Herr Ott, acht Tage Sondierungsgespräche, elf Seiten Papier. Waren Sie zufrieden mit dem Ergebnis?
Durchaus. Die SPD hat in der Wahl mit gut 16 Prozent eine Klatsche bekommen und hätte eigentlich allen Grund, sich zu erholen und zu besinnen. Mit der CDU zusammenzuarbeiten, ist schwierig. Wir blicken nun mal unterschiedlich auf die Welt. Aber Demokraten müssen in der Lage sein, gemeinsame Wege zu gehen. Für mich das Wichtigste sind die Investitionen. Da sind wir uns einig, und insofern kann man miteinander arbeiten.
Wir haben vergeblich versucht, Reformansätze zu entdecken, Dinge, die nach vorne weisen und in zehn Jahren noch Gültigkeit haben. Können Sie helfen?
Man sollte ein Sondierungspapier nicht überfordern. Das ist ja zunächst mal der Versuch von drei Parteien, die sehr weit auseinander waren, teilweise mit persönlichen Verunglimpfungen, Dinge zu beschreiben. Das ist die Aufgabe des Sondierungspapiers. Und jetzt wird man sehen müssen, ob man daraus zukunftsgerichtete Projekte formuliert bekommt. Ich stimme in einem zu: Ein Koalitionsvertrag, der wieder nur Themen der einzelnen Gruppen zusammenschiebt, wird keine gute Regierung produzieren. Am Ende geht es um eine gemeinsame Geschichte. Dazu muss man gut miteinander umgehen und ein gemeinsames Narrativ entwickeln.
Was könnte eine Geschichte sein?
Das Entscheidende ist: Der Staat muss wieder funktionieren. Jeder sieht doch: Die Bahn kommt zu spät, im ÖPNV läuft es nicht. Die Straßen sind kaputt, die Schulen runtergekommen. Die Digitalisierung kommt nur schwerfällig voran. Wir müssen jetzt eine Phase einleiten, in der wir sagen, wir reparieren Deutschland, wir packen an und investieren da, wo es über Jahre nicht passiert ist. Das ist die wichtigste Aufgabe. Dazu gehört, dass das Geld, das zur Verfügung steht, auch abfließen kann. Wir müssen also auch darüber reden, wie wir schneller werden können.
Der Staat funktioniert nicht, sagen Sie. An den letzten 27 Jahren Bundesregierung war die SPD 23 Jahre beteiligt. Wie konnte das alles passieren?
Das ist ganz einfach. Die SPD ist genauso Bestandteil dieser Republik wie andere Parteien, Medien, die Wissenschaft, wie wir alle. Wir haben einfach in Deutschland von der Substanz gelebt. Wir sind davon ausgegangen, dass wir in einer permanenten Gegenwart leben, und Angela Merkel als Bundeskanzlerin hat das als Person auch vorgelebt. Und jetzt stellen wir fest, dass in dieser Zeit viel zu wenig investiert worden ist. Wir haben uns mit einer unsinnigen Schuldenbremse selbst begrenzt. Keine Volkswirtschaft der Welt – jedenfalls keine erfolgreiche – hat das in der Form gemacht wie wir. Deshalb: Wenn man nicht schnell in die Substanz investiert, wird es auf Dauer nicht gehen. Wir müssen das Schiff jetzt drehen.
Sie sagen, Angela Merkel habe vor allem verwaltet. Olaf Scholz ist auch nicht in Erscheinung getreten als Reformer mit wegweisenden Projekten. Brauchen wir mutigere Politiker?
Die Menschen bekommen die Politiker, die sie gewählt haben. Vielleicht haben wir uns an einen eher verwaltenden Typus gewöhnt und wundern uns jetzt, wenn es an Emotionen fehlt. Ich glaube aber, wir sind jetzt auch an einer Zeitenwende. Es braucht jetzt gute Führung, im besten Sinne Leadership, um aus den verkrusteten Strukturen herauszukommen. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass es zehn Jahre dauert, bis wir Brücken saniert haben oder um Plätze im öffentlichen Raum umzubauen.
Ist das nicht eher ein Problem der maximalen Risikominimierung in den Verwaltungen als ein Problem der politischen Entscheider?
Die politischen Akteure haben Gesetze gemacht, die immer vom Guten getrieben waren, davon, die Projekte so ökologisch, so sozial, so gut wie möglich abzuwickeln. Aber all die Anforderungen, mit denen das verbunden ist, führen zu unglaublichen Verlängerungen der Prozesse. Und sie führen am Ende auch dazu, dass sich alle gegenseitig absichern.
Wir brauchen eine höhere Risikobereitschaft?
