Interview | Staatsreform
Erscheinungsdatum: 12. August 2025

Lutz Goebel und Peer Steinbrück: Was es für den Erfolg der Staatsreform braucht

Lutz Goebel und Peer Steinbrück (picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka, picture alliance/Sven Simon/Malte Ossowski)
Damit die Modernisierungspläne Wirkung entfalten, brauche es eine andere Stimmung im Land, sagen der Chef des Normenkontrollrats und der frühere Finanzminister.

Die deutsche Bürokratie hält manche Überraschung bereit. Zum Beispiel eine Musterbauordnung aus dem 1959. Trotzdem gibt es bis heute 16 verschiedene Bauordnungen. Wie erklären Sie sich sowas?

Steinbrück: Damit ist es noch nicht getan: Wir haben etwa 4.500 Baunormen in Deutschland. Die sind aber nicht alle durch politische Verrücktheiten oder übereifrige Beamte entstanden, sondern das Resultat vielfältiger Einflüsse – übrigens auch von Bürgern.

Es ist ein besonders schmerzhaftes Beispiel. Wie konnte passieren, dass alles so kompliziert geworden ist?

Steinbrück: Erstens streben wir in Deutschland nach Einzelfallgerechtigkeit, daher sind viele Gesetze und Verordnungen so komplex. Wir scheuen uns vor Pauschalierungen, weil sie im Einzelfall jemanden benachteiligen könnten. Zweitens: Wir wollen uns gegen sämtliche – auch noch so unwahrscheinliche – Risiken absichern. Drittens: So vorteilhaft der Föderalismus ist, auch er führt zu dieser Komplexität.

Goebel: Die Menschen wollen 100-prozentige Sicherheit, und Kommunen wollen absolute Rechtssicherheit für ihre Entscheidungen. Aber einen solchen Zustand können sich weder Bund noch Kommunen noch leisten. Wir müssen an der deutschen Kultur totaler Absicherung gegen alle Risiken arbeiten. Wir können und müssen mehr mit Pauschalen arbeiten. Dann kann jemand zwar auch mal ein paar Euro zu viel bekommen, aber das müssen wir hinnehmen. Der Staat kann nicht alles zu 100 Prozent kontrollieren.

Das bedeutet: Man muss sich auch trauen, Konflikte einzugehen.

Steinbrück. Absolut. Politik scheut Konflikte. Aber das geht nicht mehr. Politik muss auch Zumutungen verteilen, um das Gemeinwesen funktionsfähig und handlungsfähig zu halten. Wir können uns nicht mehr alles leisten. Wir stehen vor schweren Abwägungen. Denen aus dem Weg zu gehen, wäre angesichts unserer Lage grundfalsch.

Könnten längere Legislaturperioden der Politik etwas von ihrer Angst nehmen, weil sie nicht dauernd im Wahlkampfmodus wäre?

Goebel: Das wäre gut, wir brauchen mehr Zeit. Das kurzfristige Denken beschränkt genau die Sicherheit, die Politik für schwere Entscheidungen braucht.

Zurück zum Baurecht: Wie könnte es gerettet werden?

Steinbrück: Die Hamburger haben ihre Landesbauordnung überarbeitet und dabei auf Best Practices gesetzt. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die anderen Länder übernehmen das, was der einfachste Weg wäre. Oder aber man schafft eine für alle Länder verbindliche Bauordnung, basierend auf dem Hamburger Entwurf.

Goebel: Das Digitalministerium ist schon dabei, eine bundeseinheitliche Bauordnung zu organisieren. Das wäre dann eine Leitlinie für alle, eventuell mit besonderen Ergänzungen – etwa zu Schneelast – für Länder wie Bayern.

Sie haben den Föderalismus als Teil des Problems benannt. Braucht es eine neue Föderalismusreform?

Steinbrück: Da wäre ich vorsichtig. Ich habe in zwei Föderalismuskommissionen mitgewirkt, und jeder sollte sich gut überlegen, ob er als Tiger starten und als Bettvorleger enden möchte. Mein Eindruck ist aber, dass inzwischen auch viele Ministerpräsidenten sagen, dass in manchen Fällen eine stärkere Zentralisierung notwendig ist. Man muss dabei den Länderegoismus – oder „legitime Länderinteressen“, wie es dann gern mal heißt – bei manchen Fragen zurückstellen.

Herr Goebel, sind Sie für eine Föderalismusreform?

Goebel: Sie würde nicht weit kommen. Wir als NKR haben den Vorschlag gemacht, Verwaltungsleistungen an wenigen Stellen zu bündeln. Bei Ausländerbehörden ist das naheliegend, ebenso bei Führerscheinen oder KFZ-Kennzeichen. Das kann man auch ohne Grundgesetz-Änderung schaffen.

Steinbrück: Wir könnten es noch einfacher machen: Zum Beispiel, indem wir die KFZ-Steuer einfach abschaffen und stattdessen die Mineralölsteuer erhöhen, die direkt an der Tankstelle kassiert wird. Das wäre ein sofort spürbarer Bürokratieabbau.

Schaut man auf die Grundstimmung im Land, dann hat es bislang auch die neue Regierung nicht geschafft, den Menschen die Angst zu nehmen und neue Hoffnung zu geben. Was müsste sie anders machen?

