Interview
Erscheinungsdatum: 03. Dezember 2023

Stephan Weil: „Ein Armutszeugnis für den Finanzminister“

Ministerpräsident Stephan Weil, SPD, sieht nach dem Karlsruher Urteil zur Haushaltsgestaltung „schweren strukturellen Schaden" und fürchtet gravierende finanzpolitische Konsequenzen. Für den Bundesfinanzminister sei das Urteil „ein Armutszeugnis".

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Haushalt ist ein tiefer Einschnitt. Wie massiv ist der Einschlag?

Es gibt zwei Dimensionen des Einschlags. Zum einen: Wie geht es 2024 weiter? Es fehlen angeblich 17 Milliarden, das ist kein Pappenstiel. Es wird nicht einfach werden, diese Summe aufzutreiben oder zu kompensieren. Die zweite, fast noch wichtigere Dimension: Haben wir die richtigen Regeln? Die Schuldenbremse erlaubt bislang keine Neuverschuldung, es sei denn, es gibt eine Notlage.

Die für jedes Jahr neu festgestellt werden muss.

Genau. Und das ist der Haken. Wir sind in einer Situation, in der wir für die nächsten zehn Jahre handlungsfähig sein müssen. Wir werden die Transformation in Richtung Klimaneutralität nicht ohne einen aktiven Staat stemmen können. Nur: Eine Situation wie diese ist nicht vorgesehen in der Schuldenbremse. Ich freue mich darüber, dass immer mehr Kolleginnen und Kollegen ebenso wie ich an dieser Stelle Nachbesserungsbedarf sehen.

Sie wollen die Schuldenbremse loswerden?

Nein. Meine persönliche Meinung zur Schuldenbremse ist immer gewesen: Laufende Ausgaben muss man durch laufende Einnahmen decken. Aber bei Investitionen in die Zukunft, die ihren Nutzen erst mit der Zeit entfalten, kann ich vernünftigerweise auch mit Fremdkapital arbeiten. Das ist im privaten Bereich etwa beim Hauskauf und auch in Unternehmen so, warum soll es beim Staat anders sein? Die Grenze ist die eigene Leistungsfähigkeit. Dass solche Möglichkeiten durch die Schuldenbremse nicht gedeckt sind, zeigt das Karlsruher Urteil.

Sind Sie froh über das Urteil?

Ganz und gar nicht. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn wir am Ende dieses wirklich schwierigen Jahres einen einigermaßen ruhigen Ausklang gehabt hätten. Das Gegenteil ist der Fall.

Der Wirtschaftsminister hat auf dem Parteitag der Grünen gesagt: Gut, dass das passiert ist. Jetzt sieht jeder, wie die Lage wirklich ist. Sehen Sie das genauso?

Das Problem liegt jetzt offen zutage, insofern hat Robert Habeck recht. Aber die Aufdeckung des Problems in Sachen Schuldenbremse ist ja – um in der Sprache der Fischerei zu sprechen – nur der Beifang zu einem erheblichen finanzpolitischen Problem. Darauf hätte ich gut darauf verzichten können

Was folgern Sie daraus? Wollen Sie an das Grundgesetz ran?

Erst müssen wir die aktuellen Fragen lösen, insbesondere für 2024. Aber danach hoffe ich, dass man mit denjenigen, die es gut mit diesem Gemeinwesen meinen, in Ruhe ins Gespräch kommt. Wie können wir unser finanzverfassungsrechtliches Korsett schneidern? Ich fand es interessant, dass eine Reihe meiner Kollegen aus unionsregierten Ländern auch darüber reden wollen. Und das sind sehr glaubwürdige Konservative. Was die Union auf Bundesebene angeht, sollte eine Opposition, die für sich in Anspruch nimmt, die nächste Regierung zu bilden, doch die Folgen ihrer eigenen Positionen im Kopf haben. Wenn sie irgendwann die Bundesregierung stellen will, sollte die CDU hoch motiviert sein, über vernünftige Finanzregeln für die Zukunft zu sprechen.

Was wiegt schwerer: die finanziellen Konsequenzen, die das Urteil hat, oder der politische Ansehensverlust, weil es keinen Plan B gibt?

