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Erscheinungsdatum: 10. Januar 2023

Warum machen Sie das, Frau Reichinnek?

Reichinnek
Heidi Reichinnek sitzt für die Linke im Bundestag und will eigentlich vor allem Politik machen – AfD-Wähler zurückholen, Abtreibungsrecht reformieren, Jugendarbeit stärken. Aber ihre Partei macht es ihr nicht einfach. Wie ist es als junge ambitionierte Politikerin in einer Partei, die sich gerade selbst zerlegt?

Der Triumph ist ausgeblieben, aber der Schritt war spektakulär – und seither kennt Heidi Reichinnek in der Linkspartei jeder. Auf dem letzten Bundesparteitag im Juni in Erfurt hatte die 34-Jährige völlig überraschend der Vorsitzenden Janine Wissler das Amt streitig gemacht. Und auch wenn sie damals am Ende verlor – seit diesem Tag wird in der Linkspartei darüber spekuliert, ob da eine neue Führungsfigur der Partei heranwächst. Welche Kraft kann sie entfalten und wie weit gehen ihre Ambitionen? Bringt sie den Schwung mit, den die Partei so dringend braucht, vor allem für bessere Wahlergebnisse?

Im Duell mit Wissler kam sie immerhin auf knapp 36 Prozent, und für Wissler war Reichinneks Antreten alles andere als ein Vergnügen. Sie ist mit einem ziemlich blauen Auge (gerade mal 57,5 Prozent) aus dem Wettbewerb gegangen. Und ob aus Reichinnek, die Abgeordnete im Bundestag und Landesvorsitzende in Niedersachsen ist, wirklich noch etwas Großes wird, lässt sich zurzeit seriös nicht sagen. Dem allgemeinen Trend folgend, kam ihre Partei bei den Landtagswahlen im Oktober auf nur 2,7 Prozent. So gesehen ist auch sie zurzeit eine Hoffnungsträgerin mit gestutzten Flügeln.

Wie blickt sie auf die anhaltende Talfahrt ihrer Partei? Was wäre ihr Rezept gewesen, die Partei wieder fest im linken Spektrum zu etablieren? Die Linke habe vor allem keine Strategie, AfD-Wähler zurückzugewinnen, sagt Reichinnek. „Wir müssen uns doch irgendwann mal was überlegen.“ Ein Anliegen, das sie auch in den Mittelpunkt ihrer Kandidatur für den Parteivorsitz gerückt hatte. Es geht ihr nicht darum, Wähler von den Grünen zurückzuholen. „Die können da gerne bleiben, das ist eine vernünftige Partei“, sagt sie. Ziel müsse vielmehr sein, eine Mehrheit für linke Politik insgesamt zu bilden. Die Grünen könnten AfD-Wähler nicht erreichen, „aber wir können das schaffen“.

Wie das funktionieren soll? Viele in der Partei setzten darauf, mit sozialen Bewegungen und Initiativen zusammenzuarbeiten. Aber das sei nicht genug, findet Reichinnek. Denn damit erreiche man nur diejenigen, die sich ohnehin schon engagierten, und das sei nur ein sehr kleiner Teil der Gesellschaft. „Was ist mit denen, die keine Zeit und Kraft dafür haben, die arbeiten und sich vielleicht ums Kind kümmern müssen?“ Um diese Menschen zu anzusprechen, müsse man die Strukturen vor Ort stärken.

„Die Linke hilft“, sei so ein Beispiel. Alltagsnah, niedrigschwellig, praxistauglich. Unter diesem Slogan bietet die Partei in manchen Kreisverbänden und Abgeordnetenbüros kostenlose Sprechstunden zu Hartz IV, Asylfragen oder Mieterrechten an. Hilfen jedenfalls, zu denen Betroffene einfach vorbeikommen können. „Ich will, dass sich die Partei so aufstellt, dass sie mehr Menschen anspricht, und das sehe ich ehrlich gesagt gerade nicht.“