Ja, es braucht die Bereitschaft anzuerkennen: Ich habe hier ein Problem, das gelöst werden muss. Und ich bin ein guter Ingenieur, ich bin ein guter Feuerwehrmann, ich bin in der Lage, das Problem zu beurteilen. Ich übernehme Verantwortung, darauf wird es ankommen. Aber das kann man eben nicht in Sonntagsreden beschreiben, sondern eine Regierung muss das im konkreten Handeln vorleben und die nötigen Freiräume dafür schaffen. Dazu wäre es sicher hilfreich, unsere Flut an Vorschriften insgesamt runterzufahren.
Stichwort Tempo: Die Italiener haben die eingestürzte Brücke bei Genua in zweieinhalb Jahren wieder aufgebaut, für die Autobahnbrücke bei Leverkusen brauchen wir zehn Jahre. Warum ist das so?
Mindestens zehn Jahre. Und dabei ist da schon beschleunigt worden. Der damalige Verkehrsminister Mike Groschek hat sich 2012 auf die gesperrte Leverkusener Brücke gestellt und vom Pisaschock der Infrastruktur gesprochen. Und trotz beschleunigter Prozesse und eingeschränkter Klagemöglichkeiten dauert es so lange. Deshalb ist wichtig, noch mal zu prüfen, was wirklich sein muss.
Gerade beim Ersatz von Brücken stellt sich die Frage tatsächlich.
Die Frage, was muss wirklich sein und wo kann man gerade beim Wiederaufbau von Brücken, die sich ja im Wesentlichen nicht verändern, die Verfahren abkürzen. Wir haben an vielen Stellen verkrustete Systeme, die sich über Jahrzehnte Jahre entwickelt haben. Es wäre aller Ehren wert, auch während der Koalitionsverhandlungen, da an der einen oder anderen Stelle genauer hinzuschauen.
Und daraus lässt sich eine positive Geschichte konstruieren?
Am Ende geht es darum, dass der Staat wieder funktioniert. Die Leute sind gestresst, insbesondere die berufstätigen Familien. Sie kriegen morgens einen Anruf, dass die Kita ausfällt, der Pflegedienst für den Opa kommt nicht, die Bahn fährt nicht, die Autobahnbrücke ist gesperrt. Das nervt einfach nur noch. Und die Leute erwarten von Politik, dass sie diese Probleme löst und sie erwarten das zurecht. Wenn wir es schaffen zu sagen, wir reparieren Deutschland für die berufstätigen Familien, für die Leistungswilligen – dann kann daraus auch eine erfolgreiche Regierung werden.
Woher soll ich die Überzeugung nehmen, dass die beiden Parteien, die die Modernisierung zwei Jahrzehnte lang verschlafen haben, jetzt die Wende hinbekommen?
Sagen wir es mal so: Die Wählerinnen und Wähler wollten über viele Jahre auch gerne, dass es gemächlich und ruhig weitergeht.
Jetzt sind die Wähler schuld?
Nein, aber sie haben bestimmte Personen eben gewählt. Und natürlich war es bei bestimmten Herausforderungen auch schwierig, sie zu problematisieren. Schauen Sie: Welcher Journalist hat sich zum Beispiel vor 20 Jahren für unsere Brücken interessiert? Deshalb sind aber natürlich nicht die Journalisten schuld. Ich will einfach sagen: Die ganze Gesellschaft hat sich an vielen Stellen auf den Errungenschaften ausgeruht. Nach der Wiedervereinigung haben wir uns auf den sogenannten Aufbau Ost konzentriert. Danach haben wir dann gesagt, läuft, kann so weiter gehen. Während gleichzeitig im Ruhrgebiet die Infrastruktur auf Verschleiß gefahren wurde. Wir haben an zu vielen Stellen keine kritischen Fragen mehr gestellt.
Einspruch! Dass die Schulen nicht funktionieren, die Kitas unzuverlässig sind oder dass das Gesundheitssystem für Kassenpatienten eine echte Herausforderung ist, ist seit Jahren Thema in den Medien.
Sagen wir mal so: Wer einmal erlebt hat, wie das Gesundheitssystem in anderen Ländern der Welt funktioniert, wird unterm Strich immer noch sagen, manches läuft doch ziemlich gut. Viele Leute in unserem Land machen eine gute Arbeit, es gibt in den Schulen sehr viele gute Leute. Aber wir müssen diesen Leuten wieder Verantwortung zurückgeben. Wir müssen ihnen ermöglichen, wieder selbst Entscheidungen zu treffen, ohne sie ständig mit unsinnigen Regelungen zu begrenzen. Wir müssen denjenigen, die in Verantwortung stehen, auch zutrauen, Entscheidungen zu treffen. Wenn wir diesen Swing hinkriegen, kriegen wir auch die guten Seiten wieder herausgekitzelt.
