Herr Druyen, die Olympischen Spielen in Paris gehen am Sonntag zu Ende. Es herrschte ganz überwiegend eine phantastische Stimmung, wir haben trotz aller Krisen eine Art globales Sommermärchen erlebt. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Druyen: Ja, wir hatten uns das eigentlich für die Fußball-EM in Deutschland erhofft. Aber das eigentliche Sommermärchen hat bei Olympia in Paris stattgefunden. Womit wir nicht gerechnet haben.
Wie war das möglich?
Für mich kam das aus dem Nichts. Wir sind ja eher mit einer kritischen Einstellung da reingegangen, weil wir dachten, der französische Staatspräsident macht Macron-Spiele daraus. Auch die Wertschätzung des IOC war ja eher nachhaltig kritisch.
Aus Ihrer Sicht: Was waren die Gründe dafür?
Die Sportler bieten uns eine phantastische Welt und vermitteln ein unfassbar tolles Gefühl. Im gegenseitigen Umgang, im Schlagen von Brücken, auch wenn es Zwistigkeiten gibt. Oder auch den Gegner anzuerkennen. Das ist ja die größte Herausforderung gerade. Die Wertigkeit des anderen zu sehen. Und dass man auch in einer Niederlage wie bei Timo Boll ein Lebenswerk anerkennen kann. Geboten wurde uns eine Welt, wie sie sein könnte. Die Faszination, anderen beim Leisten zuzusehen, schafft eine Identifikation, dass es was Magisches hat. Dabei ist es sehr konkret.
Was meinen Sie damit?
Da gibt es keine Ankündigungen, keine Versprechen, keine Luftschlösser, der Sport ist unmittelbar und direkt. Es geht natürlich auch um die unglaubliche Leistungsbereitschaft und -fähigkeit von Individuen. So sehr, dass man sich als Zuschauer auch über die Leistungen von anderen freut. Gleichzeitig gibt es die Bereitschaft, sich auch mit den Verlierern zu solidarisieren. Hinzu kommt der Eifer, auch andere Sportarten kennenzulernen. Dieses 3x3-Basketball zum Beispiel, das viel schneller und unseren Gehirngewohnheiten angepasster ist, wo man nicht so lange warten muss wie beim 20 km Gehen – das ist phantastisch. Einmal wurde in der ARD über Doping gesprochen. Darüber haben sich so viele Leute in den sozialen Medien aufgeregt, obwohl der Autor in der Sache natürlich recht hatte. Aber er war wie ein In-die-Suppe-Spucker, er hat die heilige Faszination gestört.
Welche Sehnsüchte werden da erkennbar?
Für mich ist das Ganze ein Sehnsuchtsfestival nach Gemeinschaft. Was für mich auch Ausdruck ist, wo wir hingekommen sind. Vielleicht ist das sogar das Entscheidende: Es haben emotionale Festspiele stattgefunden, die die Menschen in ihrer seelischen Verfasstheit wieder zusammengebracht haben. Die zeigen, wie Menschheit leben kann, wo die wirklichen Bedürfnisse sind und was Leistung bedeutet.
Quasi ein Kontrastprogramm zur Krisenwelt um uns herum?
Absolut. Und das ist eingebettet, und das hat die Faszination noch erhöht, in den totalen Zweifel am IOC. Diese Paten, auch der deutsche IOC-Präsident, die versuchen, dieses Heilige, diese Leistungen einfach für sich instrumentalisieren und sie wie Zitronen auszupressen. Man hat dieses gute Gefühl isoliert und die Wirklichkeit darüber verdrängt, die politische Wirklichkeit, die Instrumentalisierung. Für mich zeigt das sehr deutlich: Es gibt eine tiefe Trennung zwischen der politischen Repräsentanz, der institutionellen Repräsentanz und den Menschen. Eine Trennung, die meiner Meinung nach noch nie so groß war.
Was bedeutet das für Frankreich?
Ich glaube, dass es leider folgenlos bleibt. In drei Wochen sind die Gräben wieder die gleichen, die sie vorher waren.
Und dennoch, was lässt sich von dieser Faszination, von dieser Stimmung auch bei uns herüberretten in unseren gesellschaftspolitischen Alltag?
Darum müsste sich jemand kümmern. Eine eigene Institution, eine eigene Instanz. Politik oder Wissenschaft allein können das nicht glaubwürdig leisten. Das ist eine echte, systemische Herausforderung. Die Spiele waren das Erlebnis einer universalen Form von Gerechtigkeit. Man kannte die Regeln, alles war klar, es gab oben und unten, vorne und hinten. Und es war in sich geordnet. Das hat eine tiefe Sehnsucht nach Regelhaftigkeit bedient; und das alles vor dem Hintergrund einer völligen Unabsehbarkeit der Verhältnisse. Olympia ist für einen Moment wieder griechisch geworden.
Auch für Sie persönlich?
