Analyse
Erscheinungsdatum: 28. März 2023

Wenn ein Wahlkampf so richtig verunglückt

Bild: IMAGO / Sven Simon
Es war im Mai 2022: Bei der Landtagswahl eine verheerende Wahlschlappe für die SPD Nordrhein-Westfalen. Inzwischen hat die Partei ihre Wahlkampagne in einer Analyse aufgearbeitet. Ergebnis: Erhebliche organisatorische Mängel, schlechtes Wahlkampfmanagement und ein völlig verunglückter Online-Wahlkampf. Und ein CDU-Ministerpräsident, den sie nicht zu fassen bekam.

So hatten sich die Genossinnen und Genossen den Wahlausgang im vergangenen Mai in Nordrhein-Westfalen nicht vorgestellt: Mit 26,7 Prozent der Zweitstimmen fiel die SPD auf den niedrigsten Stand bei einer Landtagswahl nach dem Krieg. Nach einer Phase der Selbstbesinnung ist die Aufarbeitung mittlerweile weitgehend abgeschlossen und in einer 38-seitigen „Wahlanalyse zur Landtagswahl 2022“ aufgegangen.

„Eine schonungslose Ursachenforschung“ attestieren sich die Autoren aus dem Umfeld der Parteiführung, sie nähmen „Abschied von vermeintlichen Gewissheiten“, schließlich erwarteten viele Mitglieder zurecht „eine ernsthaft und glaubwürdige Aufbereitung“ der Wahl. Die Analyse ist ernüchternd – und möglicherweise auch ein Grund, warum der Parteivorsitzende Thomas Kutschaty und die Generalsekretärin Nadja Lüders innerhalb weniger Wochen ihren jeweiligen Rücktritt angekündigt haben.

Die reinen Fakten sind auch für die Bundespartei, die ohne einen starken NRW-Landesverband keine Wahlen gewinnen kann, alarmierend. Im Vergleich zu ihren Hoch-Zeiten Mitte der 1980er Jahre hat die SPD bei Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen rund zwei Millionen an Zweitstimmen eingebüßt. 2022 holten die Genossen nur noch knapp 40 Prozent der Zweitstimmen, die sie noch 1985 bei sich versammelte. Mit Ausnahme der Landtagswahl 2012 sei „dieser Zustimmungsrückgang kontinuierlich“, schreiben die Autoren. 2022 verlor sie 300.000 Stimmen an die Nichtwähler, weitere 260.000 an die Grünen.

Der Briefwahlanteil lag insgesamt bei 47,1 Prozent, einem neuen Höchstwert. Nicht zum Vorteil der SPD: Während sie bei der Bundestagswahl noch 2,7 Prozentpunkte vor der CDU lag, rangierte sie bei der Landtagswahl fast elf Prozentpunkte dahinter. Bei der Urnenwahl fiel der Abstand mit rund sieben Prozent deutlich niedriger aus. Berechtigte Fragen stellt die Analyse deshalb zu den Meinungsumfragen im Vorfeld: „Vor diesem Hintergrund muten die Umfragen, die im selben Zeitraum konstant ein nahezu Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD und CDU suggerierten, zusätzlich fragwürdig an.“ Auch deshalb machten TV-Duelle kurz vor der Wahl, wenn viele ihr Kreuz bereits hinterlegt hätten, keinen Sinn mehr.

Ein miserables Testat bekam in der Analyse die Kampagnenführung. Getroffene Entscheidungen seien immer wieder revidiert worden. „Erstens fehlte es an zentraler und ordnender hauptamtlicher Kampagnenführung.“ Zweitens bedürfe es inhaltlich und organisatorisch in den unterschiedlichen NRW-Regionen auch unterschiedlicher thematischer Akzente, Vorgehensweisen und Maßnahmen.

Inhaltlich habe es an Themen und einem Wording gefehlt, das jedes Mitglied in 20 Sekunden aus eigener Überzeugung und in Abgrenzung zur Konkurrenz hätte wiedergeben können. Die Programmatik sei ohne Wiedererkennungswert gewesen. Die thematische Aufbereitung sei eher „Friedensformeln für das Innere der Partei“ gewesen als tauglich für den Konflikt mit den Wettbewerbern.

Auch die Ansprache der Zielgruppen sei letztlich im Ungefähren geblieben. Einig war man sich noch, vor allem ältere Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Auseinander ging es dann schon in der Einschätzung, ob ältere SPD-Sympathisanten für Aussagen zur Klimapolitik empfänglich sind. Und, bizarrer Diskurs am Rande: „Ferner wird explizit diskutiert, ob SPD-affine Wählerinnen und Wähler Wortspiele verstehen können.“

In der Landesgeschäftsstelle habe es erhebliche organisatorische Schwächen gegeben. Etwa in der verloren gegangenen Fähigkeit, „auf den Punkt kampagnenfähig zu sein“. Es habe „Defizite in der Ziel- und Terminsteuerung, der Durchsetzung prioritärer Aufgabenerfüllung“, aber auch „einen Mangel an effizienter Prozess- und Projektsteuerung komplexer Aufgaben“ gegeben.