Da brauche ich keine Reihenfolge. Die finanzpolitischen Konsequenzen sind gravierend, fürchte ich. Und gleichzeitig stehen wir am Ende eines Jahres, in dem das Vertrauen in die Demokratie sicher nicht gewachsen ist. Und jetzt ist dieses Misstrauen noch einmal sehr konkret unterlegt worden. Das halte ich für einen schweren strukturellen Schaden. Es wird Zeit brauchen, wieder Vertrauen zurückzugewinnen.

Haben Sie Verständnis dafür, dass der Finanzminister erklärt hat, den Haushalt 2024 machen wir in diesem Jahr nicht mehr?

Das ist das bittere Eingeständnis vom zuständigen Fachminister, dass die Bundesregierung kalt erwischt worden ist. Ein Armutszeugnis für den Finanzminister! Wir haben bereits eine grassierende Unsicherheit. Wenn es in diesem Jahr auch mit einem großen Kraftakt nicht gelingt, einen Bundeshaushalt für 2024 aufzustellen, heißt das de facto, dass das frühestens Mitte Januar klappen kann. Das heißt dann einen Monat weiter eine wabernde Ungewissheit. Das wäre für den Standort Deutschland richtig schlecht, nach innen und nach außen. Deswegen kann ich nur davon abraten.

Was bedeutet das Urteil für Niedersachsen?

Unmittelbar nichts. Unsere Sondervermögen wurden mit einer Ausnahme aus eigenen Mitteln bestückt, sie sind also nicht kreditfinanziert. Und die Ausnahme, das Sondervermögen Corona haben wir strikt auf einen Zweck beschränkt, auf die Bekämpfung der Pandemie. Es gibt keine Grauzonen. Und hier sind die Kredite auch bereits weitestgehend getilgt. Wir betreiben eine sehr vorsichtige Finanzpolitik.

Aber auch in Niedersachsen würden die Mittel für Investitionen fehlen?

Natürlich, das hängt jetzt von den Planungen und Vorschlägen der Bundesregierung für 2024 ab. Wenn man die enormen Investitionsvorhaben, die in Niedersachsen für die Energiewende geplant sind, kennt, hätte das gravierende Konsequenzen.

Wie groß wäre der Schaden?

Für den Klimaschutz ein Totalschaden. Es geht buchstäblich um Milliardenprojekte und man mag sich auch nicht ausmalen, was das für das Vertrauen in den Standort Deutschland hieße. Deswegen kann man wirklich nur dringend davon abraten, großflächig Investitionen zu streichen. Nicht besser wäre es, käme der Bund auf die Idee, vornehmlich Vorhaben, die Bund und Länder gemeinsam machen, zu streichen. Dann müssten wir mangels Masse sagen: Sorry, alleine schaffen wir das nicht. Das wiederum würde beträchtlichen gesellschaftlichen Schaden anrichten – wenn ich nur an den Bereich Bildung denke. Es ist wirklich eine schwierige Gratwanderung. Umso wichtiger ist, dass wir sehr schnell kluge Vorschläge der Bundesregierung auf den Tisch bekommen.

Jetzt fällt auf, dass wir auf nichts vorbereitet sind. Denn zu den Investitionen in (statt: für) die Transformation kommen riesige Aufgaben angesichts einer maroden Infrastruktur, digitaler Defizite und einer dringend förderbedürftigen Bildung. Haben wir über unsere Verhältnisse gelebt? Waren die Merkel-Jahre verlorene Jahre?

In dieser Hinsicht ja. Nehmen wir die Bundeswehr. Die Einsatzfähigkeit einer ganzen Armee ist beschädigt worden. In anderen Bereichen gibt es schon sehr viel länger erhebliche Versäumnisse: Die Deutsche Bahn wurde in den letzten 20 Jahren zu schlecht behandelt.

Ist die Bundeswehr nicht ein Sonderfall, weil es mit dem Ukraine-Krieg eine völlig neue Welt gibt?

Ja natürlich. Trotzdem hätte man nie einen Zustand zulassen dürfen, in dem ein größerer Teil der Schiffe, der Flugzeuge oder Panzer nur bedingt einsatzfähig sind. Bei der Bahn war es anders, aber nicht minder schlimm. Hier hat eine schleichende Erosion stattgefunden, weil man die Bahn unbedingt an die Börse bringen wollte. Jetzt merkt man: Es haben über viele Jahre die nötigen Investitionen gefehlt. Irgendwann ist das Loch riesig. Und auch bei der Bildung haben wir zu lange zu wenig Geld reingegeben. Inzwischen haben wir hier noch ein weiteres Problem: Uns fehlen die Köpfe.