Ich empfand es als ein bombastisches Erlebnis. Ich hatte neben der Arbeit eigentlich keine Zeit, aber mir war das Zugucken in diesen zwei Wochen oft wichtiger als der ganze Lebenskram.
Ist es der harte Kontrast zu unserer gesellschaftspolitischen Realität, der sich da widerspiegelt?
Ja, diese Sehnsucht wurde maximal verstärkt. Es ist die Welt, die wir eigentlich wollen, während die Welt, in der wir real leben, scheinbar immer unerträglicher wird.
Spielen auch die runtergedimmten Dimensionen in der Organisation eine Rolle? Keine neuen Großbauten, abbaubare Tribünen im Zentrum von Paris, überbrückbare Distanzen – es fühlt sich alles ein bisschen anders an als in Sotschi oder Peking…
Der Nachhaltigkeitsgedanke war ganz sicher ein anderer. Aber vor allem, und da sehe ich auch eine internationale Sehnsucht: Europa ist mit Paris als Herz des Kontinents wieder auferstanden. International spielen wir ja eine Rolle, die wir selbst schlecht definieren können. Aber gegen die Großmächte USA, China, Indien werden wir immer kleiner. Diese historischen Plätze, der Eiffelturm, die Dressurreiter in Versailles, die Seine, diese Perspektive war einfach etwas sehr Besonderes. Und es war keine bloße Inszenierung und keine Bühne, man hat das Tatsächliche, das Konkrete genutzt.
Hat die Veranstaltung auch den europäischen Gedanken gestärkt?
Aus meiner Sicht auf jeden Fall. Wir sind doch alle stolz auf Paris oder waren gefühlt Paris für einige Momente. Auch wenn die Franzosen große Probleme haben. Es war eine historische Integration. Und es hat eine neue Positionierung gezeigt. Die Chinesen haben nicht die dominierende Rolle gespielt, die USA auch nur eingeschränkt. Wir haben überhaupt die Länder, die im Moment alles bestimmen, weniger dominant gesehen. Auch die Sportler unter neutraler Flagge, überwiegend ja Russen – auch sie wurden als Menschen akzeptiert. Für mich ist das Spektakel das Ergebnis einer brillanten Choreografie. Aber so, wie es herausgekommen ist, war das nicht planbar. Es hätte auch ein Desaster werden können.
Ein bisschen Wasser in den Wein: Beim Fußball etwa waren die Stadienplätze eher kümmerlich besetzt.
Völlig richtig. Da hat man die Bilder hart beschnitten, um die Leere zu überspielen. Und dennoch: Jeder soll in sich selbst hineinschauen. Wer da zugeschaut und gesagt hat, das interessiert mich einen Scheiß, wird auch in einer bestimmten Richtung wählen – weil er mit all dem, was hier passiert, nichts mehr zu tun hat.
Braucht der Sport in Deutschland nach diesem Erlebnis einen anderen Stellenwert? In Ländern wie Australien, aber auch Großbritannien oder den Niederlanden hat er es ja ohne Zweifel.
Unbedingt. Einen völlig anderen Stellenwert. Und es müsste einen eigenen Sportminister oder -ministerin geben. Nicht eine Person, die in der Hauptsache mit der inneren Sicherheit beschäftigt ist. Einer der besten Romane, die ich kenne, heißt „Das Ministerium für die Zukunft“. Ich sage: Auch wir brauchen ein Zukunftsministerium. Wir brauchen jemanden, der klarmacht, worum es geht. Das kann niemand sein, der den üblichen Weg über die Parteien gegangen ist. Wir bräuchten eine Art Glücksministerium. Stattdessen haben wir vor allem politische Miesepeter, die sich gegenseitig belauern.
Politische Beobachter werden sagen, der Druyen hat keine Ahnung.
Die Wahrheit ist doch: Wir haben niemanden, der glaubwürdig das, was wir in Paris erlebt haben, in die Wirklichkeit übertragen kann. Jedem Minister würde sofort Instrumentalisierung unterstellt, es würde ihm nicht abgenommen. Diese Selfies von Politikern mit erfolgreichen Sportlern sind doch längst durchschaubar und auch unerträglich. Ein ehemaliger Sportler oder Sportlerin hätte eine solche Glaubwürdigkeit. Aber wir wissen doch, wie es kommt: Eine solche Personalie hätte in der realen Welt keine Chance. Weil er oder sie keine Netzwerke hätte und keine Unterstützung von den Parteien. Wir kennen die Zukunft. Dabei hätten wir so viele Dinge und Chancen, die wir dann doch liegen lassen.
Thomas Druyen, 67, Soziologe, Zukunftsforscher und Professor an den Universitäten in Wien und Witten/Herdecke, beschäftigt sich seit langem mit Höchstleistungen und Überforderungen und hat schon das sogenannte Sommermärchen 2006 wissenschaftlich begleitet.