Viele eher unerfahrene Kandidierende hätten über die mangelnde Unterstützung des Landesverbandes und wenig hilfreichen die Kampagnenbriefings geklagt. Sie hätten für ihre Rückfragen und Unsicherheiten weder im Landesverband noch in den örtlichen Gliederungen hilfreiche Anlaufstellen gefunden. Vielfach hätten sie auch Informationen zur Kampagne zu spät erreicht. Junge Kandidierende und Frauen würden bei den Erfolgsaussichten auf ein politisches Mandat systematisch benachteiligt. Und das, obwohl die Jungen vielfach die vergleichsweise besseren Zweitstimmenergebnisse erkämpften.

Ganz grundsätzlich habe es der Kampagne an Mut gefehlt, es habe keinen narrativen Überbau gegeben, und auch Wahlkampfslogan und Kampagnenoptik wurden eher negativ bewertet. So „bleibt unter dem Strich, dass es an klaren, originär sozialdemokratischen Botschaften mit hoher emotionaler Glaubwürdigkeit gefehlt habe “. Obendrein hätten negative Einflüsse aus Berlin den Wahlkampf in den Wahlkreisen enorm erschwert. Die Kampagne sei „in der Statik und im Wording gefangen“ gewesen und habe nicht ausreichend auf den Kriegsausbruch und die daraus resultierenden Problemlagen wie steigende (Energie-)Preise reagiert.

Völlig verunglückt ist laut Analyse der Online-Wahlkampf. In der Landesgeschäftsstelle war wenige Monate vor dem Kampagnenbeginn nur eine einzige Person für Presseanfragen, Öffentlichkeitsarbeit und Online-Kommunikation zuständig. Obendrein habe es „Probleme bei der Aussteuerung von Online-Werbung und in der Bearbeitung der Bürgerinnen- und Bürgerkommunikation“ gegeben.

Eigentlich hätten die Sozialdemokraten lieber Armin Laschet zum Gegner gehabt. Aber mit seinem Wechsel auf die Bundesebene war „der langjährige Gegner abhandengekommen“ und „erhebliches landespolitisches Polarisierungspotenzial verloren“ gegangen. Hendrik Wüst war für die Genossinnen und Genossen, so gestehen sie sich selbst ein, nur schwer zu packen: „Wer sich an Armin Laschet reibt, kann Konturen zeigen. Wer dies mit Hendrik Wüst probiert, glitscht ab.“

Erstaunlich positiv kommt Spitzenkandidat Thomas Kutschaty weg. Ihm wird „Anerkennung und Respekt für die enorme ‚Laufleistung‘ bescheinigt“; zudem „ Fachkompetenz und positive Charaktereigenschaften wie Zugewandtheit, großes Interesse am jeweiligen Gegenüber und Freundlichkeit“.

Und doch seien auch aus Kutschatys Auftritt Lehren zu ziehen. Etwa die Notwendigkeit einer stärkeren persönlichen Profilierung gegenüber den Mitbewerbern. Auch das persönliche Profil des Spitzenkandidaten müsse künftig „deutlicher als Alternative zur politischen Konkurrenz“ herausgearbeitet werden. Es brauche „eine tragende Kampagne und mehr Teamspiel in der Konfrontation“ mit den politischen Kontrahenten.

Und die Lehren, die die Partei aus der Analyse zieht? Sie hat sich für künftige Wahlkämpfe einiges vorgenommen:

– Es gebe einen engen, negativen Zusammenhang zwischen SPD-Ergebnissen und dem Abschneiden der Grünen. Deshalb sei es „relevant“, rot-grüne Wechselwähler zurückzugewinnen.

– Weil eine hohe Wahlbeteiligung der SPD landesweit zugutekommt, wird die Partei verstärkt an Instrumenten für eine bessere Mobilisierung arbeiten.

— „Damit Kampagnen zukünftig strategisch und besser“ geführt werden, soll es keine Landtagswahlkämpfe mehr ohne eine hauptamtliche Wahlkampfleitung geben.

— Es soll für die Kandidierenden künftig eine zentrale Kampagneneinführung und mehr Hilfestellung geben, um sie besser mit Netzwerken und Wahlkampftechniken vertraut zu machen.

— In künftigen Kampagnen sollen mehr emotionale Glaubwürdigkeit und „wenige, aber klare Botschaften“ zum Erfolg führen.

— Bei der Bestellung für Wahlkampfmaterialien soll es eine höhere zeitliche Verbindlichkeit geben, also mehr Verlässlichkeit bei der Verschickung der Materialien.

— Wenn bundespolitische Entwicklungen den Landeswahlkampf überschatten, soll es künftig schneller Antworten geben, „die bundespolitische Einflüsse mildern können“.

— Um die hohe Zahl an Austritten auszugleichen, die die Mitgliederentwicklung zuletzt schwer belasteten, soll ein Austritts- und Rückholmanagement Einzug halten.

— Die Partei will sich nach dem best-practice-Verfahren in den USA, Großbritannien und Skandinavien umschauen, wie man sich dort um Nichtwähler bemüht.

Umwelt- und Klimaschutz müsse als gesellschaftliches Megathema behandelt werden. Wie sozialdemokratische Lösungen dafür aussehen könnten, bleibt allerdings und erklärtermaßen unklar.

Noch völlig offen ist, wer nach dem Rücktritt Kutschatys die Partei in die nächsten Jahre führt. Das soll Anfang Mai beim Landesparteitag entschieden werden. Und schon gar nicht geklärt ist die Frage des Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2027, der das alles besser machen soll.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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