Vermutlich erlebt Friedrich Merz aktuell die ruhigsten Wochen seit seiner Wahl zum Parteichef. Keiner mäkelt gerade an ihm herum. Keine Panne quält seinen Alltag. Kein wichtiger Widersacher schießt einen Pfeil ab. Und die Ampel tut bislang auch wenig dazu, ihm das Leben mit überzeugenden Ideen und einer neuen Geschlossenheit schwerer zu machen. Das Jahr, das für viele in Dauerstress und zunehmender Erschöpfung endet, hat für den 68-jährigen CDU-Vorsitzenden offenbar ein paar friedlichere Tage vorgesehen.
Untrüglichstes Zeichen im politischen Geschäftsbereich von Macht, Konkurrenz und Zukunftsperspektiven: In der Debatte um die Kanzlerkandidatur der Union hat Merz aktuell die Nase vorn. Nicht nur Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer hat zuletzt hervorgehoben, dass der CDU-Chef der natürliche nächste Kanzlerkandidat der Union sei. Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt erklärte, es sei schon logisch, dass Merz den ersten Zugriff habe. Nun zählt Dobrindt nicht zu den allermächtigsten in der Union. In der CSU aber hat er noch eine gewisse Rolle, vor allem, wenn er sich traut, gegen den stillen Wunsch seines eigenen Parteichefs Markus Söder derlei öffentlich auszusprechen. Kanzlerkandidat, derzeit unangefochten? In der Union ist das noch nicht alles. Aber es ist sehr viel in Zeiten, in denen man nur Opposition ist.
Für Merz ist das ein Etappensieg, für den er zwar das ganze Jahr über gekämpft hat, aber auf den er eigentlich nie hoffen konnte. Das lag weniger an seiner Partei als an ihm selbst. Als der Parteivorstand im Januar in Weimar zusammenkam, hatte Merz quasi zwei „Initiativen“ zugleich gestartet, die typisch für das ganze Jahr (und seine bisherige Amtszeit) werden sollten. Für die Klausur hatte er die Polarforscherin Antje Boetius und den Wirtschaftswissenschaftler Clemens Fuest eingeladen. Sein Ziel: Er wollte mit ausgewiesenen Experten diskutieren, wie man Klimarettung und wirtschaftlichen Erfolg zusammenbringen könnte.
Der Plan war gut, das Interesse groß, in großer Runde dauerten die Debatten Stunden und also viel länger als ursprünglich gedacht. Allein: In den Medien spielte das am Ende nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen musste sich Merz einer Debatte erwehren, die er selbst angestoßen hatte. Im Fernsehen hatte er wenige Tage zuvor und als Reaktion auf die Silvesterproteste in Berlin-Neukölln die „kleinen Paschas“ zum Thema gemacht. Für die einen war es eine der von ihm üblichen Überschreitungen des politischen Anstands; für die anderen (vor allem in seiner eigenen Partei) war es der verunglückte Versuch, ein Problem mit dem richtigen Ton anzusprechen.
Ergebnis: Alle sprachen über Merz als Provokateur; keiner sprach über Merz, den Reformer.
Für den CDU-Vorsitzenden ist das bis in den Herbst hinein zu einem Muster geworden, das viele Christdemokraten immer wieder an ihm haben zweifeln lassen. So, als er im Sommer pauschal beklagte, dass Flüchtlinge sich in Deutschland auf Kosten der Deutschen die Zähne machen lassen würde – was in der Pauschalität schlicht nicht stimmte. Oder als er in der Debatte über den Umgang mit AfD-Kommunalpolitikern laut und unpräzise überlegte, wo da wie was möglich sein könnte. In beiden Fällen blieb nicht stehen, dass er sich über Probleme lösungsorientiert Gedanken machte; in beiden Fällen blieb der Eindruck zurück, dass er nicht in der Lage sei, seine Worte wirklich klug zu wägen.