Statt wie erhofft die großen Linien zu zeichnen, macht Heidi Reichinnek nun weiter Oppositionsarbeit im Bundestag als Linken- Sprecherin für Frauen-, Kinder- und Seniorenpolitik. Wenn man nicht selbst mitgestalten könne, sagt sie, gehe es in der Opposition darum, die gesellschaftlichen Prozesse zu begleiten und vielleicht auch zu beeinflussen. Heidi Reichinnek macht das vor allem über Instagram und TikTok. Über 70.000 Follower hat sie inzwischen auf TikTok, mit kurzen Clips von ihren Reden, verbalen Angriffen und Gegenangriffen der AfD im Plenum, Kritik am Regierungshandeln, das aus ihrer Sicht schiefläuft. Ihr größter Erfolg sei es, wenn junge Menschen ihr schrieben, sie wollten das auch mal machen – Reden im Bundestag halten. Wenn sie überrascht sind, dass Politikerinnen auch Tattoos haben können, die sie auch mal am Rednerpult zeigen, wie Heidi Reichinnek es manchmal tut. Es gehe ihr darum, junge Menschen für Politik zu begeistern – egal für welche demokratische Partei.

Ihr selbst, die in Sachsen-Anhalt aufgewachsen ist, war die Verbindung zur Linken nicht von Haus aus gegeben. „Für meine Eltern war die PDS immer ein rotes Tuch“, sagt sie. Aber als sie anfing, politisch aktiv zu werden, waren ihr die Ideen der Linken am nächsten. Anders als andere Parteien, wie zum Beispiel die CDU, habe die Linke ihre Vergangenheit gut aufgearbeitet, findet sie. Mit der Einheitspartei von damals habe sie heute nichts mehr zu tun.

Dass Heidi Reichinnek sich für ein Thema begeistert, merkt man immer daran, dass sie dann sehr schnell spricht. Als wolle sie sichergehen, auch alle wichtigen Aspekte unterzubringen. Über die Finanzierung von Jugendarbeit zum Beispiel, die Abschaffung des Paragraphen 218, die Situation in den Kinderkliniken oder die fehlende Hilfe für Frauen mit Endometriose. Bevor sie nach Berlin kam, arbeitete sie in der Jugendhilfe. Über viele Projekte in ihrer früheren Arbeitsstelle ist sie noch immer auf dem Laufenden, kennt die Fortschritte und Probleme der Jugendlichen. „Es ist wichtig, dass man hier mit einem Thema reinkommt, das einem wichtig ist“, sagt sie. „Es führt dazu, dass mir das andere mehr egal ist.“

Das andere, das sind die internen Unruhen in der Linken, die das Bild der Partei gegenwärtig bestimmen. Immer wieder musste die Fraktion im vergangenen Jahr zu internen Sitzungen zusammenkommen und den Umgang mit Abgeordneten debattieren, die von der Parteilinie abwichen. Das koste total viel Energie, die sie lieber für ihre eigentliche Arbeit nutzen würde, sagt Reichinnek. Und: „Ich versuche mich da rauszuhalten.“ Klappt das? „Nö.“

Sie verbirgt nicht, dass sie Sarah Wagenknecht auch Positives abgewinnen kann. Sie hätte sich gewünscht, dass man früher mit Wagenknecht gesprochen und versucht hätte, sie wieder einzubinden. „Ich habe ja früher auch in der Radikalisierungsprävention gearbeitet“, sagt sie und lacht. Diese Spirale, in der sich die Partei gerade befinde, sich wechselseitig übereinander aufzuregen, anstatt Lösungen zu suchen, komme ihr doch sehr bekannt vor. Politik lebe nun einmal auch von Gesichtern, und Wagenknecht sei nach wie vor ein wichtiges Gesicht der Linken.

Wie macht man Karriereplanung in einer Partei, die sich gerade selbst zerlegt? Sie mache ihre Arbeit nicht mit dem Ziel, einen bestimmten Posten zu bekommen, sagt Reichinnek. Aber warum dann die Kandidatur für den Bundesvorsitz? Es gab für sie diesen konkreten Anlass, eine Nichtwähler*innen-Strategie zu entwickeln, wie Reichinnek das nennt. Sie habe der Partei dieses Angebot gemacht, aber es wurde nicht angenommen.

Die Niederlage von Erfurt konnte ihr deshalb nicht viel anhaben; das politische Geschäft, sei für sie kein Selbstzweck. Sinn gebe ihr, Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Das kann man in Berlin, aber auch anderswo. Wo sie sich in fünf Jahren sieht? „Entweder noch hier im Bundestag oder zurück in der Jugendarbeit.“

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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