Sie haben zu wenige Lehrer?

Unsere größte Veränderung im Haushalt 2024 in Niedersachsen ist, dass wir den Grund-, Haupt- und Realschullehrern das Gehalt von A12 auf A13 aufbessern – rund 500 Euro mehr monatlich. Wir müssen den Beruf unbedingt attraktiv halten. Es ist offensichtlich, dass wir großen Nachholbedarf in Deutschland haben.

Was folgt aus alledem?

Die Frage ist: Wie schneidern wir unser Finanzkonzept für Deutschland für die nächsten 10 bis 15 Jahre? Daran sollten alle Parteien, die jetzt regieren oder einmal selbst den Bundeskanzler oder die Kanzlerin stellen wollen, ein Interesse haben. Bestimmt werden wir auch über Einsparungen reden müssen, aber es wäre das erste Mal, dass es gelänge, einen öffentlichen Haushalt über Einsparungen zu sanieren.

Viele Unternehmen und auch die Wirtschaftsverbände fürchten um die deutsche Wettbewerbsfähigkeit. Haben sie recht?

Entscheidend ist die Frage: Wo finden Investitionen statt? Das ist der Lackmustest. Und wenn ich mir die energieintensive Wirtschaft anschaue, stelle ich fest: weitestgehend im Ausland. Es wird weiter investiert, aber nicht mehr in Deutschland. Insofern sind diese Befürchtungen berechtigt. Wir haben große Bereiche von Wirtschaft und Industrie, in denen es nach wie vor gut läuft. Aber es gibt eben auch unübersehbare Warnschilder, und deswegen kämpfe ich so vehement für einen Brückenstrompreis für die energieintensive Wirtschaft. Auch ich will keinen Subventionswettlauf. Aber wenn die einen loslaufen und die anderen bleiben stehen, ist klar, wer gewinnt.

Habeck benutzte das Bild von den Händen, die wir uns selbst auf den Rücken gebunden haben. Während die Konkurrenz zusätzlich die Hufeisen in die Boxhandschuhe packt.

Man kann nicht für alles alleine die Schuldenbremse verantwortlich machen. Aber viele andere, auch europäische Nachbarn, helfen ihrer Industrie. Die einen machen das über Steuergutschriften, andere wie die Franzosen über ihren staatlichen Stromkonzern.

Das heißt: so oder so unterstützt der Staat finanziell.

Stimmt, aber warum macht man das in anderen Ländern, die ja auch nicht auf Rosen gebettet sind? Dort sagt man sich: Wenn wir die Bereiche, die wir jetzt unterstützen, nicht mehr hätten, wären unsere Probleme noch größer. Sie schauen sich die Rechnung unter dem Strich an. Würden wir das ebenfalls tun, müssten wir meines Erachtens auch in Deutschland zu dem Schluss kommen, dass wir energieintensive Unternehmen als Kernstück des Industrielandes Deutschland unterstützen, und zwar nachhaltiger, als es die Regierung bisher vorsieht.

Sind wir historisch an einem Punkt, an dem wir feststellen müssen, dass die alten Marktregeln, mit denen wir stark geworden sind, nicht mehr gelten? Siehe China.

Ja, siehe China. Oder die USA mit dem IRA. Wobei es dort nicht nur der finanzielle Nutzen ist, der verlockend ist, sondern auch das sehr pragmatische, sehr einfache Verfahren. Das ist für die Unternehmen sehr lukrativ. Während wir Förderprogramme erarbeiten, bei denen Aufstellung, Genehmigung und Bewilligung mit einem enormen Aufwand verbunden sind, kommen die Amerikaner sehr entspannt mit Steuererleichterungen daher und signalisieren zudem: Ihr müsst Euch nicht kümmern, das macht unsere Agentur für Euch. Das hat teilweise einen noch größeren Reiz als finanzielle Erleichterungen.

Was heißt das für uns?

Im Kern ist es so: Wir sind Teil eines Weltmarktes. Wenn die einen sich an die alten Regeln halten und die anderen neue Regeln setzen, müssen wir uns fragen: Wer ist stärker? Die Antwort ist relativ eindeutig.

