Am 6. Juli hält Katrin Helling-Plahr ihre bisher wichtigste Rede im Bundestag. Als erste Rednerin bittet sie die Abgeordneten um ihre Stimmen für einen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe, den sie mit Parlamentariern aus verschiedenen Fraktionen federführend ausgearbeitet hatte. Die Gesetzesinitiative sollte dem Recht auf Suizidhilfe einen festen Rahmen geben, den Zugang zu Medikamenten vereinfachen und, vor allem, Ärzten Klarheit verschaffen. Das sollte alles ohne das Strafrecht funktionieren. Ein klar liberaler Gesetzentwurf, der die Eigenverantwortung der Betroffenen betont und sie zugleich nicht alleine lässt. Das darin geplante Beratungskonzept sei ein Auffangnetz „ohne Bevormundung“, sagte Helling-Plahr in ihrer Rede. Der Entwurf wird abgelehnt. Mit 375 Nein- und 286 Ja-Stimmen sowie 20 Enthaltungen. Der Gegenentwurf fiel freilich auch durch.
Die Sterbehilfe war Katrin Helling-Plahrs bisher größtes politisches Projekt. Seit 2019 arbeitete sie daran. Wie enttäuscht war sie, dass es nicht geklappt hat? Ihre Antwort fällt überraschend aus. „Ehrlich gesagt war ich auch erleichtert, dass es der andere Gesetzentwurf nicht geworden ist und wir nicht wieder eine Regelung über das Strafrecht bekommen haben, die Deckmantel für möglichst große Einschränkungen ist.“
Helling-Plahr ist Fachpolitikerin durch und durch und Juristin durch und durch. Abgeordnete und auch Journalisten loben ihren Fleiß und ihren Sachverstand. Sie wirkt wie diese Person in der Schule, mit der sich bei Gruppenarbeiten alle zusammentun wollen, weil sie sicher sind, dass die Aufgabe erledigt wird, und am Ende eine gute Note herauskommt. Bei ihren Reden im Bundestag bleibt sie sachlich, selbst wenn sie von emotionalen Erlebnissen erzählt, wie am 6. Juli: Sie habe als Anwältin viele Menschen kennengelernt, die sterben wollten, weil sie Schmerzen hatten und unheilbar krank waren. Ihre Stimmlage ändert sich bei diesen Erzählungen nicht. Als die Kollegen zwischendurch applaudieren, scheint sie eher überrascht als erfreut und will lieber gleich weiter machen.
Wenn man sie fragt, wie es ihr als junge Frau in der FDP so geht, erwähnt sie nur Gutes. Keine Probleme. Man glaubt es ihr sogar, vielleicht, weil sie bis jetzt wenige Ecken und Kanten zeigt, an denen sie sich stoßen könnte.
Die Fachanwältin für Medizinrecht ist in Hagen, einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen, aufgewachsen. Für die FDP hat sie sich schon früh begeistert. Ihre Eltern seien zwar keine Parteimitglieder gewesen, aber ein Schulfreund ihres Vaters nahm sie mit auf eine Wahlkampfveranstaltung der Liberalen, als sie zwölf Jahre alt war. Noch heute erinnert sie sich, dass es um Schulpolitik ging und ihr das gefiel: „Ich fand es damals schon überzeugend, dass Gleichmacherei nicht zum Bildungserfolg führt, sondern dieser nur durch möglichst individuelle Förderung erreicht werden kann, weil Talente unterschiedlich sind.“
Damit begann ihr politisches Interesse. In Hagen gab es allerdings keine jungen Liberalen, deshalb wurde sie erst mit ihrem Studienbeginn in Münster Mitglied. Dort studierte sie Jura und machte kommunalpolitisch alles, was man so machen kann. War im Bundesvorstand der Jungen Liberalen und einige Jahre Ratsmitglied in Münster. Dreimal kandidierte sie für den Bundestag und als die FDP 2017 wieder ins Parlament einzog, reicht es auch für sie. Klar könne man wegen Tagespolitik einer Partei beitreten, sagt die 37-Jährige, aber bei ihr sei es eher die grundsätzliche Überzeugung, dass der Staat sich nach Möglichkeit zurückhalten sollte.