Steinbrück: Es braucht konkretes Handeln und schrittweise Erfolge, die nachvollziehbar sind. Was die Leute nicht mehr hören können, sind große Versprechen, die dann wieder zurückgezogen werden – wie bei der Stromsteuer. Diese Entscheidung war fatal mit Blick auf das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Verlässlichkeit von Politik.

Goebel: Exakt. Zumal man eine Gesellschaft braucht, die sagt: „Die Politik wagt etwas Neues, wir unterstützen und belohnen vorläufig auch den Versuch.“ Davon sind wir im Moment weit entfernt.

Nun könnte man auch sagen, dass die Politiker daran eine Mitschuld tragen, weil sie den Menschen sehr lange suggerierten, am Ende sei alles kein wirkliches Problem. Kann man diese Grundstimmung ändern?

Goebel: Seit 2005 – die letzten Regierungen waren da ganz groß drin – hat der Staat den Bürgern erzählt: Wir haben genug Geld, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das ist jetzt vorbei. Wir werden riesige Auseinandersetzungen kriegen – insbesondere über die Sozialpolitik, weil da Kürzungen unabdingbar sind. Diese Legislatur ist die letzte, in der das von Parteien der Mitte angepackt werden kann und angepackt werden muss. Gelingt es nicht, werden sich noch mehr Menschen ganz anderen Parteien zuwenden.

Steinbrück: Ich bin nicht so pessimistisch. Ein großer Teil der Bevölkerung steht zu diesem Staatswesen und hat Interesse daran, dass es wieder besser funktioniert. Vor dem Hintergrund einer sich dramatisch verändernden Welt kann man als Politik durchaus klare Ansagen machen. Und Vorhaben auch so erklären, dass viele Leute sagen: Passt mir nicht, aber bringt unser Gemeinwesen auf Vordermann. Der größte Fehler der Ampel waren nicht einzelne Missgeschicke bei Gesetzgebungsverfahren.

Sondern?

Der entscheidende Fehler war, dass man den Begriff „Zeitenwende“ in die Welt gesetzt hat und dann so tat, als könne alles so bleiben, wie es ist.

Sehen Sie, dass die neue Koalition das anders macht?

Steinbrück: Das Bewusstsein ist da. Das haben wir mit unserer Initiative für einen handlungsfähigen Staat sehr deutlich gespürt. Jetzt muss sich alles darauf ausrichten. Das haben wir auch bei Gesprächen im Kanzleramt deutlich gemacht: Die Umsetzung ist jetzt das Entscheidende. Wenn hier versagt wird, kann das passieren, was Herr Goebel fürchtet: dass die nächste Bundestagswahl ein ganz anderes, desaströses Ergebnis bringt. Mit höchst problematischen Auswirkungen auf die Republik.

Die Bundesregierung hat sich eine „ziel- und wirkungsorientierte Haushaltsführung“ vorgenommen. Warum kam man da nicht schon früher drauf?

Steinbrück: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Und ich will mich da selbst auch nicht ausnehmen von der Kritik als jemand, der mal Verantwortung hatte. Dasselbe gilt für die Einführung der Doppik an Stelle des kameralistischen Haushaltswesens – wobei das eine hochkomplexe Umsteuerung ist. Aber viele Kommunen und manche Länder sind hier sehr viel weiter als der Bund.

Herr Goebel, evaluiert die Politik ihre Gesetze ausreichend?

Goebel: Der Normenkontrollrat wird sich noch in diesem Jahr mit dem Thema auseinandersetzen. Bisher wird nur halbherzig geschaut, ob Gesetze das gebracht haben, was man wollte. Oft evaluieren die Ministerien ihre eigenen Gesetze und haben dann natürlich Interesse, sie nicht fallen zu lassen. Da muss dringend nachgearbeitet werden. Wir werden dafür Vorschläge entwickeln.

Welche Rolle spielt der Bundesrechnungshof? Ist das nicht seine Aufgabe?  

Steinbrück: Politiker sind da schizophren. Wenn Sie im Amt sind, mögen Sie den Rechnungshof nicht. Wenn Sie es nicht mehr sind, dann finden Sie die Gutachten und Stellungnahmen gut. Vielleicht können alle dazulernen und den Bundesrechnungshof, wenn es um Verwaltungsmodernisierung geht, nicht mehr als Störfaktor wahrnehmen.

Wie meinen Sie das?

Er ist ein Teil des Ganzen. Mit der Initiative für einen handlungsfähigen Staat haben wir, unterstützt von vier Stiftungen und zahlreichen Expertinnen und Experten, einen Anstoß gegeben. Jetzt kommt es auf andere an. Der NKR ist wichtig. Und zuvorderst das Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung. Das muss die nötige Durchschlagskraft entwickeln gegenüber den Verteidigungslinien der einzelnen Ressorts. Dazu bedarf es der Rückendeckung des Bundeskanzlers und des Chefs des Bundeskanzleramts. Und auch des Vizekanzlers mit dem Finanzministerium.

Inwiefern?

Ich kenne das BMF sehr gut – es ist gerne bereit, seine Pfründe zu verteidigen. Das wird auf Dauer aber ebenso wenig gehen wie im Bundesinnenministerium. Beide Häuser sind von zentraler Bedeutung bei der Staatsmodernisierung. Deshalb dürfen beide nicht bremsen, sondern müssen den Umbau aktiv befördern.

Letzte Aktualisierung: 12. August 2025
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