Interview
Erscheinungsdatum: 11. Dezember 2023

Effektiver Klimaschutz: Ministerin Razavi fordert ein Umdenken bei energetischen Vorschriften

Nicole Razavi aus Baden-Württemberg ist bis Ende 2023 Vorsitzende der Bauministerkonferenz. Die CDU-Politikerin fordert, dass Bund und Länder die aktuelle Krise für grundlegende Veränderungen nutzen. Wie sie das Bauen und Sanieren günstiger machen will.

Der Bau steckt in einer großen Krise. Wie bedrohlich ist es?

Faktoren wie Inflation, Zinssprünge und Materialengpässe haben zu einer toxischen Mischung geführt, die den Markt so gut wie zum Erliegen gebracht hat. Die unterirdische Diskussion um den Heizungstausch hat für noch mehr Verunsicherung gesorgt. Deswegen müssen wir jetzt alles tun, was in unserer Macht steht, um schnell entgegenzusteuern. Maßnahmen, die langfristig angelegt sind, sind schön und gut, aber helfen in der jetzigen Situation nicht. Das habe ich auch dem Bundeskanzler gesagt: Das ist so, als würde man versuchen, einen Intensivpatienten mit Globuli zu behandeln.

Noch vor kurzem gab es einen Bauboom – und jetzt wirkt alles am Boden. Stimmt das?

Vor einem Jahr habe ich Rilke zitiert: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Das war warnend gemeint. Wenn wir uns die Entwicklungen der letzten Monate anschauen, dann ist es inzwischen aber traurige Realität geworden: Die allermeisten Normalverdiener und manchmal sogar Besserverdiener können sich kaum noch Eigentum leisten. Wir stehen vor der wirklich schwierigen Situation, dass sich Bauen oder Sanieren von Häusern und Wohnungen nicht mehr rechnet. Das führt dazu, dass der Markt mehr oder weniger am Boden liegt. Erst spürt das die Immobilienwirtschaft, dann die Bauwirtschaft und schließlich auch das Handwerk.

Was wollen Sie dagegen tun?

In der jeder Krise wächst die Bereitschaft zu Veränderung. Dies sollten wir jetzt nutzen: Alte Zöpfe abschneiden, Vorgaben und damit auch Bürokratie reduzieren. Das ist nachhaltige Hilfe für den Wohnungsbau. In Baden-Württemberg wollen wir mit der Digitalisierung der Baugenehmigungsverfahren und einer Novelle der Landesbauordnung das Bauen schneller, einfacher und damit günstiger machen. Denn gerade beim Bauen gilt: Zeit ist Geld.

Jedes Land hat seine Bauordnung. Wie lange dauert es, bis das vereinheitlicht wird?

Es gibt schon eine Musterbauordnung, die wir regelmäßig weiterentwickeln und in der wir viele Maßnahmen auch schon weitestgehend harmonisiert haben. Aber ich bin überzeugte Föderalistin: Abweichungen müssen möglich sein. Zum einen gibt es große regionale Unterschiede: Der Norden ist nicht wie der Süden, der Osten nicht wie der Westen und die ländlichen Räume nicht wie die Metropolen. Wenn alles gleich wäre, würde außerdem der Langsamste den Takt vorgeben. Das wollen wir definitiv nicht, sondern es muss einen gesunden Wettbewerb geben. Und dort, wo sich eine Neuerung bewährt, soll sie auch von anderen übernommen werden. Eine Veränderung der Bauordnungen wird zudem nicht ausreichen.

Helfen Sie auch finanziell?

Wir brauchen für bauwillige Vermieter und Eigentümer vor allem steuerliche Anreize. Dadurch lässt sich privates Kapital am besten generieren und aktivieren. Der 14-Punkte-Plan der Bundesregierung geht in die richtige Richtung, kommt aber viel zu spät und tut viel zu wenig. Ich bin froh, dass man den Neubaustandard EH40 ausgesetzt hat – auch wenn mir langfristig eine Abschaffung lieber wäre. Denn er macht das Bauen unglaublich teuer, bringt dem Klima in der Bilanz aber relativ wenig.

Was wäre beim Klimaschutz effektiver?

Wir müssen uns grundsätzlich von dem Fokus auf das Dämmen verabschieden. Was wir brauchen, ist eine Gesamtbetrachtung des Treibhausgas-Ausstoßes eines Gebäudes über seine gesamte Lebenszeit. Das wäre nicht nur eine sehr viel ehrlichere Bilanz, sondern würde auch das Bauen und Sanieren deutlich günstiger machen. In den letzten Jahrzehnten waren es vor allem die energetischen Vorschriften, die das Bauen unglaublich verteuert haben. Hier müssen wir umdenken.

Muss die Politik etwas ganz grundsätzlich anders machen?

Ja, wir müssen die großen Hebel in Gang bringen. Da braucht es schon ein komplettes Umdenken. Die Politik darf sich nicht immer neue Grausamkeiten überlegen.

Grausamkeiten?

Neue Standards und Erwartungen, die das Bauen teurer machen und potenzielle Investoren abschrecken. In der aktuellen Situation bin ich aber Optimistin: Man muss diese Krise nutzen, um das große Rad zu drehen. Und da muss jeder seine Hausaufgaben machen: Bund, Länder, Kommunen – auch die Bauwirtschaft selbst.

