Eine umfassende Reform der sozialen Sicherungssysteme ist die wahrscheinlichste größte innenpolitische Herausforderung der nächsten Jahre, Bundeskanzler Friedrich Merz hat von einer „gehörigen Aufgabe“ gesprochen. Trotzdem will die Regierung jetzt erst einmal Kommissionen einsetzen, die ihre Ergebnisse erst 2027 vorlegen sollen. Ist das nicht zu spät?
Das ist definitiv zu spät. Die Frage der Stabilität der Beiträge kann nicht bis 2027 hinausgeschoben werden. Sie muss jetzt gelöst werden, am besten in den ersten 100 Tagen der Regierung. Ich bin froh, dass Friedrich Merz diese Frage als wichtiges Thema adressiert hat. Der Kanzler wird es zu Chefsache machen müssen. In meinen Augen ist die Reform der Sozialsysteme im Wahlkampf ein bisschen zu kurz gekommen. Wenn wir keine Antworten auf diese Fragen geben, wird sich das Land weiter radikalisieren. Wir brauchen bis Ende 2025 Vorschläge für eine umfassende Pflegereform. Aber wir brauchen jetzt unmittelbar Ideen für die Stabilität der Beiträge.
Die Probleme der Sozialsysteme sind seit langem bekannt. Warum muss man überhaupt Kommissionen einsetzen? Man delegiert doch damit erst einmal ein Problem, statt es sofort anzugehen.
Ich finde es prinzipiell nicht verkehrt, wenn man zur Lösung der Probleme Menschen hinzuzieht, die diese Probleme in der Praxis täglich erleben. Was ich nicht möchte, und das haben wir bei Gesundheitsreform von Karl Lauterbach erlebt, ist, dass es aus dem Elfenbeinturm irgendwelcher Theoretiker Vorschläge gibt, die nicht praxistauglich sind. Deshalb werbe ich dafür, dass wir überall einen Praxischeck machen. Das steht auch im Koalitionsvertrag. Wir dürfen bei der Pflegereform nicht nur irgendwelche Professoren heranziehen. Sondern auch pflegende Angehörige, die jeden Tag spüren, wie belastend es sein kann, keinen Pflegedienst mehr zu finden und mit der eigenen Gesundheit ans Limit zu kommen.
Als Horst Seehofer 1992 unter Helmut Kohl Gesundheitsminister wurde, hat man parteiübergreifend zusammen mit der damaligen SPD-Opposition innerhalb weniger Wochen eine Gesundheitsreform beschlossen, um das Mill i ardendefizit bei den gesetzlichen Krankenkassen in den Griff zu bekommen. Warum gelingt so etwas heute nicht mehr?
Das ganze System ist im Laufe der Jahre unglaublich komplex geworden. Wir müssen jetzt als Erstes die versicherungsfremden Leistungen durch Steuermittel ersetzen, um Stabilität in die Beiträge zu bekommen. Und dann muss man sich ganz grundsätzlich mit der Rolle des Sozialstaates beschäftigen. Für mich ist klar: Die Lieferando-Mentalität nach dem Motto „All you can eat“ ist vorbei. Es muss eine Priorisierung auf die wichtigen Themenbereiche geben. Der Sozialstaat ist eine große Errungenschaft, und wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir fragen müssen: Was muss dieser Sozialstaat leisten, wo ist es notwendig, dass er eintritt und wo nicht.
Fangen wir mit der Pflege an: Was muss hier sofort passieren, weit vor irgendwelchen Kommissions-Berichten?
Der Bund muss die coronabedingten Mehraufwendungen aus der Zeit der Pandemie, die über die Pflegeversicherung abgewickelt wurden, obwohl es gesamtgesellschaftliche Aufgaben waren, ersetzen. Das sind versicherungsfremde Leistungen, mit denen nicht die Beitragszahler belastet werden dürfen. Sie brauchen dafür in diesem und im nächsten Jahr jeweils 2,6 Milliarden Euro an Steuermitteln, um Stabilität in das System zu bekommen. Und dann brauchen wir spätestens zum 1. Januar 2027 eine große Pflegereform, die Flexibilisierung und eine radikale Entbürokratisierung bringt. Wir dürfen die Menschen, denen wir Pflegebedürftige anvertrauen, nicht wieder mit unzähligen Stellschrauben und Formularen konfrontieren.
Sie plädieren auch dafür, Standards zu reduzieren. Was heißt das konkret?
Wir brauchen eine Flexibilisierung im System. Wir müssen die Dinge vereinfachen und uns davon verabschieden, alles bis in letztes Detail zu regeln. Dazu gehört etwa, bei Altenpflegeeinrichtungen keine neuen Bauanforderungen zu schaffen und überall nochmal eins draufzulegen. Ich möchte ein System aufbauen, dass sich am Ergebnis orientiert. Und das Ergebnis muss sein: eine qualitätvolle Pflege, die die Würde der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Ich will nicht, dass wir dabei ständig neue Standards und neue Kontrollen schaffen. Aber diejenigen, die gegen festgelegte Grundsätze einer qualitätsvollen Pflege verstoßen, möchte ich hart sanktionieren. Wir müssen das ganze System vom Vertrauen her denken und nicht ständig aus der Sicht von neuen Detailvorschriften. Zum Beispiel: Da muss noch ein Quadratmeter im Zimmer dazukommen und dort noch verpflichtend ein Pflegebad eingebaut werden, obwohl es in einer Kurzzeitpflege teilweise gar nicht benutzt wird.