In diesem Kontext spielt auch der öffentliche Raum oft eine Rolle. Auch da geben die Sozialdemokraten eher ausweichende Antworten.
Da muss ich widersprechen. Der langjährige Oberbürgermeister in München. Christian Ude, hat immer gesagt, der ÖPNV heißt so, weil er öffentlicher Personennahverkehr ist. Das heißt, alle sollen damit fahren. Der Mann im Anzug, die Frau mit dem Abendkleid, der Punker und die Mutter mit Kind im Kinderwagen. Und wenn Leute den ÖPNV nicht benutzen, weil sie sich unwohl fühlen oder gar bedroht fühlen, geht das einfach nicht. Wenn ich zu einem Bahnhof komme und einfach zu viel Verwahrlosung wahrnehme, dann geht das einher mit dem Gefühl, der Staat funktioniert nicht. Und deshalb ist es so wichtig, Freiheit und Verantwortung immer zusammen zu denken….
Was heißt das?
…..und zwar mit Ordnungsrecht, aber gleichzeitig auch mit sozialen Angeboten. Natürlich musst du auch die Problemlagen auffangen. Man muss sich im öffentlichen Raum frei bewegen können, auch die dunklen Ecken müssen ausgeleuchtet werden. Wenn wir diese Angsträume beseitigen können, sind wir auf dem richtigen Weg.
In Köln werden Bänke im Straßenbild abgebaut, um Junkies keine Möglichkeit mehr zu geben, sich einen Schuss zu setzen. Ist das die richtige Antwort, wenn wir gleichzeitig über Aufenthaltsqualität in den Städten sprechen?
Jahrelang haben wir für mehr Grün, für Bänke, für mehr Angebote für ältere Menschen und Kinder in der Stadt gekämpft. Jetzt baut man das wieder ab, weil die Falschen darauf sitzen. Wenn älteren Frauen gesagt wird, sie sollen keine Ketten mehr tragen, weil sie geklaut werden könnten: Das kann ja wohl nicht wahr sein. Da müssen wir deutlich machen: Der öffentliche Raum ist öffentlicher Raum und gehört allen. Und da dürfen nicht einzelne Gruppen, schon gar nicht solche mit kriminellen Absichten solchen Platz für sich in Anspruch nehmen. Das ist die Aufgabe und das muss auch sozialdemokratische Politik durchsetzen.
Einfach mehr Law and Order?
Es geht immer darum, Regeln einzuhalten. Nur dann kann das Miteinander funktionieren. Vielleicht muss man das zwischendurch betonen. Und es geht immer darum, äußere, innere und soziale Sicherheit zu verbinden. Das heißt auch, mit Hilfe von Prävention zu verhindern, dass es überhaupt zu schwierigen Situationen kommt. Wenn wir uns an diesen drei Prinzipien orientieren, kann das eine gute Koalition werden.
Eine Frage an den gelernten Lehrer Jochen Ott. Ist das föderale Bildungssystem nicht überholt?
Ich glaube nicht, dass es gerade hilft, am föderalen Staatsaufbau zu rütteln. Das führt zu weit. Konkret geht es um die Frage: Wie schaffen wir es, die Kinder in der frühkindlichen Bildung so vorzubereiten, dass sie eine Chance haben, in der Schule gut mitzukommen? Sorgen wir dafür, dass alle von den Unterstützungsmaßnahmen im Bereich Integration und Inklusion profitieren? Schaffen wir es, dass Kinder am Ende der Grundschule lesen, rechnen und schreiben können? Sorgen wir dafür, dass die Hilfsangebote des Staates so gebündelt werden, dass sie auch abgerufen werden können?
Brauchen die Schulleiter mehr Freiheiten, mehr Autonomie?
Ich glaube, das ist der einzige Weg. Thomas de Maizière hat mit der Telekomstiftung dazu kürzlich Vorschläge gemacht. Das Dickicht an Bürokratie von den Kommunen über Bezirksregierungen und Landesverwaltungen ist einfach zu groß. Johannes Rau hat vor über 25 Jahren in Nordrhein-Westfalen in einer Kommission schon festgehalten: Schule der Zukunft bedeutet mehr Verantwortung für den einzelnen Schulleiter, natürlich mit den entsprechenden Ressourcen und mit der Möglichkeit, mehr in der Schule selbst zu gestalten. Dahin müssen wir wieder zurück.
Außer Modellprojekten gab es das ja nie wirklich.