Was fordern Sie von der Bauwirtschaft?

Die Unternehmen müssen sich überlegen, wie sie beispielsweise mit einem besseren Controlling verhindern können, dass es zu unnötigen Kosten kommt. Wir planen in Baden-Württemberg gerade eine Reform der Landesbauordnung. Da erwarte ich, dass Verbände nicht nur Bürokratieabbau einfordern, sondern auch selbst dazu beitragen.

Und welchen Stellenwert hat der soziale Wohnungsbau dabei für Sie?

Er löst nicht alle Probleme, ist aber wichtig, um vor allem sozial Schwächeren zu helfen.

Warum gibt es dann nicht mehr davon?

Wir haben es als Staat und Gesellschaft leider versäumt, die gute Zeit in der Bauwirtschaft mit niedrigen Zinsen zu nutzen, um mehr sozialen Wohnraum zu schaffen. In Baden-Württemberg investieren wir in diesem und im nächsten Jahr insgesamt rund eine Milliarde Euro dafür. Klar ist aber auch, dass der soziale Wohnungsbau mit den gleichen Problemen zu kämpfen hat wie der frei finanzierte. Ohne den Markt geht es nicht. Wir müssen beides stärken.

Die Politik steht vor einem grundsätzlichen Dilemma: In manchen Gegenden stehen viele Wohnungen leer, in anderen fehlen sie. Was kann man dagegen tun?

Ich kann nur für Baden-Württemberg sprechen: Spätestens seit Corona erleben wir eine Renaissance des ländlichen Raums. Unsere Städtebauförderung tut seit Jahrzehnten viel dafür, ihn attraktiv zu halten. Gegen die vielen Leerstände werden wir aber nur mit Anreizen für die Eigentümer vorgehen können und nicht mit weiteren Verboten. Wir haben bei uns verschiedene Maßnahmen dagegen.

Zum Beispiel?

Eine Wiedervermietungsprämie: Damit unterstützen wir Kommunen dabei, leerstehende Wohnungen wieder auf den Markt zu bringen. Der Bürgermeister vor Ort weiß am besten, wo bei ihm der Leerstand ist. Wir haben zudem – bundesweit einmalig – einen Grundstücksfonds: Damit helfen wir finanziell schwächeren Kommunen dabei, Grundstücke, zu kaufen. Über „Flächenmanager“ unterstützen wir sie auch dabei, brachliegende Flächen besser zu nutzen. Auch Aufstockung ist zum Beispiel ein wichtiges Mittel, um Wohnraum zu schaffen, ohne neue Flächen zu verbrauchen. Da haben wir in ganz Deutschland viel Potenzial.

Ein umstrittenes Thema ist die Unterbringung von Flüchtlingen. Was ist Ihr Ansatz?

Das ist ein wahnsinnig komplexes und schwieriges Thema. Es darf nicht sein, dass die Schwächsten unserer Gesellschaft in Konkurrenz zueinander treten. Bezahlbarer Wohnraum ist auch eine Standortfrage: Bei uns ziehen zum Beispiel gut ausgebildete Fachkräfte weg, weil sie sich von ihrem Gehalt kein vernünftiges Dach über dem Kopf mehr leisten können. Wenn diese Menschen nun etwa mit Ukrainern, die sich – anders als andere Flüchtlinge – sofort eine Wohnung auf dem freien Markt suchen können, in Konkurrenz treten, ist das großer sozialer Sprengstoff. Deswegen ist es richtig, dass die Länder und der Bund jetzt endlich mal grundsätzlich darüber reden, dass unsere Kommunen schon lange in dieser Überforderungssituation sind.

Was schlagen Sie konkret vor?

Wir unterstützen unsere Kommunen durch ein Förderprogramm dabei, neuen Wohnraum zu schaffen, der dauerhaft zur Verfügung steht. Aber grundsätzlich ist dieses Problem nur dadurch zu lösen, dass wir unsere Migrationsverfahren deutlich verbessern. Die, die keinen Asylgrund haben, müssen wir schneller abschieben.

Ein Blick in die Zukunft: Wie sieht die ideale Stadt für Sie aus? Olaf Scholz sagte, Deutschland brauche wahrscheinlich „20 neue Stadtteile in den meistgefragten Städten und Regionen – so wie in den 70er Jahren“.

Wenn es um die Gestaltung unserer Dörfer und Städte geht, dann muss die Frage sein: Was müssen wir tun, damit nicht nur die Kirche im Dorf bleibt, sondern auch der Mensch? Manche Entscheidungen aus den letzten Jahrzehnten würden wir heute vielleicht anders treffen. Zum Beispiel die typische Seniorenwohnanlage am Ortsrand: Wer möchte im Alter denn am Ortsrand leben? Wir müssen das Leben wieder in die Ortsmitte zurückbringen.

Und wie?

Neben der Nahversorgung und Mobilitätsangeboten braucht es Aufenthaltsqualität: Man muss sich wohlfühlen – etwa, indem mehr Grünflächen geschaffen werden, statt alles zuzubetonieren. Auch in den Dörfern müssen sich die Menschen gerne aufhalten. Wer sich vor Ort wohlfühlt, engagiert sich im Verein, in der Nachbarschaftshilfe und vielleicht auch im Gemeinderat. Das heißt: nicht nur wohnen, sondern leben im Ort. Darum muss es gehen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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