Anders als bei der Sterbehilfe ist die FDP beim Thema Schwangerschaftsabbruch nicht so liberal unterwegs. Hier soll am besten alles bleiben, wie es ist und die Regulation über das Strafrecht funktionieren. In diesem Thema, das gesellschaftlich viel mehr Sprengstoff bietet als die Sterbehilfe, scheint die FDP ein konservatives Profil zeigen zu wollen, um in der links-grünen Koalition nicht unterzugehen. Dieser gesellschaftspolitische Spagat der Liberalen zeigt sich in der Arbeit von Helling-Plahr, die diesen Widerspruch vertreten muss. Wie macht sie das?
„Ich möchte Menschen helfen und tatsächlich bestehende Probleme lösen, wüsste aber nicht, wie eine Änderung des Paragrafen 218 StGB dazu beitragen sollte.“ Es gebe Defizite bei der Abtreibungsversorgung, räumt Helling-Plahr ein. Aber dieses Problem werde durch eine Änderung des Strafgesetzbuches nicht gelöst. Schwangerschaftsabbrüche müssten in der ärztlichen Ausbildung integriert und vernünftig vergütet werden, fordert sie stattdessen. Beratung müsse flächendeckend und niedrigschwellig verfügbar sein. „Es ist nicht so, dass wir nicht jedem die selbstbestimmte Entscheidung ermöglichen wollen, eine Abtreibung vorzunehmen.“
Aber es gebe bei Schwangerschaftsabbrüchen einen entscheidenden Unterschied: „Anders als etwa bei der Sterbehilfe gibt es bei der Abtreibung zwei Rechtsgüter, die ich als Staat unmittelbar schützen muss“, erklärt sie. Während es bei der Sterbehilfe nur um die Selbstbestimmung des Menschen gehe, der sterben will, gehe es bei der Abtreibung nicht nur um die Schwangere. Hinzukomme das ungeborene Leben mit eigenen Rechten. Einen Gesetzentwurf, der das nicht beachte, werde das Bundesverfassungsgericht kassieren.
„Ich selber bin diesbezüglich nicht konservativ, sondern bleibe da schlicht Rechtspolitikerin“, sagt Helling-Plahr. „Ich habe das Verfassungsgerichtsurteil gelesen und kann es deshalb vielleicht auch schwerer ignorieren, als andere das können.“ Die Lösung sei weithin gesellschaftlich akzeptiert. Mit einer Abschaffung provoziere man nur ideologische Grabenkämpfe, ohne am Ende jemandem geholfen zu haben.
Im Moment arbeitet eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung an dem Thema. Es gibt zwei Arbeitsgruppen. Eine beschäftigt sich mit dem Paragrafen 218. Und die andere mit Themen wie Eizellspende und Leihmutterschaft. Diese Themen interessieren Helling-Plahr mehr als der Schwangerschaftsabbruch. Hier fällt es leichter, liberal zu sein. Eizellspende soll auch in Deutschland möglich werden und auch Leihmutterschaft hält Helling-Plahr in einem sehr engen gesetzlichen Rahmen für möglich.
Auch ihre Arbeit am Gesetz zur Sterbehilfe ist mit der Ablehnung im Bundestag noch nicht abgeschlossen. Die Gruppe habe über die Sommerpause die Gelegenheit genutzt, alle Kollegen außer der AfD nochmal anzuschreiben und zu fragen, was an dem Entwurf gefehlt habe. Wie die Regeln hätten aussehen müssen für eine Zustimmung. „Das werden wir dann in der Gruppe durchsprechen und schauen, ob man den Entwurf aktualisieren kann und ihn auf ein breiteres Fundament zu stellen, ohne Überzeugungen aufzugeben.“ Einen Zeitplan gebe es aber noch nicht.