Begeisterung flutete nicht durch die Partei, als die SPD-Führung im August 2020 beschloss, Olaf Scholz zu ihrem Kanzlerkandidaten zu berufen. Nur neun Monate zuvor hatten die SPD-Mitglieder ihm an der Seite von Klara Geywitz der Parteivorsitz versagt. Und der damals gewählte Übergangsvorsitzende Norbert Walter Borjans gab dem Kanzlerkandidaten prompt mit auf den Weg: „Ich habe immer gesagt, dass ein Kanzlerkandidat nicht einfach seine Agenda durchdrücken kann.“ Feiern wollten auch die renitenten Jusos den Kanzlerkandidaten nicht, damals noch unter Kevin Kühnert. Und doch hielten sie immerhin still, weil sie wussten: Nur eine geschlossene SPD kann eine starke SPD sein.
Die Partei hielt auch still, als die Forschungsgruppe Wahlen Ende Juni 2021, exakt drei Monate vor der Bundestagswahl, eine Umfrage mit 14 Prozent für die SPD auswies – Platz drei weit hinter der Union und den Grünen. Der Wahlkampf kam nicht in Schwung, die Sache schien aussichtslos. War ihr Olaf wirklich der richtige Kandidat? Viele Genossen zweifelten, manche verzweifelten. Bis zum Abend des 26. September, als sich die Stimmung heftig gedreht hatte und ihnen dämmerte: Die SPD stellt tatsächlich den neuen Kanzler.
Die Euphorie der ersten Wochen aber war schnell dahin. Auf einmal war wieder Krieg in Europa, die Friedenspartei SPD hatte einiges zu überdenken, nicht nur das Verhältnis zu Russland : Mehr Geld für Waffen und die Bundeswehr, weniger für den globalen Süden; keine Steuererhöhungen und kein Rezept gegen die Schuldenbremse. Stattdessen ein Kanzler, der all seine Entscheidungen „sorgfältig“ prüft – nur die stetig sinkenden Umfragezahlen nicht. Unter Fortschrittskoalition hatten sie sich etwas anderes vorgestellt. Sie hatten sich einen Frontmann gewünscht, der die Richtung vorgibt, der führt, aber keinen, der vom Spiegel-Cover ruft: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ Sie schickten Flüche nach Berlin, wenige halblaute und viele leise, sie ballten die Faust, sie hetzten mal gegen die eingebildeten Grünen, mal gegen die sturen Liberalen – aber nach draußen hielten sie weiter still.
In dieser Stimmung fuhren sie Anfang Dezember dieses Jahres zum Bundesparteitag nach Berlin. Frustriert. Angespannt. Erwartungsschwanger. In der kollektiven Gewissheit: Auf Olaf Scholz kommt es an. Nur auf ihn und seinen Auftritt. Würde er eine Einigung im Haushaltsstreit mitbringen? Würde er seine Mitglieder überzeugen können? Brav wählten sie am ersten Tag ihre Vorsitzenden, die Stellvertreter und den Generalsekretär. Und warteten doch nur auf Tag zwei. Noch einmal rafften sie sich auf und gewährten Kredit: Sie begrüßten ihren Kanzler, den mit den schlechtesten Umfragewerten, die sich jemals ein Regierungschef in Deutschland erarbeitet hat, mit langem, stehendem Applaus. Wer wollte, konnte sich an die Kapelle auf der Titanic erinnert fühlen: Beste Stimmung auf einem untergehenden Dampfer.
Aber dann legte der Kanzler los. Er wolle sich „für die gute Zusammenarbeit bedanken“, eröffnete er seine Rede. Er wolle Dank sagen „für dieses Zeichen von Solidarität“. Und lieferte mit einem Mal vieles von dem, was sie ersehnt hatten. Was sich viele gewünscht, aber nach den letzten Scholz-Auftritten nicht mehr erhofft hatten: Das Grundrecht auf Asyl – „wir werden es nicht aufkündigen“. Der Sozialstaat – „es wird keinen Abbau geben“. Der Mindestlohn – „ist es in Ordnung, dass in Deutschland jemand ein Tarifgehalt bekommt, das unter 16 Euro liegt?“ Die Gewerkschaften – „wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie stark genug werden, damit sie gute Gehälter durchsetzen können“. Das Klima – „es ist richtig, dass wir auf die Erneuerbaren Energien setzen und die industrielle Modernisierung“. Das Kindergeld, der Kinderzuschlag, das Wohngeld, alles angehoben, alles verbessert in den zwei Jahren, ein dezentes FDP-Bashing – nichts fehlte in der Auflistung.
Und dann, kurz vor Schluss, auch nicht der Hinweis, dass auch eigene materielle Bedürftigkeit keine rechtsradikale Haltung rechtfertige. Zum Finale der Schulterschluss gegen den Rechtsextremismus – das war SPD pur, nie war der Parteitag mehr bei sich und bei seinem Kanzler. Am Ende fünf Minuten stehender Beifall, Jubel, Bravo-Rufe. Für den Kanzler war es eine neue Erfahrung, die erhoffte Absolution, für den Parteitag war es pure Erlösung. Der ersehnte Moment der Befreiung nach Monaten des Zweifels und des Haders. Augenblicke der Hoffnung – und der Erkenntnis: Der Kanzler kann es doch. Er kann reden, eine Perspektive aufzeigen, die Richtung vorgeben. Zufrieden fuhren sie am Tag danach nach Hause.
Und ahnten zugleich: Es konnte doch nur eine Momentaufnahme sein. Eine Versöhnung für den Augenblick, eine farbenfrohe Seifenblase, die – so hofften sie – nicht so schnell platzen möge. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Tage später ist wieder grauer Alltag. Die Einigung im Haushaltsstreit ist brüchig. Niemand weiß so wirklich, wie es weitergehen wird mit dem Kanzler, der Ampel und seinen Genossen. Die Sehnsucht der Genossen wird bleiben und das Ringen mit ihm anhalten.