Die schwarz-rote Bundesregierung ist an diesem Mittwoch genau 100 Tage im Amt. Die Wähler stellen der Koalition ein kritisches Zwischenzeugnis aus. Nach einer Forsa-Umfrage würden sich zwei Millionen Wähler weniger für eine der beiden Regierungsparteien entscheiden als noch bei der Bundestagswahl. Die Union kommt nur noch auf 27 Prozent, die SPD liegt bei 13 Prozent. Wir haben Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft nach ihrer Einschätzung gefragt.
Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft:
„Die Regierung hat für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit mit dem Investitionsbooster geliefert und bei der Stromsteuer enttäuscht. Alles andere sind Hoffnungswerte mit unbestimmter Wahrscheinlichkeit. Die Energie, die ins Rentenpaket ging, hätte man sinnvoller für Besserung der Standortbedingungen eingesetzt. Mehr als weitere 100 Tage hat die Regierung nicht, um auf Wachstum umzuschalten.“
Franziska Brantner, Grünen-Parteivorsitzende:
„Diese Regierung steht für Rückschritt und Chaos. Sie zieht uns Jahre zurück in die fossile Vergangenheit, führt den Kampf gegen den Häuslebauer und seine Solaranlage, statt konsequent die Innovationskraft unseres Landes voranzubringen. Sie belastet die sozialen Sicherungssysteme um Milliarden, statt sie generationenfest zu machen. Statt europäischem Kanzler nur nette Worte an europäische Partner, aber in der Praxis Grenzen und Blockade.“
Tim Klüssendorf, SPD-Generalsekretär:
„Die Koalition hat in der Sachpolitik ordentlich gearbeitet. Ich denke da an das Sondervermögen Infrastruktur, die günstigeren Abschreibungen, das Rentenpaket, das Tariftreuegesetz oder die Entlastungen bei den Energiepreisen. Mit Blick auf die anstehenden Diskussionen um den Wert unseres Sozialstaats können wir aber nur bestehen, wenn wir uns aufeinander verlassen können. Die letzten Wochen haben in unseren Reihen tiefe Spuren hinterlassen. Um zu beweisen, dass diese Koalition das Land zusammenhalten kann, braucht es deshalb auch neues Vertrauen.“
Tanja Gönner, Hauptgeschäftsführerin des BDI:
„Die Bundesregierung ist mit Tempo und ersten wichtigen Aufbruchsignalen für den Wirtschaftsstandort gestartet. Der Investitionsbooster schafft Planungssicherheit. Die Entlastung bei Energiekosten und geplante Investitionen setzen wichtige Wachstumsimpulse. Jetzt muss sie zeigen, wie ernst sie es mit notwendigen, aber unbequemen Strukturreformen meint.
Die Wirtschaftswende ist bislang nur angekündigt, jetzt muss die Bundesregierung liefern. Die Wirtschaft vermisst klare Signale für Strukturreformen und einen spürbaren Bürokratieabbau. Was Unternehmen brauchen, ist ein Sofortprogramm Bürokratierückbau. Die Regierung muss ihren Worten endlich Taten folgen lassen, das deutsche Lieferkettengesetz aussetzen und entlang europäischer Vorgaben verschlanken.“
Kai Niebert, Präsident des Umwelt-Dachverbands DNR und Professor an der Universität Zürich:
„Nach 100 Tagen bleibt Klimapolitik im schwarz-roten Kabinett ein Nebenschauplatz: Der Kanzler wirkt, als sei ihm die Partitur noch fremd; Carsten Schneider hat sich als Neuling schnell eingearbeitet, wirbt für eine Klimapolitik mit Akzeptanz und scheut sich nicht, an den entscheidenden Stellen in den Wind zu stellen. Energieministerin Katherina Reiche bringt das Rüstzeug mit, die Energiewende zu dirigieren, testet aber in Reden und Interviews immer wieder neue, und alte Ideen – jedoch ohne ihr Ministerium einzubinden oder den Koalitionsvertrag als Taktgeber zu nutzen.