Das Wort des Kanzlers vom Deutschlandpakt ist noch an keiner Stelle richtig ausbuchstabiert worden….

Doch, beim Pakt zur Beschleunigung durchaus, unter Beteiligung der Länder.

Aber ist es auch adäquat als Antwort?

Jedenfalls nicht alleine. Der Pakt zur Beschleunigung ist ein gutes Beispiel dafür, wie es gelingen kann. Aber jetzt brauchen wir möglichst schnell eine Konkretisierung in Gesetzentwürfen. Und zwar dringend. Wenn das zeitnah kommt, könnten wir wirklich beweisen, dass wir in Deutschland schneller, einfacher und dann auch kostengünstiger werden.

Klingt zu gut um wahr zu sein?

Das Thema Überregulierung stellt sich natürlich auch in fast allen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Ich hoffe, dass die Bundesregierung sehr schnell mit dem nächsten Kapitel kommt. Die Länder sind überall da, wo sie helfen können, dazu ausgesprochen gerne bereit. Für Niedersachsen haben wir es uns explizit vorgenommen, schneller, einfacher und günstiger zu werden, wo immer das möglich ist.

Wer ist Ihr größter Gegner?

Es gibt große Beharrungskräfte.

Wer sind diese Beharrungskräfte? Die Grünen, weil sie auf Umweltgesetzen beharren?

Die Grünen sind sicherlich in einigen Bereichen kritisch. Aber viele Fragen sind fürs erste durchaus friedlich aufgelöst worden mit dem Beschleunigungsgesetz. Das ist schon okay. In anderen Bereichen ist es die Macht der Gewohnheit. Viele haben sich an unser überkompliziertes Instrumentarium so sehr gewöhnt, dass sie es sich anders gar nicht mehr vorstellen können. Dazu kommen Bereiche, etwa im Gesundheitswesen, in denen es auch um harten wirtschaftlichen Nutzen geht, und zwar von Leuten, für die überkomplexe Systeme sehr lukrativ sind.

Wir müssen über das Grundgesetz reden: Müssen wir es verändern? Und von wem muss die Initiative ausgehen?

Das ist schwer zu sagen, aber nach meiner Erfahrung sollten am Anfang ruhige, und vor allem vertrauliche Gespräche unter Leuten stehen, die einen gewissen Einfluss haben. Und dann müssen wir zu einem gesellschaftlichen Konsens kommen, der über die typischen Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse im Bundestag hinausgeht. Eine Reform der Schuldenbremse müsste von Anfang an als Gemeinschaftsdiskussion angelegt sein. Das aber wird nicht zeitnah funktionieren. Der aktuelle Druck ist viel zu hoch.

Wann dann?

Ich fürchte, das Jahr 2025 ist ungeeignet, weil es ein Wahljahr ist. Also müssen wir im Laufe des nächsten Jahres in eine solche Situation kommen. Das wünsche ich mir jedenfalls.

An dieser Stelle müssen wir über den Kanzler reden. Der hat zwei Jahre eher moderierend regiert. Die Schlüsselkonflikte fanden zwischen FDP und Grünen statt. Mittlerweile ist das für die SPD nicht mehr gut. Und für den Kanzler auch nicht. Was heißt Führung in einer solchen Situation?

In einer Dreierkonstellation mit sehr unterschiedlichen Partnern kann man nicht durch einsame Entscheidungen führen. Da muss man versuchen, eine Einigung herbeizuführen. Die Vorstellung jedenfalls, Olaf Scholz müsste mehr auf den Tisch hauen, halte ich für eine Illusion. Die Ampel muss geschlossen auftreten und auf öffentlichen Streit verzichten, das ist wichtig.

Aber das Land erwartet Antworten.

Wenn die Ampel es schafft, sich einigermaßen schnell und einvernehmlich aus der aktuellen Situation zu befreien, würde mir das Hoffnung für das nächste Jahr machen. Erst einmal muss man tatsächlich im eigenen Laden Einvernehmen herstellen. Und zweitens müsste allen vernünftigen Demokraten inzwischen klar sein, dass wir untereinander viel mehr Gemeinsamkeiten haben als mit den anderen. In Niedersachsen sorgt die bloße Existenz der AfD dafür, dass SPD, Grüne und CDU besser miteinander umgehen. In Schlüsselfragen heißt das: Wir müssen bereit sein, gemeinsam Verantwortung zu tragen.

