitzen. Mit Tarifautonomie und fairen Verhandlungen hat es aber nichts zu tun, wenn am Ende die Gewerkschaften einfach überstimmt werden.
Auch deshalb ist eine veränderte Verfahrensweise in der Kommission nötig. In einer Patt-Situation muss es künftig ein Schlichtungsverfahren geben, um unterschiedliche Interessenlagen in Einklang zu bringen. Die Einkommen von Millionen Menschen dürfen nicht vom Gutdünken einer Vorsitzenden abhängen.
Auch das Argument, ein höherer Mindestlohn schade der Konjunktur, zieht nicht. Im Gegenteil: Jeder Cent mehr Mindestlohn steigert die gesamtwirtschaftliche Kaufkraft um 20 Millionen Euro jährlich. Dieses Geld fließt meist unmittelbar in den Wirtschaftskreislauf zurück und wirkt somit wie ein Konjunkturpaket.
Turnusgemäß wird die Mindestlohnkommission erst Mitte 2025 über die nächsten Erhöhungsschritte entscheiden. Ihr Beschluss fällt damit unmittelbar in die Hochphase des nächsten Bundestagswahlkampfes, wird also hochpolitisiert sein. Deshalb haben die Gewerkschaften eine Korrektur dieser Entscheidung noch in diesem Jahr vorgeschlagen – und zwar innerhalb der Kommission.
Klar ist schon jetzt: Wenn es in der Mindestlohnkommission nicht im Konsens gelingt, dem 60-Prozent-Kriterium der europäischen Richtlinie zu entsprechen, braucht sich niemand über ein erneutes Einschreiten des Gesetzgebers wundern – sei es, um die Arbeitsweise der Kommission zu verändern oder um den Mindestlohn selbst anzuheben. Oberstes Ziel ist und bleibt aber die Steigerung der schwächelnden Tarifbindung in unserem Land. Die Bundesregierung muss hierfür noch in diesem Jahr einen Aktionsplan vorlegen.