Der große Spielball der Regierung, das Sondervermögen, hätte die Grundlage für die Infrastruktur von morgen legen können, hat aber die Chance verpasst, sich einen klaren Rahmen zu geben. So spielt Schwarz-Rot klimapolitisch ohne klare Abstimmung. Ob Schneider das Orchester auf seine völkerrechtlichen Verpflichtungen im Klimaschutz einstimmen kann, hängt erkennbar nicht an seinem Willen, sondern daran, ob Merz und Klingbeil ihm das Mandat und die passenden Instrumente geben.“
Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer Verband der Chemieindustrie:
„Die Bilanz ist gemischt. Ein Merz alleine macht noch keinen Sommer. Die Standortkrise lässt sich nicht mit Worten beheben, nur mit schnellen Taten. Die Herausforderungen für die Unternehmen steigen, der politische Rückenwind ist aber noch nicht an den Werkstoren angekommen. Maßnahmen wie die ersten Senkungen bei den Energiekosten, das Steuerpaket und das CO₂-Management sind Lichtblicke. Aber: vom Bürokratieabbau ist noch keine Spur. Stattdessen gibt es teure Wahlgeschenke, die unsere Wirtschaft kein Stück voranbringen. Der Sturm nimmt zu und unser Standort ist noch lange nicht wetterfest.“
Martin Huber, CSU-Generalsekretär:
„Die Bundesregierung kann nach 100 Tagen bereits viele Erfolge aufweisen: Die Wende bei der Migrationspolitik ist vollzogen, wir entlasten die Menschen bei den Energiekosten und bringen die Wirtschaft wieder in Schwung. Die CSU ist der Treiber des Politikwechsels. Mit der Vollendung der Mütterrente, der Wiedereinführung der Agrardieselrückvergütung und der Senkung der Gastro-Steuer entlasten wir die breite Mitte und sorgen für Gerechtigkeit. Weitere Projekte sind bereits in der Umsetzung, die Deutschland weiter voranbringen.“
Reinhard Tweer, Unternehmer aus Bielefeld:
„Die neue Bundesregierung ist gut gestartet und hat richtige Maßnahmen wie den Investitionsbooster durch verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten und die Senkung der Stromsteuer für die Industrie auf den Weg gebracht. Die Richtung stimmt. Es fehlt aber nach wie vor ein dringend erforderlicher, international wettbewerbsfähiger Industriestrompreis. Aber es wird immer noch zusätzliche Bürokratie aufgebaut. Auch wird der Mindestlohn durch die völlig inakzeptable Einmischung der Politik in die Arbeit der unabhängigen Kommission für viele Branchen schmerzhaft in die Höhe getrieben.“
Ines Schwerdtner, Linken-Parteivorsitzende:
„Die ersten 100 Tage der Regierung Merz waren ein klassischer Fehlstart. Steuergeld wird an Unternehmen verschenkt, während die Mehrheit bei Entlastungen leer ausgeht. Für Waffen ist unbegrenzt Geld da, bei Menschen in Not wird gegeizt. Sinnvolle in die Zukunft gerichtete Ausgaben wie Bildung, Nahverkehr, Kinderarmut bleiben liegen. Das ist die abgehobene Politik eines Lobby-Kanzlers, der mit dem Privatjet einfliegt und kein Interesse an der Lebensrealität der einfachen Menschen hat. In der Außenpolitik wird Merz gerade zum Meister des wirkungslosen Händeschüttelns. Dass Merz seinen Antrittsbesuch im Weißen Haus ohne größere Peinlichkeit überstand, hat jedenfalls nicht dazu geführt, dass er der EU in den Zollverhandlungen den Rücken gestärkt hätte – im Gegenteil.“
Konstantin Kuhle, Vorsitzender der FDP Niedersachsen:
„So sehr man einer neuen Regierung angesichts internationaler Krisen viel Erfolg wünscht, so sehr muss man nach 100 Tagen festhalten: Schwarz-Rot bleibt die erforderlichen Reformen für neues Wirtschaftswachstum weitgehend schuldig. Statt Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit werden die Kosten der ohnehin schon maroden sozialen Sicherungssysteme weiter in die Höhe getrieben — vor allem durch eine Rentenpolitik, die nicht mal mehr den Versuch unternimmt, auch an die junge Generation zu denken.
Der Kanzler beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Außenpolitik und überlässt das Management der Koalition anderen. Als Folge dieser Strategie ist ihm seine eigene Fraktion schon jetzt entglitten, was sich zuletzt am unterirdischen Umgang mit der Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht und am Alleingang des Kanzlers beim Umgang mit Israel gezeigt hat. Bleibt zu hoffen, dass Friedrich Merz irgendwann wenigstens in der Wirtschaftspolitik an seine Rhetorik aus Oppositionszeiten anknüpft. Bisher sieht es leider nicht danach aus.“
Claudia Major, Politikwissenschaftlerin:
„Außenpolitisch tritt der Kanzler führungsstärker auf, das führt zu Anpassungsschmerzen im System. Friedrich Merz will Deutschland zu einer führenden Mittelmacht machen, das ist zum Teil gelungen: Die Bundesregierung hat sich die Mittel gegeben, die Strukturen, und die Prozesse, um international zu entscheiden und gestalten. Die Umsetzung ist bislang aber durchwachsen.“
Prälat Karl Jüsten, Kommissariat der deutschen Bischöfe:
„Mit vielen neuen Gesichter startete das Kabinett: nahbar, offen, zielstrebig und gewillt, unser Land auf Reformkurs zu bringen. Mich beeindruckte, wie viele Kabinettsmitglieder die Eidesformel mit dem Zusatz sprachen: so wahr mir Gott helfe. Daraus spricht Demut und Zuversicht. Bei so manchem, was die Koalition sich vorgenommen hat, wurde der Anfang gemacht und zahlreiche Gesetze werden im Herbst in den Bundestag eingebracht. Dass wir als Kirchen die Migrationswende kritisch sehen, verwundert nicht, auch die Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit halten wir für falsch, in der Klima- und Umweltpolitik müssen wir viel ambitionierter werden.“