Es geht nicht ums Auf-den-Tisch-hauen. Es geht um Ziele, Richtung, Orientierung. Der Vizekanzler hat auf dem Grünen-Parteitag ein solches großes Bild auf die Lage in der Welt und in Deutschland geliefert. Warum hält der Kanzler eine solche Rede nicht?

2021 haben die Deutschen Olaf Scholz ganz bewusst zum Kanzler gewählt, einen Menschen, den Sie seit Jahrzehnten aus wichtigen öffentlichen Ämtern kannten. Olaf Scholz ist, wie er immer gewesen ist und wie er es nie verborgen hat. So wollten ihn die Leute haben. Und so haben sie ihn bekommen.

Nein, diesen Olaf Scholz wollten sie nicht – sonst läge die SPD in den Umfragen ja nicht zehn Prozentpunkte unter ihren Werten der damaligen Bundestagswahl.

Sie sind enttäuscht davon, wie es gerade läuft. Und ja, es ist völlig klar, dass die Ampel, wenn sie 2025 eine Chance haben will, 2024 eine andere Performance an den Tag legen muss. Aber das hat immer auch mit Teamgeist zu tun. Solange ein Partner sein Heil darin sucht, Opposition im eigenen Bündnis zu sein, kann eine Regierung keinen Erfolg haben.

Ist die FDP das größte Problem?

Ja, dass sie wie eine Opposition in der Regierung agiert, sehe ich tatsächlich als ein Hauptproblem an.

Wie führt man also so ein Bündnis?

Das ist situationsabhängig. Natürlich muss man Orientierung geben, und man muss für Umsetzung sorgen. Aber die Themen, die Olaf Scholz auf dem Tisch hat, sind unfassbar dicke Bretter. Es gab wahrscheinlich noch keine schwierigere Zeit für einen Bundeskanzler. Die Schnittmenge der unterschiedlichen Positionen muss der Ausgangspunkt aller Überlegungen sein. Und von da aus müsste man dann ein überzeugendes Konzept entwickeln.

Das klingt nach kleinstem gemeinsamem Nenner. Reicht das, so wie die Welt ist?

Ich weiß schon, es gibt eine Helmut-Schmidt-Sehnsucht nach einem Welt-Weisen mit ausgeprägten Managementqualitäten. Aber so einen gibt es eben nur einmal im Jahrhundert. Ich finde, dass Olaf Scholz es auf seine Weise in dieser konkreten Situation gut macht.

Was macht er gut?

Beim Thema Ukraine ist es ihm glänzend gelungen, Orientierung zu geben. Auch durch den vermeintlichen Wutwinter hat er uns sehr gut gebracht. Und dann, ja, dann kam das Jahr 2023, das ist so ganz anders verlaufen. Ich wünsche mir, dass die Ampel an das Jahr 2022 anknüpft und ihre Schlüsse aus 2023 zieht. Aber das setzt insbesondere bei der FDP eine kritische Reflexion der eigenen Strategie voraus. Zumal die Umfragen nicht dafür sprechen, dass sie mit ihrer Strategie richtig liegt.

Wir haben 2024 vier schwierige Wahlen, in einer gravierenden Vertrauenskrise mit einer zerrissenen Gesellschaft. Wie groß ist Ihre Angst, dass das Land noch mehr zerbricht?

Frei nach Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Natürlich müssen wir im Jahr 2024 eine Antwort auf die Staatsfinanzen finden. Wie schaffen wir einen geordneten Übergang zur Klimaneutralität? Wie positioniert sich Deutschland zu den unterschiedlichen Krisen dieser Welt? Nicht zu vergessen die Migration. Das Jahr 2024 muss das Jahr werden, in dem wir endlich zu einer gemeinsamen EU-Flüchtlingspolitik kommen. Die großen Baustellen sind klar zu identifizieren. Aber man soll sich durch einzelne Wahlen nicht irritieren lassen. Wenn wir immer nur auf die nächste Wahl schauen, kommen wir nicht weiter.

Die AfD liegt stabil bei über 20 Prozent. Das soll keine Sorgen bereiten?