Vertrauen heißt auch: mehr Wertschätzung für die Pflegekräfte.
Ja, wir müssen den Menschen, die in der Pflege arbeiten, vertrauen und anerkennen, was sie leisten. Pflegekraft ist ein hochkompetenter Fachberuf. Aber auch den pflegenden Angehörigen müssen wir mehr Vertrauen entgegenbringen. Wir müssen sie ganz vehement unterstützten. Denn ohne den Einsatz von Angehörigen fährt das System an die Wand. Und ehrlich gesagt sind wir über diesen Punkt schon fast drüber.
Die neue Bildungsministerin Karin Prien hat vorgeschlagen, ein Pflegegeld als Lohnersatz einzuführen, um pflegende Angehörige zu entlasten. Wie sinnvoll ist es, eine neue Sozialleistung einzuführen, ehe man an die eigentliche Strukturreform herangeht?
Das ist eine berechtigte Frage, die man diskutieren muss. Ich glaube, im Kern ist der Vorschlag von Bundesministerin Prien der richtige Ansatz. In der Politik haben viele noch nicht erkannt, welche Belastung die Pflege von Angehörigen bedeutet, neben allen anderen Aufgaben, die die Pflegenden ja auch noch haben. Es reicht nicht, diesen Menschen nur Anerkennung zu zollen, wir müssen ihnen auch eine gewisse Sicherheit bieten.
Was muss in der Gesundheitspolitik sofort angegangen werden?
Hier gilt das Gleiche wie beim Thema Pflege: Wir müssen Beitragsstabilität ins System bringen. Es nützt nichts, wenn man über die Senkung von Steuern redet, und auf der anderen Seite explodieren die Sozialbeiträge. Das ist Sprengstoff für den sozialen Frieden und auch für die wirtschaftliche Entwicklung.
Was wären Sofortmaßnahmen zur Beitragsstabilisierung?
Derzeit werden 10 Milliarden Euro aus den Beitragskassen der Krankenversicherung für Bürgergeldempfänger gezahlt. Mit der geplanten und dringend notwendigen Reform des Bürgergeldes könnte man unmittelbar damit anfangen, zunächst mindestens fünf Milliarden durch Steuermittel zu ersetzen und das sukzessive zu steigern. Das wäre zumindest ein Anfang. Dass diese versicherungsfremden Leistungen ersetzt werden müssen, darüber waren sich die Fachpolitiker in den Koalitionsverhandlungen einig. Am Ende ist es aus dem Koalitionsvertrag rausgefallen und in die Expertenkommission verschoben worden, die auch die Strukturreform beraten soll. So lange kann man meiner Meinung nach nicht warten, wir müssen sofort anfangen.
Sie plädieren auch dafür, die 750 Millionen Euro, die für die Stabilisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, dessen Schwächen in der Corona-Zeit ja offenbar geworden sind, in das Sondervermögen für Sicherheit und Verteidigung zu verschieben. Warum?
Wir waren uns in den Koalitionsverhandlungen einig, dass wir den öffentlichen Gesundheitsdienst weiterentwickeln müssen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern. Aber wir führen ja angesichts der internationalen Lage gerade eine Diskussion über die Resilienz in Krisensituationen. Und da spielt auch der öffentliche Gesundheitsdienst eine Riesenrolle. Für mich ist er Bestandteil der kritischen Infrastruktur. Deshalb lohnt es sich in meinen Augen, darüber nachzudenken, ob nicht für die Weiterentwicklung des öffentlichen Gesundheitsdienstes auch Mittel aus dem Sondervermögen für Sicherheit und Verteidigung verwendet werden können.
Wo sehen Sie noch Einsparpotenziale im Gesundheitswesen durch einzelne Maßnahmen, die sich schnell umsetzen lassen?
Natürlich gibt es Einsparpotenziale. Etwa mit der Einführung des Primärarztsystems, mit dem unnötige Dritt- und Viertkontakte für die Patienten vermieden werden sollen. Der Hausarzt soll hier als Lotse fungieren. In bestimmten Fällen kann das auch ein Facharzt sein. Dadurch könnten jährlich 500 Millionen Euro eingespart werden, mit steigender Tendenz.
Sie haben am Anfang unseres Gesprächs gesagt, die unausweichlichen Reformen der Sozialsysteme seien im Wahlkampf etwas zu kurz gekommen. Aber gilt das nicht für die Sozialpolitik insgesamt? Welchen Stellenwert messen Sie ihr zu?
Für mich gehört der Sozialstaat in die Mitte des politischen Handelns.