Folge Nummer eins: Merz blieb in den persönlichen Umfragewerten weit abgeschlagen; Folge Nummer zwei: Immer wieder brach die Debatte auf, ob er denn wirklich Kanzlerkandidat der Union werden könne. Folge Nummer drei: Merz reagierte gereizt, insbesondere wenn sein mächtigster heimlicher Rivale Hendrik Wüst ausgerechnet am Tag vor dem kleinen Parteitag im Sommer seine ganz eigenen Gedanken über Rolle und Ausrichtung der CDU präsentierte.
Nimmt man alle Entwicklungen zusammen, dann blieb übers Jahr verteilt in seiner eigenen Partei vor allem der Zweifel, ob Merz für ein Wiedererstarken der Union wirklich der richtige ist.
Dann aber änderte sich die Stimmung. Drei Entwicklungen verstärkten sich gegenseitig. Das ist nichts vollkommen Ungewöhnliches in der Politik, aber es kam doch für viele unerwartet. Und Merz selbst hatte daran zunächst keinen großen Anteil. Manchmal muss man Glück haben, und Merz hatte es.
Da war zunächst die Performance der Ampel. So schlecht das erste Halbjahr gelaufen war, so groß war das Versprechen in den Sommerferien gewesen, diese Malaise nicht zu wiederholen. Olaf Scholz, Robert Habeck, Christian Lindner – alle drei hatten in der parlamentarischen Sommerpause angekündigt, dass man nicht im gleichen Ton und Habitus weitermachen werde. Stattdessen wollte das Trio mit dem Wachstumschancengesetz den wachsenden Ängsten in den Betrieben und Unternehmen entgegenwirken.
Sie hatte die Rechnung aber nicht mit Lisa Paus gemacht. Die Familienministerin scherte sich wenig um das neue Versprechen und blockierte ausgerechnet den Neustart nach den Ferien, um die von ihr geforderten Milliarden für die Kindergrundsicherung durchzusetzen. Am Ende bekam sie nicht mehr Geld, aber der Ruf der Ampel war endgültig ruiniert. Die Umfragen der drei Parteien wurden schlechter, und die Union mit Merz profitierte. Im Bund und noch mehr bei den beiden Landtagswahlen, die Anfang Oktober folgten.
Bei denen machte dann mit dem Hessen Boris Rhein ein Christdemokrat Furore, der auch in öffentlichen Auftritten vor und nach dem Wahltag keinen Zweifel daran ließ, dass er ein ganz anderer Typus ist als Merz. Verbindlicher, freundlicher, ohne Provokationen. Und doch, wie das oft mit Stimmungen so ist: Rheins Erfolg in Hessen verschaffte auch der CDU im Bund einen Boost. Merz musste dazu gar nicht viel beitragen. Er stabilisierte sich ohne größeres eigenes Zutun.
Als Ergänzung und Finale folgte dann der Abschluss des neuen Grundsatzprogramms. Eines Programms, das an bestimmten Stellen scharf ist und provozieren kann, insbesondere bei den Migrationsüberlegungen, dem gesellschaftlichen Pflichtjahr und dem späteren Renteneintritt. Aber statt damit Streit auszulösen, schaffte es Merz mit seinem Generalsekretär, der Union das Gefühl zu geben, dass sie wieder wissen, wofür sie als Bürgerlich-Konservative da sind.
Auf seine Wirkung getestet wurde das Programm noch nicht. Aber seine Präsentation war eine zusätzliche Botschaft. Denn neben Carsten Linnemann lächelten da auch der Thüringer Mario Voigt und die Kölnerin Serap Güler in die Kameras. Von vielen wenig beachtet, aber als Signal eindeutig: Wir sind breiter aufgestellt als viele denken.
Für Merz endet das Jahr zwar im heftigen Streit mit der Ampel, aber mit einer innerparteilichen Stabilisierung. Und es spricht einiges dafür, dass lange Zeit nicht mal er selbst damit gerechnet hatte.