Das besorgt uns alle. Dagegen muss man Stabilität setzen und Orientierung.

In punkto Stabilität ist in zwei Jahren Ampel viel passiert, als Reaktion auf die Krisen wurden viele Rettungsaktionen gestartet. Aber wo ist die Orientierung? Wo will der Kanzler hin? Wo stehen wir als Gesellschaft und als Land 2030?

Es gibt durchaus in vielen Bereichen Orientierung. Nehmen Sie all das, was eingeleitet worden ist in Sachen Energiewende, Transformation und Klimaschutz – eine Jahrhundertaufgabe. Es ist einiges begonnen, aber natürlich längst nicht zu Ende geführt worden. Und dieser Prozess wird auch bis zum Ende des Jahrzehnts andauern. Das ist dann aber eine echte Perspektive.

Aber finanziell auf Sand gebaut. Wenn man das Urteil ernst nimmt. Und das zerstört Vertrauen.

Quod erat demonstrandum. Trotzdem würde ich nicht empfehlen, das Projekt Klimaschutz jetzt zu Grabe zu tragen. Dem Klimawandel sind unsere innenpolitischen Wirren egal. Er geht einfach weiter. Es gibt übrigens einen zweiten Punkt, von dem ich mir vorstellen kann, dass er eine Langzeit-Aufgabe ist und eine, die mit Dynamik und Schwung angegangen werden muss. Das ist das Thema Einfacher-schneller-kostengünstiger. Wenn es gelingt, in den nächsten Jahren solch ein Update für Deutschland durchzuführen, hätte man viel geschafft. Und man würde schnell die wirtschaftlichen Konsequenzen sehen. Es ist wirklich interessant, wie viel Dynamik durch zu viel Bürokratie und Regeln aus unserer Gesellschaft rausgenommen wird.

Das mag gelingen. Aber ist es das Bindemittel, das auch in sechs oder acht Jahren diese Gesellschaft zusammenhält und ihr die Verunsicherung nimmt?

Ich glaube, dass wir gerade von einem Extrem ins andere fallen. Für eine Weile haben wir uns als imaginäre Weltmeister gefühlt. Es lief alles prima. Die Wirtschaft lief, der Sozialstaat hat die gröbsten Probleme ausgebügelt. Wir waren tolerant, haben Minderheiten respektiert, Deutschland wurde Fußballweltmeister, und wir fanden uns auch sonst ziemlich gut.

Wir schwebten auf einer imaginären Wolke.

Jetzt fallen wir gerade ins andere Extrem. Wir sehen, dass wir viele Baustellen haben, die wir früher hätten sehen müssen, aber ignoriert haben. Das gilt für die Politik, aber es gilt auch für die Gesellschaft insgesamt. Jetzt reden wir uns in Sack und Asche. Hallo? Wir sind immer noch die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und ein überzeugender Sozialstaat. Das ist doch nicht nichts. Und es gibt viele Bereiche, da steht Deutschland gut da, in der Industrie 4.0 sind wir weltweit führend. Was wir also auch brauchen, ist wieder mehr Zutrauen in uns selber.

Wie kriegt man das hin?

In unserem Land steckt wahnsinnig viel Potenzial. Wir sind derzeit zwar keine Weltmeister, aber wir sind auch beileibe keine Absteiger. Was ich klarmachen will: Wir haben jetzt eine schwierige Strecke, und die stehen wir zusammen durch. Es wird nicht einfach werden. Aber zusammen kriegen wir das hin. Und das ist vielleicht der emotionale Teil, der dazukommt.

Aber die Schwere, die gerade über allem lastet, kriegt man nicht weg, wenn man als Kanzler nur moderiert.

Na ja, Robert Habeck beschreibt die vielen Sorgen und Nöte dieser Welt. Ist das wirklich besser?

Besser als die Regierungserklärung vielleicht schon. Der Kanzler hat am Dienstag weder Hoffnung noch Perspektive geliefert.

Sind wir mal ehrlich. In manchen Konstellationen kann man es von vornherein niemandem recht machen. Wie wäre denn kommentiert worden, wenn er gesagt hätte, ich kann Euch zwar nicht den Haushalt für 2024 erklären, aber ich kann euch sagen, wie die Zukunft aussehen wird. Diese Kommentare hätte ich auch nicht lesen wollen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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