Ja, weil die Bürokratien die Dinge wieder an sich gezogen haben. In Nordrhein-Westfalen etwa wurde die selbstständige Schule wieder zurückgedreht. Es wird darauf ankommen, Freiheit und Verantwortung wieder dorthin zu delegieren, wo die Entscheidungen getroffen werden. Wenn wir das hinbekämen, den Experten und denen, die sich jeden Tag damit beschäftigen, wieder mehr Verantwortung zukommen zu lassen, würde das insgesamt die Stimmung in Deutschland deutlich verbessern. Das ist im Übrigen auch moderne Sozialdemokratie: links und frei.
Eine Frage an das SPD-Fraktionsvorsitzenden Ott. Das Grundsatzprogramm der SPD ist aus dem Jahr 2007. Da gab es noch kein Smartphone, keine KI und keinen Krieg in Europa. Braucht die SPD eine neue Verfassung?
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein neues Grundsatzprogramm brauchen. Das kann man aber nicht von heute auf morgen entwickeln. Denn es stellen sich ja allein schon außenpolitisch viele Fragen: Wir dürfen nicht von den Chinesen abhängig werden, müssen von den Amerikanern unabhängiger werden und wollen und müssen Europa stärker fördern, vielleicht auch mit zwei Geschwindigkeiten. Daraus ergeben sich aber Fragen: Was bedeutet das für unsere Verteidigungspolitik und für unsere Abschreckung?
Geht es nur um Verteidigung?
Natürlich nicht. Wir haben die Techkonzerne der Welt, die als Oligopol bei uns reinregieren und zunehmend Macht übernehmen. All das sind neue Fragen, auf die die Sozialdemokratie Antworten geben muss für heute und die nächste Generation.
Und innenpolitisch? Ich gebe Ihnen eine Vorlage: Die SPD hat in dieser Ampel sehr viel für die Bürger getan, Kindergeld, Bafög, Wohngeld und Mindestlohn erhöht und vieles mehr – und ist letztlich abgestraft worden dafür. Warum?
Vermutlich ist die Mehrheit der Bundesbürger sozialdemokratisch, weil jede einzelne dieser Maßnahmen eine hohe Zustimmung erzielen würde. Gleichzeitig gelingt es uns nicht, diese einzelnen Punkte zu einer Geschichte zusammenzubinden. Offensichtlich können wir die Idee dahinter nicht mehr vermitteln – dass wir nämlich in einem solidarischen Staat leben und dieser Staat dann da ist, wenn du Unterstützung brauchst.
Dieser Eindruck hat sich offenbar nicht mehr vermittelt.
Der Sozialstaat wird nur eine Zukunft haben, wenn er auch ein Sozialstaat der Mitte ist. Wenn sich in den Köpfen festsetzt, dass er eigentlich immer nur für die Menschen da ist, denen es ganz schlecht geht. Wenn er ausgeweitet wird und die Mitte hat nichts davon, wird es auf Dauer problematisch. Aus meiner Sicht muss dich der Sozialstaat von morgen befähigen und stärken, und er muss da sein, wenn du ihn brauchst. Das haben wir einfach zu selten formuliert.
Zum Beispiel Kindergeld: Die letzte Erhöhung betrug fünf Euro. Das hat kaum jemand bemerkt, hat aber über über vier Milliarden Euro gekostet. Damit hätte man flächendeckend in allen Kitas und Schulen ein kostenloses Mittagessen anbieten können. Hat die SPD zu oft auf individuelle Bezuschussung gesetzt anstatt auf eine bessere Infrastruktur?
Insbesondere für Familien ist doch die Gebührenbelastung in den letzten Jahren immer höher geworden. Lehrmittel, Laptops, Material, Klassenfahrten, Kopien – alles wurde teurer. Zusätzlich sind die Gebühren für den Ganztag und die Kitas für viele Eltern eine massive Belastung. Und wenn du Busfahrer oder Krankenschwester bist, du das Laptop für dein Kind kaufen musst, das Kind im Bürgergeldbezug das Gerät aber von der Stadt gestellt bekommt, dann findest du das ungerecht. Nein, wir müssen die Mitte einfach entlasten und den Eltern, die arbeiten gehen und sich kümmern, mehr Unterstützung zur Verfügung stellen.
Was heißt das konkret?
Wir haben viele Eltern, die sagen, früher waren wir schwimmen mit den Kindern und anschließend Pizza essen. Heute kriegen wir die Pizza nicht mehr bezahlt. Deshalb ist es wichtig, die Eltern zu entlasten – mit Lehrmittelfreiheit, mit einem kostenlosen Mittagessen, mit der Erstattung der Kitagebühren. Diejenigen, die mehr verdienen, muss man durch ein gerechtes Steuersystem an den Ausgaben beteiligen. Aber ein funktionierender Sozialstaat sorgt für Chancengleichheit im Bildungsbereich. Wir müssen einen Einstieg finden in der Frage der Entlastung. Auch hier müssen wir die Prioritäten überdenken.